Kalle | Normal hält das | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Kalle Normal hält das

Vom Hausbau und anderen Katastrophen
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0237-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vom Hausbau und anderen Katastrophen

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0237-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Humorvoll, selbstironisch und leise verzweifelnd erzählt Zeit-Autor Matthias Kalle vom Wahnsinn und dem großen Glück, das einer erleben kann, der sich tatsächlich dazu entscheidet, ein Haus zu bauen: vom aufkeimenden Wunsch nach dem Eigenheim über die Standortsuche bis hin zu den subtilen Kämpfen, die man sich mit dem Bauleiter liefert.

Matthias Kalle, Baujahr 1975, arbeitete als Redakteur für das jetzt-Magazin, hat die Zeitschrift Neon mitentwickelt, war Chefredakteur des Berliner Stadtmagazins Zitty und ist inzwischen stellvertretender Chefredakteur des ZEITmagazins.
Kalle Normal hält das jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


BAUSTELLE


Ich bin auf dem Weg nach Hause. An den kleinen Spaziergang von der Tramstation bis zu der Wohnung im vierten Stock habe ich mich gewöhnt, wenn ich schnell gehe, brauche ich fünf Minuten, und während dieser fünf Minuten stelle ich mir all das Schöne vor, das mich gleich empfangen wird: das Lachen meiner Tochter, die strahlenden Augen meiner Frau, den gedeckten Tisch, die Ruhe, die Ordnung, die Großzügigkeit und Behaglichkeit unserer Wohnung, unserer ersten gemeinsamen Wohnung, in der wir als Familie jetzt seit einem Jahr leben. Auf dem Weg zünde ich mir eine Zigarette an, es ist eine Art Ritual, die letzte Zigarette, sie verglimmt, wenn ich an der Haustür stehe, ich nehme dort noch einen Zug, einen letzten, denn natürlich rauche ich nicht mehr in der Wohnung, ich lebe ja nicht mehr alleine.

Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, verheiratet und Vater einer Tochter, sie wird bald ein Jahr alt. Bevor sie geboren wurde, zogen meine Frau und ich zusammen, unsere erste gemeinsame Wohnung nach drei Jahren Liebe, die erste Wohnung, in der ich nicht mehr alleine lebe, seit ich mit neunzehn von zu Hause ausgezogen bin. Ich habe die vergangenen vierzehn Jahre gerne alleine gelebt, ich kam gut mit mir aus, die berühmte Max-Frisch-Frage, ob man auch Humor habe, wenn man alleine sei, kann ich nur mit einem lauten »Ja« beantworten, tatsächlich ist mein Humor, wenn ich alleine bin, noch ein bisschen besser, als er es in Gesellschaft ist. Während dieser vierzehn Jahre habe ich mich nie einsam gefühlt, niemals alleine, im Gegenteil: Ich habe mich wohl gefühlt, es gab nichts, was ich vermisst hätte, nichts, was mir gefehlt hat, aber ich konnte ja auch nicht ahnen, dass es da etwas gibt, was noch besser ist, noch schöner, noch größer – etwas, das noch glücklicher macht. Auf dem Weg von der Tramstation zu der Wohnung im vierten Stock erinnere ich mich daran, jedes Mal, damit ich es nicht vergesse.

