Kaiser | Nicht Atmen Nicht Bewegen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Kaiser Nicht Atmen Nicht Bewegen

Medizinalltag: Anekdoten und Einblicke
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7562-7953-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Medizinalltag: Anekdoten und Einblicke

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-7562-7953-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Diese Geschichten beschreiben und erzählen Ereignisse und Konflikte, auf die Medizinstudenten während des Studiums und Ärztinnen und Ärzte während der klinischen Aus- und Weiterbildung nicht vorbereitet werden. Leidtragende sind häufig die anvertrauten Patienten.

Dr.med. Rolf Kaiser Studium der Humanmedizin Umfassende klinische Ausbildung Facharzt Niederlassung in eigener Praxis Im Ruhestand

Kaiser Nicht Atmen Nicht Bewegen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Das Messer
Nachtdienste im Krankenhaus sind bei vielen Assistenzärzten so beliebt wie das angekaute Ende einer Currywurst. Es sei denn, die Kollegen wollen sich von dem gut entlohnten Zubrot eine Villa im Tessin leisten. Alle hassen die Zeit zwischen 3 und 4 Uhr morgens, wenn ich bis dahin alle Hände voll zu tun hatte, spüre ich meinen absoluten körperlich und geistigen Tiefpunkt überhaupt nicht. Schlimmer wird es, wenn ich bereits tief und fest geschlafen habe und vom Telefon oder dem Pieper, den ich immer bei mir trage, geweckt werde. Ich empfinde das Telefonklingeln als unwirklich und lästig, da ich gerade träumte, das Wollkleid von Brigitte Bardot aufzudribbeln. Aber das Klingeln bleibt hartnäckig und quält sich schließlich in mein Bewusstsein vor. Völlig schlaftrunken und gerädert wälze ich mich aus dem wohlig warmen Bett und erfummel den Knopf der Nachttischlampe, die neben dem Telefon steht, um das Licht anzuknipsen. “Glück gehabt”, ein halb geleertes Glas Wasser habe ich gerade noch verfehlt und nicht versehentlich vom Tisch gewischt. Ich schnappe mir den Hörer und vernehme die Botschaft, dass der diensthabende Kollege aus der Chirurgie mich zu einer Patientin ruft. Er erwartet mich in der Aufnahmeambulanz und verlangt von mir ein neurochirurgisches Konsil. Er versorgt eine junge Frau, die von ihrem Mann mit einem Brotmesser traktiert und mehrfach am Kopf getroffen worden ist. So ein Mist, denke ich. Können die sich denn nicht friedlicher auseinandersetzen? Ich bin noch schlafverschwitzt, das verflixte Hemd sträubt sich und lässt sich nur mit Mühe und Verrenkungen über den Kopf streifen, ganz zu schweigen von den Ärmeln, die irgendein Idiot zugenäht zu haben scheint. Torkelnd und schlaftrunken erreiche ich die Ambulanz und muss unwillkürlich blinzeln, weil sich das helle, kalte Neonlicht in den blau gekachelten Wänden der Ambulanz spiegelt. Der diensthabende Chirurg steht am Kopfende einer Liege. Er trägt eine blutverschmierte Plastikschürze wie ein Metzgergeselle kurz vor Feierabend. Er versorgt eine junge, regungslose Frau, dick und blutverschmiert. Ihr Gesicht weist viele zum Teil noch blutende Schnittwunden auf. Aus einer Arterie der Kopfschwarte schießt pulsierend hellrotes Blut, die Schnittränder klaffen, man schaut auf den bloßen Schädelknochen. Der Kollege versucht verzweifelt, diese kleine Schlagader zu unterbinden. Mit seinen blutverschmierten und glitschigen