E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Kadare Die Dämmerung der Steppengötter
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-490183-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-10-490183-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.
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Wir spielten fast bis um Mitternacht am Meer Pingpong, es war hell genug dafür, auch wenn die weißen Nächte bereits hinter uns lagen. Die letzten Matches nach halb zwölf bestritten die Spieler mit den besten Augen, während der Rest von uns an das hölzerne Geländer gelehnt zuschaute und korrigierend eingriff, wenn einer beim Punktestand mogelte. Nach vierundzwanzig Uhr, wenn alle weggegangen waren und nur noch die Tischtennisschläger auf der Platte lagen, die wir am nächsten Morgen häufig naß vom nächtlichen Regen vorfanden, wußte ich oftmals nichts mit mir anzufangen. Weil mir die nötige Bettschwere fehlte, ging ich noch eine Weile spazieren, umrundete den kleinen Park, in dem die Gebäude des Erholungsheims, die einst einem lettischen Baron gehört hatten, standen, schlenderte zu dem Springbrunnen mit den Delphinen, drehte dann um und ging zurück zum Schwedischen Haus, um schließlich am Ufer der Ostsee zu landen. Es war schön am Wasser, aber nachts auch sehr kalt, so daß man sich nicht lange dort aufhalten konnte.
Dieses Programm wiederholte sich fast jeden Abend. Bei schönem Wetter gingen die Tage mit Schwimmen und Sonnenbaden schnell herum, aber die Nächte waren eintönig, weil die meisten der Erholungsuchenden sich bereits im fortgeschrittenen Alter befanden. Fast alle trugen prominente Namen und bedeutende Titel, aber abends ging es trotzdem langweilig zu. Außerdem war ich der einzige Ausländer.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit begaben wir uns an den Strand und drehten eifrig an den Objektiven unserer Fotoapparate, um die im Meer versinkende Sonne auf Zelluloid zu bannen. Jeden Abend nahm die Wasserfläche eine andere Farbe an, und wir bemühten uns sehr, den stetigen Wechsel der Sonnenuntergänge getreulich festzuhalten. Gelegentlich geriet ein Pärchen, das am Ufer spazierenging, ungewollt vor das Kameraauge, erschien jedoch auf dem Bild, wenn wir es entwickelten, nur als kleiner, in dieser ganzen Weite unbedeutender Fleck. Nach dem Abendessen versammelten wir uns regelmäßig an der Tischtennisplatte, wo ich, das Hin und Her des kleinen weißen Balles beobachtend, bald merkte, wie allmählich mein ganzes Ich unter den Einfluß dieser stetigen Bewegung geriet. Der hypnotisierenden Wirkung zu widerstehen, war trotz aller Anstrengungen fast unmöglich, und nur in knappen Momenten des Aufbegehrens konnte ich mich der Knechtung durch die Plastikkugel entziehen, in deren raschen, klackenden Hüpfern auf der Platte ich etwas Idiotisches entdeckte. In solchen kurzen Phasen der Besinnung wandte ich den Blick jedesmal in einer gleichsam somnambulen Bewegung dem Strand zu, in der schwachen Hoffnung, dort etwas zu entdecken, das sich von dem am Abend zuvor Beobachteten unterschied. Doch in der Dämmerung war das Meeresufer unerbittlich. Es bot sich nur das wahrscheinlich seit der Entstehung der Erde immer gleiche Bild: Silhouetten langsam dahinschreitender Paare. Sie kamen vermutlich aus anderen Erholungsheimen und passierten unser Haus auf dem Weg zu geheimnisumwobenen Stränden, die ihre komisch klingenden, absonderlich betonten Namen von den Haltestellen der elektrischen Vorortzüge hatten: Dzintari, Majori, Dubulti … Ich war diesen Namen schon vorher begegnet: auf Parfümflaschen und Cremedosen in den Auslagen der Geschäfte anderer Städte, ohne allerdings je auf den Gedanken zu kommen, daß sie Haltestellen oder Stränden entliehen sein könnten.
Bis spät in die Nacht saßen von Schlaflosigkeit geplagte Greise im Finstern auf den Holzbänken. Wenn ich spazierenging, hörte ich sie flüstern und gelegentlich trocken husten, oder das Klopfen von Gehstöcken entfernte sich in Richtung Schwedisches Haus, wo die Ältesten und Berühmtesten von uns untergebracht waren.
Während ich ohne besonderes Ziel umherstreifte, beschäftigte mich ein interessantes Faktum: Fast alle der berühmten Schriftsteller, die hier Erholung suchten, hatten sich gegenseitig Werke zugeeignet. Auch manchen der Kinder, die tagsüber lautstark im Park und am Strand herumtollten, waren von Elternteilen Gedichte oder ganze Erzählungen gewidmet worden, und man merkte sofort, welche der Sprößlinge davon wußten und welche nicht. Außerdem tippelten, wie ich wußte, einige der Damen in nunmehr gebrechlichem Alter, die sich die Abende mit trivialem Geplauder vertrieben, unter den Initialen D.V., N. oder einfach als »sie« in schmucken, neuen Stöckelschuhen auf Buchseiten umher. Gelegentlich verbargen sich hinter den Initialen auch Männer, doch das kam seltener vor, und die Betreffenden nahmen im Speisesaal regelmäßig Diätkost zu sich, weil ihnen Magenleiden zu schaffen machten.
Manchmal ging ich abends zum Postamt, in der schwachen Hoffnung, eine freie Leitung nach Moskau zu erwischen, um mit Lida Snegina zu sprechen. Aber gewöhnlich war alles belegt, denn man mußte Telefongespräche einen Tag vorher anmelden.