Um sicherzugehen, dass ich es tatsächlich nicht vergesse, niemals vergessen kann, damit nichts schiefgeht, damit es klappt, damit es funktioniert, haben wir eine Wohnung gemietet, die wir uns eigentlich nicht leisten können. Eine große, schöne, lichtdurchflutete Wohnung im vierten Stock einer ruhigen Straße am nördlichen Rand des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg. Der Schnitt der Wohnung ist nahezu ideal, meine Frau und ich haben jeweils ein Arbeitszimmer, der größte Raum ist die Wohnküche, es gibt zwei Balkone, einen zum Hof und einen zur Straße. Am Ende der Küche gibt es zwei Stufen, sie führen zu einem zweiten Flur, von dem das Kinderzimmer, das Bad und das Schlafzimmer abgehen. Als meine Frau bei der Wohnungsbesichtigung das Bad sah, war die Entscheidung für die Wohnung endgültig gefallen. Das Bad hat eine freistehende Wanne und eine ebenerdige Dusche, die mit dunkelgrünen Schieferplatten gefliest wurde. Wenn man in der Badewanne sitzt, kann man aus dem Fenster schauen, man sieht dann in den Himmel über Berlin. Die Einbauküche, die bereits in der Wohnung war, liegt geschmacklich im oberen Mittelfeld, die Dielen in den Zimmern sind wunderschön aufgearbeitet worden, die alten Türen und Fenster sind erhalten, der Stuck immerhin zum Teil. Wir sind die einzigen Mieter in dem Haus, unsere Nachbarn haben ihre Wohnungen alle gekauft, als das Haus vor zwei Jahren komplett saniert wurde. Unsere Vermieterin, Anna, eine Holländerin, war damals beruflich in Berlin und konnte es nicht fassen, wie günstig man hier eine Wohnung kaufen kann, also entschloss sie sich zum Kauf, die Wohnung ist für sie eine Geldanlage, die Miete, die wir ihr monatlich überweisen, deckt ihre Finanzierung bei weitem. Anna lebt jetzt mit ihrem Mann und ihrem Kind in England, sie ist oft schwer zu erreichen, sie hatte sich dafür entschieden, keine Hausverwaltung zu beauftragen, deshalb müssen wir uns mit Kleinigkeiten direkt an sie wenden, was manchmal ein wenig mühsam ist, aber die Wohnung macht wenig Probleme. Wenn wir mit Anna sprechen, dann erkundigt sie sich immer auch nach unserer Tochter, sie nennt sie sogar beim Namen. Manchmal denke ich, dass man das auch erwarten kann bei so viel Geld, das sie von uns bekommt.

Ich stehe vor der Haustür und drücke die Zigarette mit dem Fuß aus. Den Stummel hebe ich auf, um ihn in einen der Mülleimer im Hof zu werfen. Ich schließe die Haustür auf, das Licht geht an, der Flur ist sauber. Ich gehe zum Hof und werfe die Kippe in den Müll, dann gehe ich zurück zu den Briefkästen, schließe auf und hole die Post. Mit dem Fahrstuhl fahre ich in den vierten Stock, und als ich aussteige, sehe ich das warme Licht durch die Milchglasfenster unserer Wohnungstür. Ich schließe die Augen, atme tief ein, dann wieder aus und schließe die Tür auf.

Es ist niemand da, anscheinend hat meine Frau vergessen, das Licht im Flur auszuschalten. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und lehne meine Tasche gegen die kleine Flurkommode. Meine Schuhe ziehe ich aus und stelle sie an den dafür vorgesehenen Platz. Ich schaue in den Kühlschrank und nehme mir ein Bier raus, das ich auf dem Balkon trinke. Spätsommer, die Tage, bevor der Herbst übernimmt. Von dem kleinen Balkon kann man sehen, wie sich die Sonne neigt, wie sie langsam am Rand der Stadt verschwindet und alles in ein schwaches rosafarbenes Licht taucht. Ich trinke einen Schluck und kann mir nicht vorstellen, dass ich in meinem Leben noch glücklicher werden könnte als in diesem Moment.

***

»Und die haben nichts geklaut?« Meine Frau schüttelt den Kopf. Sie ist vor einer Stunde aufgelöst nach Hause gekommen, unsere Tochter schlief im Kinderwagen, wir zogen ihr die Sachen aus und den Schlafanzug an und legten sie vorsichtig in ihr Bett. Währenddessen erzählte mir meine Frau, dass im Keller eingebrochen worden war, die Diebe hatten die Schlösser mehrerer Verschläge geknackt und diverse Sachen gestohlen: Fernseher, Angelausrüstungen, Fahrräder. Auch unsere Kellertür stand offen, als meine Frau nachschaute, aber sie konnte keinen Schaden feststellen.

»Aber wieso haben die denn ausgerechnet bei uns nichts geklaut? Ich kann das gar nicht glauben. Wir haben doch auch Sachen!« Irgendwie empfinde ich es als Demütigung: Diebe betrachten meinen Besitz und stellen fest, dass es sich nicht lohnt, irgendetwas mitzunehmen. Ich beschließe, mir selbst ein Bild zu machen, und gehe runter in den Keller, die Tür zu unserem Gitterabteil steht offen, morgen müsste ich ein neues Vorhängeschloss kaufen – obwohl: Wozu? Wenn die Herren Diebe sich zu fein dafür sind, etwas von unseren Sachen zu klauen, dann könnte ich es eigentlich auch gleich lassen.