Handschuhen ist diese Näharbeit etwa so mühevoll, wie das Aufheben einer Stecknadel mit abgekauten Fingernägeln. Schnuppernd sauge ich die Luft ein. Neben dem typischen Desinfektionsmittelgeruch nehme ich etwas anderes wahr, es ist der Geruch von abgestandenem, verschaltem Bier. Bald stellt sich heraus, dass die junge Dame über zwei Promille im Blut hat. Der Chirurg bittet mich, einen Blick auf die Röntgenbilder vom Kopf der Frau zu werfen. Ihm sei dort eine helle Linie aufgefallen, die er nicht einordnen könne. An einem grell erleuchteten Lichtkasten an der Wand hängen zwei Röntgenaufnahmen vom Schädel. Der Kollege deutet mit seinen halb sterilen blutigen Handschuhen auf einen kurzen weißen Strich am Schläfenknochen, der so gar nicht zum übrigen Röntgenbild passen will. Diese Linie sieht aus wie zufällig eingekratzt, eine andere Idee fällt mir dazu nicht ein. Ohne die Bilder ausreichend zu analysieren, teile ich dem Kollegen daraufhin voreilig und lustlos mit, dass es sich bei diesem auffälligen Strich um ein Artefakt, also ein Kunstprodukt handelt. Verschmutzungen oder mechanische Einflüsse können gelegentlich in der Entwicklermaschine auf Röntgenfilmen eigenartige Muster hinterlassen. Wenn diese Struktur bedeutungsvoll wäre, dann hätte das sofort weitere Konsequenzen nach sich gezogen. Die rufbereite Mannschaft von der Computertomographie (CT) hätte aus dem Schlaf getrommelt werden müssen. Je nach Ergebnis der CT-Untersuchung vom Kopf hätte ich meinen Oberarzt wecken und informieren müssen, ob eventuell operative Konsequenzen anstünden, dann wäre die neurochirurgische OP-Mannschaft als nächstes fällig gewesen. Kurz, die ohnehin miese Nacht wäre vollends im Eimer und der nächste Tag versaut. Ich widme ich mich der dicken Frau, um sie neurologisch zu untersuchen. Ihre Augäpfel wandern hin und her, die Pupillen sind klein. Ich kneife sie in die Innenseite der Oberarme, um ihre Schmerzreaktion festzustellen. Das tut höllisch weh, und fast jeder noch einigermaßen Lebendige reagiert auf dieses Kneifen mit Abwehrbewegungen. Diese Frau nicht. Ich kitzle ihre Fußsohlen, um den sogenannten Babinski Reflex zu prüfen, aber eine nennenswerte Reaktion der Großzehen ist nicht zu registrieren. Ihre Arme und Beine hebe ich von der Unterlage und lasse sie fallen. Sie plumpsen schlaff auf die Liege. Mir erscheint das in Anbetracht des Alkoholspiegels im Blut der Frau durchaus verständlich. Wie oft bin ich nachts gerufen worden, um dieselben Reaktionen bei unzähligen nicht mehr ansprechbaren Alkoholikern feststellen zu müssen. Viele sind mit Stoff so abgefüllt, dass nichts sie aus ihrem Dämmerzustand herauszuholen vermag. Immer wieder reißt man dich nachts aus dem Schlaf, um Besoffene untersuchen zu müssen, die in ihrem Suff in Kellerlöcher stürzen, über Bordsteinkanten stolpern, gegen Autos laufen, oder die sich einfach hemmungslos aufs Pflaster stürzen. Als Untersucher ist man nicht in der Lage sicher zu unterscheiden, ob die Leute nur stinkbesoffen sind, oder möglicherweise halbtot, wegen einer Blutung im Kopf. Gott sei Dank sind sogar bei einer gesicherten Blutung viele Alkoholiker nicht akut gefährdet. Aufgrund des langjährigen Alkoholkonsums erleiden sie häufig einen Gehirnschwund, der so ausgeprägt sein kann, dass sogar eine größere Blutung innerhalb der fest geschlossenen Schädelkapsel