Lida Snegina war meine aktuelle Freundin in Moskau. Am Tag meiner Abreise nach Riga hatte sie mich im Regen zum Bahnhof begleitet. Als wir langsam über den nassen Bahnsteig gingen, meinte sie, ohne mich anzuschauen, manchmal sei es schwierig, mit einem Ausländer befreundet zu sein, vor allem, wenn er aus einem abgelegenen Land stamme. Ich wollte den Grund wissen, und sie erzählte mir etwas von einer Freundin, die sich mit einem Belgier eingelassen habe, der sich plötzlich ohne ein Wort des Abschieds davongemacht habe. Möglicherweise gilt das nicht für alle Ausländer, meinte sie, aber Tatsache ist, daß einige plötzlich verschwinden. Das habe ich wenigstens gehört.
Darauf mußte ich eine Antwort geben, aber leider reichte die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges nicht aus, um einen (und sei es auch nur kleinen) Streit anzufangen und dann wieder beizulegen. Daher mußte ich mich für eines von beidem entscheiden, den Zank oder die Versöhnung. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit, zügelte meine Streitlust und erklärte, was immer auch geschehe, auf keinen Fall würde ich so weit herabsinken, daß ich mich wie eine Kanaille heimlich verdrückte. Gerne hätte ich ergänzt, daß ich aus einem uralten Balkanland mit beeindruckenden Legenden über das gegebene Wort stammte, doch hätte die immer knapper werdende Zeit keinesfalls für den kompletten Vortrag der anrührenden Sage von Konstantin und Doruntina ausgereicht, an die ich in erster Linie dachte, sondern allenfalls für ein paar magere Bruchstücke.
Zum Postamt ging ich am liebsten allein. Der Weg dorthin war von keinem besonderen Reiz, ich würde sogar sagen, er war äußerst reizlos: ein von spärlichen Schilfhalmen, von Sandhaufen und großen Disteln gesäumter Trampelpfad. Aber so, wie manche nicht übermäßig hübsche Frauen eine ganz besondere, unaufdringliche Anziehungskraft zu entwickeln vermögen, hatte auch dieser Weg seine Geheimnisse, die zum Nachdenken anregten.
Es war bereits das zweite Mal, daß ich in einem Schriftstellererholungsheim Urlaub machte, so daß ich mit den für solche Einrichtungen typischen Gebräuchen und Heimlichkeiten ganz gut umzugehen verstand. Meine Winterferien hatte ich in Jalta verbracht, wo Konstantin Paustowski mein Zimmernachbar gewesen war. Bei ihm brannte stets bis um Mitternacht Licht, er arbeitete, wie wir alle wußten, an seinen Lebenserinnerungen, und jedesmal, wenn ich auf den Flur kam, fand ich dort den »Starost« meines Lehrgangs am Gorki-Institut vor, einen gewissen Ladonschtschikow, der ebenfalls zur Erholung im Hause weilte und offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als zu überwachen, wie lange bei Paustowski das Licht brannte. Er seufzte, schlug sich auf die Brust und teilte, als habe er vor einer schrecklichen Gefahr zu warnen, jedem, der ihm über den Weg lief, mit, der da drinnen, also Paustowski, erwecke in seinen Memoiren diese ganzen Juden wieder zum Leben. Jalta war mir wegen des nicht enden wollenden Regens in Erinnerung geblieben, wegen des Billardtischs, an dem ich dauernd verlor, ein paar tartarischen Inschriften und der steten Mißgunst auf Ladonschtschikows Gesicht, das bei all seinem wichtigtuerischen, tiefe Sorge um das Vaterland vorgaukelnden Ausdruck gewöhnlich wirkte. Ich hatte mir vom Erholungsheim in Riga eine etwas vergnüglichere Atmosphäre versprochen, was ich aber vorfand, waren ein Gutteil der Urlauber aus Jalta, eine Tischtennisplatte anstelle des Billardtischs und abermals Regengüsse, die Puschkins Bonmot, der Sommer im Norden sei bloß eine Karikatur der südlichen Winter, unwiderlegbar machten, und in Anbetracht der praktisch gleichen Gespräche, Gesichter und Initialen (lediglich Paustowski und seltsamerweise Ladonschtschikow fehlten) war der Eindruck unvermeidlich, daß sich alles ständig im Kreis bewegte. Dem Heimleben haftete etwas längst Vertrocknetes, man könnte sagen, Anthologisches an, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich wie in Jalta das Gefühl hatte, in einer mehr als absonderlichen Welt gelandet zu sein, einer hybriden Zeit, in der das Lebendige mit bereits Gestorbenem vermengt und verwoben war, genau wie in der alten Balkanlegende, die ich Lida Snegina nicht mehr hatte erzählen können. Daß ich die Leute unwillkürlich in einen Bezug zu ihren mir seit längerem bekannten Roman- und Dramenfiguren brachte, verstärkte diesen Eindruck noch. Dem schimpflichen Bedürfnis, die Sätze, Gesten und sogar Gesichter der Autoren mit denen ihrer Geschöpfe zu vergleichen, hatte ich schon im vergangenen Winter in Jalta nicht widerstehen können. Damals war mir plötzlich klargeworden, daß Geld in den Werken zeitgenössischer sowjetischer Künstler praktisch nicht vorkam. Das hatte schon etwas zu bedeuten. Jetzt, in Riga, entdeckte ich, daß außer dem Geld auch viele andere Alltäglichkeiten in ihren Büchern nicht erwähnt wurden, während umgekehrt seitenlang von Dingen die...