Ich schaue mich um. Die Kiste mit den Büchern, die wir jetzt doppelt haben? Steht da. Die Kiste mit den CDs, die wir jetzt doppelt haben? Steht da. Das Rocky-Filmplakat, das meine Frau aus Gründen, die ich nicht verstehe, nicht in der Wohnung haben wollte? Steht da. Die Aktenordner aus der Studienzeit meiner Frau? Stehen logischerweise da. Der alte Computer, der natürlich nicht mehr geht? Steht dummerweise auch noch da. Die Diebe haben nichts geklaut, sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, richtig nachzuschauen, denn ich bin mir sicher, dass meine vollständige Sammlung aller »Spiegel Reporter«-Hefte mit Sicherheit einen Wert haben müsste. Ist natürlich noch da.

Plötzlich höre ich Schritte auf der Treppe, sie kommen näher, ich drehe mich um und sehe meinen Nachbarn.

»Und? Wie viel bei euch?«, fragt er. Ich sage ihm, dass wir verschont geblieben seien, und er sagt: »Na, dann vielleicht beim nächsten Mal.«

»Entschuldigung, was soll denn das heißen: beim nächsten Mal?«

»Die kommen in schöner Regelmäßigkeit und räumen die Keller aus. Wir wohnen jetzt seit sechs Jahren in diesem Haus, und das war der siebte Einbruch. Die Polizei sagt, das Haus sei ideal für Einbrecher: eine ruhige Straße mit wenig Durchgangsverkehr, gegenüber ein kleiner Park mit Fluchtwegen, wenig Assis.«

Weil ich etwas verständnislos schaue, erklärt er mir den letzten Teil: »Die wissen, dass hier Menschen wohnen, die arbeiten gehen. Keine Studenten, keine Rentner, tagsüber ist niemand hier, da steht das Haus ja quasi leer. Findet man ganz selten in Berlin, ist deshalb eine der ersten Adressen für das Pack.« Und obwohl es nicht so klingt, macht alles, was mein Nachbar sagt, Sinn.

Zwei Wochen später ist mein Konto mit 12000 Euro überzogen. Anhand der Kontoauszüge stelle ich fest, dass ich wohl in den vergangenen Tagen jeden Abend einen nicht unwesentlichen Betrag an einem Geldautomaten am anderen Ende der Stadt abgehoben haben muss, außerdem scheine ich eine Monatskarte für den Nahverkehr gekauft und mich bei der Bekleidungskette »Frontwear« komplett neu eingekleidet zu haben. Ich lasse telefonisch sofort alle meine Bank- und Kreditkarten sperren und rufe die Polizei an. Als die Beamten eintreffen und ich ihnen meinen Fall berichte, erklären sie mir, dass das in der Gegend leider häufiger vorkomme. »Die fischen die Post von der Bank aus den Briefkästen, das machen die, bis sie eine neue Karte und ein paar Tage später die neue PIN-Nummer haben. Da sind wir quasi machtlos, Sie können aber gerne Anzeige erstatten. Um Ihr Geld kümmert sich ja die Bank.« Ich erstatte Anzeige und frage meine Bank, ob sie sich denn um mein Geld kümmern würde, und nachdem ich einige Formulare ausfüllen musste, wurde mir der gesamte Betrag, um den ich betrogen wurde, wieder auf mein Konto überwiesen.

In der Zwischenzeit sind im Badezimmer zwei Fliesen von der Wand gefallen, und meine Frau hat sich den Fuß aufgerissen, weil ein Zimmermannsnagel aus dem Boden ragt, wo noch nie...


Kalle, Matthias
Matthias Kalle, Baujahr 1975, arbeitete als Redakteur für das jetzt-Magazin, hat die Zeitschrift Neon mitentwickelt, war Chefredakteur des Berliner Stadtmagazins Zitty und ist inzwischen stellvertretender Chefredakteur des ZEITmagazins.

Matthias Kalle, Baujahr 1975, arbeitete als Redakteur für das jetzt-Magazin, hat dieZeitschrift Neon mitentwickelt, war Chefredakteur des BerlinerStadtmagazins Zitty und ist inzwischen Autor und Berater beim ZEITmagazin. Mit seiner Frau und Tochter lebt er in Berlin.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.