keine lebensbedrohende Wirkung entfalten kann. Ich fange an, die Alkoholiker zu hassen. Eine sinnvolle Untersuchung ist nicht möglich. Manchmal sträuben sie sich derart gegen erforderliche diagnostische Maßnahmen, dass sogar fünf oder sechs Helfer nicht ausreichen, die Tobenden zu bändigen. Da geht es gelegentlich durchaus handfest zu. Sie teilen gezielte Fausthiebe aus, oder rammen die Knie gegen die Köpfe der Pfleger oder Ärzte, die ihnen beim Untersuchen zu nahekommen. Wenn ich eine Röntgenaufnahme vom Kopf anfertigen lassen will, um dieses edle Teil ohne Verwackelungen auf das schöne Röntgenbild zu bannen, sei achtsam! Unverhofft schlägt dich einer und reflexhaft schlage ich derbe zurück. Das führt häufig zum zweiten blauen Auge, oder zum dritten, wenn man selbst nicht schnell genug der gegnerischen Faust ausweichen konnte. Manche kotzen einen regelrecht an und bringen es dabei auf eine beachtliche Treffergenauigkeit. Es ist nicht möglich, diese Leute nach Hause zu schicken; denn ein Zuhause haben sie oft nicht und wenn doch, dann verdient es den Namen nicht. Auf die Straße zurück geht auch nicht, also ab in die Ausnüchterungszelle. Vorher aber muss eine ärztliche Untersuchung erfolgen, an die sich gegebenenfalls diagnostische und therapeutische Maßnahmen anschließen. Es hat früher mehrfach großen Ärger gegeben, weil zwei Alkoholiker in dieser Klinik in der Ausnüchterungszelle an ihrem eigenen Erbrochenem erstickt sind. Jetzt hat die bis unter die Decke gekachelte Zelle eigens eine Videoüberwachung. Ohnehin ist der Raum sehr wohnlich ausgestattet, mit einem Abfluss in der Mitte, einer offenen Kloschüssel – “Modell unverwüstlich” - und einer bequemen großen Gummimatratze, wie man sie vom Schulsport kennt. Einen Big Brother, der ständig überwachen kann, gibt es dennoch nicht, weil in der Notaufnahmeambulanz durchweg soviel zu tun ist, dass keine Zeit bleibt, ständig ein wachsames Auge auf die zusammengekrümmte Gestalt in der Zelle zu werfen. Ein gelegentlicher flüchtiger Blick muss genügen. Der Kollege hat unterdessen die Schlagader unterbunden, die zahlreichen Schnittwunden vernäht und vorschriftsmäßig den Schädelknochen auf einen Bruch hin abgetastet. Er hat nichts Auffälliges bemerkt. Seine Bemerkung, vielleicht doch noch ein CT zu veranlassen, wische ich souverän zur Seite. Dabei käme sowieso nichts heraus, meine ich selbstgefällig und freue mich schon auf mein vielleicht noch warmes Bett. Der Kollege widerspricht nicht, hat vielleicht auch keine Lust zu diskutieren und entlässt mich mit einem kollegialen Dankeschön. Beim Herausgehen frage ich noch, warum sich diese Messerstecherei denn eigentlich ergeben hat. Die Geschichte ist kurz erzählt. Die Frau ist verheiratet. Ihr Mann ist Alkoholiker und arbeitslos. Auch sie ist bekanntermaßen dem Alkohol nicht abgeneigt, hatte aber von ihrem Mann endgültig die Nase voll, weil er sie immer wieder im volltrunkenen Zustand verprügelt hat. Sie hat sich durchgerungen und war an diesem Tag beim Anwalt, um die Scheidung zu beantragen. Vielleicht erhofft sie sich von dieser Entscheidung, dass sie und ihre kleine Tochter ein gewaltfreies Leben führen können, wenn sie sich von ihrem Mann trennt. Abends sagt sie es ihrem Mann. Sie stehen sich in der Küche der gemeinsamen Wohnung...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.