E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Juránová / Juránová Eine unerledigte Angelegenheit
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99047-062-6
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-99047-062-6
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sich Zita auf ein entspanntes Leben auf dem Land gefreut, doch sein unerwarteter Tod machte sie plötzlich zu dieser seltsamen Städterin, die allein aufs Dorf gezogen ist. Ihr Haus wird ihr zum Asyl und zum Ort, wo sie ihren Gedanken freien Lauf lassen kann. Sie arrangiert sich mit dem Alleinsein. Jahreszeit und Garten geben ihrem Leben den Rhythmus vor. Da entdeckt sie in einem alten Koffer auf dem Dachboden ihres Hauses das Porträt einer unbekannten jungen Frau. Zitas Neugierde wird geweckt, zumal sie auch Briefe und Aufzeichnungen dieser Unbekannten findet, die während des Krieges geschrieben worden waren. Wer war diese Frau, wie kam sie in dieses Haus? Wird es ihr gelingen, das Geheimnis dieser schönen Unbekannten zu entschlüsseln?
Jana Jurá?ová (1957) schreibt Prosa und Theaterstücke, außerdem ist sie als Literaturübersetzerin tätig. Nach ihrem Studium der russischen und englischen Sprache war Jana Jurá?ová als Theaterdramaturgin, Kommentatorin bei Radio Freies Europa sowie Redakteurin der Literaturzeitschrift 'Slowakische Ansichten' tätig. 1993 war sie Mitbegründerin des feministischen Projektes Aspekt, bei dem sie bis heute mitwirkt. Bisher hat sie mehr als ein Dutzend Romane und Kurzgeschichtensammlungen sowie 5 Kinderbücher veröff entlicht. Mehrere ihrer Bücher wurden bisher ins Ungarische, Englische bzw. Deutsche übersetzt. Zu den Autoren, die sie bisher aus dem Englischen übersetzte, gehören Margaret Atwood, Jeanette Winterson und Virginia Woolf. Jana Jurá?ová war bisher vier Mal für den renommierten slowakischen Literaturpreis Anasoft litera nominiert (2014 mit Eine unerledigte Angelegenheit), zurzeit werden in der Slowakei vier ihrer Theaterstücke aufgeführt.
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Ich liege in meiner Schlafnische des Hauses, in das ich erst vor Kurzem endgültig eingezogen bin. Die Sonne dringt durch die Fenster der gegenüberliegenden Seite, und ihre Strahlen greifen bis in die Mitte des Raumes – fast bis zur Kochecke. An der Seite, auf der ich schlafe, ist das Haus von Bäumen umstanden. Mein Haus. Ich bin hier. Gestern Abend bin ich relativ früh ins Bett gegangen und gleich eingeschlafen, denn ich war ziemlich müde. Jetzt ist es erst halb sechs, und ich bin schon völlig munter. So früh am Morgen ist mir das lange nicht mehr passiert. Ich denke an unsere Plattenbauwohnung im zehnten Stock. Im Sommer schien die Sonne dort vom frühen Morgen an ins Schlafzimmerfenster, man konnte ihr nicht entrinnen. Während ich arbeiten war, konnte ich die Bewegung der Sonne nicht verfolgen, höchstens mal am Wochenende, wenn es sonnig war. Erst nachmittags gegen halb zwei kam der gnadenbringende Schatten hervorgekrochen, die Sonne zog weiter und schien ins Wohnzimmer, doch sie war nicht mehr so intensiv. Ich habe mich dort manchmal wie in einem Adlerhorst gefühlt. Im Herbst sah ich den schweren Wolken zu, die unmittelbar über meinem Kopf hinwegzogen. Auf dem Dach nistete ein Turmfalken-Pärchen – so lautet die offizielle Bezeichnung dieser kleinen Raubvögel, die man von Weitem mit Tauben verwechseln könnte, würden sie nicht anders fliegen. Manchmal waren die eindringlichen Rufe der Falken den ganzen Tag über unserer Küche zu hören. Ich hatte das Wohngebiet wie auf einem Präsentierteller vor mir liegen. Alles war weit weg, alles war klein. Die in der Ferne aufragenden Berge wirkten wie ein kitschiges Gemälde. Sterne, Mond, Flugzeuge am Himmel, Wolken, Sonne – all das war in dieser Wohnung im zehnten Stock näher, dafür spürte ich die Erdanziehung stärker als anderswo. Ich beneidete die Falken darum, dass sie ihnen nicht gefährlich werden konnte. Als mein Mann und ich über dieses Häuschen nachdachten, fürchtete ich, die Aussicht von dort oben würde mir fehlen, wo ich so lange einen freien Blick nach allen Seiten hatte. Sie fehlte mir nicht. Erst hier gestand ich mir ein, wie sehr ich die Höhe satt hatte. Es tat mir gut, mich an der Grenze zum Alter auf der Erde niedergelassen zu haben. Trotzdem es noch früh ist sollte ich jetzt aufstehen, um mich von den Erinnerungen zu lösen. Es kommt mir vor, als hätten sie sich heiß gelaufen, ich bin ihrer müde, doch wenn ich nicht aufpasse, kommen sie immer wieder wie ein Film, der gegen meinen Willen in meinem Kopf als Endlosschleife läuft. Ich kenne ihn in und auswendig, sowohl vom Anfang, als auch vom Ende her … die einzelnen Sequenzen lassen sich auch nicht austauschen oder löschen, es macht einfach keinen Sinn, das Ganze erneut abzuspulen. Wie gern würde ich meine Erinnerungen in einem sicheren Safe ablegen, in dem sie nicht verderben können, denn ich habe insgeheim Angst, dass ich sie verliere und mir überhaupt nichts bleibt. So erkläre ich mir das – mir allein, es ist ja niemand sonst hier. Es ist, als würde ich mich jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Aufwachen von neuem vergewissern, dass sie nicht verschwunden sind, dass sie noch hier sind, bei mir. Die Erinnerungen an lange verlorene Menschen sind in jener Form erhalten geblieben, die mein Gedächtnis gespeichert hat. Doch manchmal geraten sie mir einfach außer Kontrolle, und ich finde nicht den Schalter, sie abzustellen. Und so schwirren die Erinnerungen und schwirren, und ich kann nicht einschlafen. Sie wecken mich auch am Morgen, es gelingt mir nicht, sie abzuschütteln. Zum Glück kann ich aufstehen und etwas arbeiten. Vielleicht würde ja helfen, das Bett in eine andere Ecke des Hauses zu stellen, damit mich die Sonne nicht weckt, die zu dieser Jahreszeit morgens von der Kochecke bis zu mir ins Bett gekrochen kommt. Doch wenn ich dann überhaupt nicht mehr aufstünde? Vielleicht würde ich so den halben Tag verschlafen, vielleicht auch den ganzen. Niemand würde es merken, denn hier ist niemand. Nur ich mit meiner Befürchtung, ich könnte dann meine letzten Angewohnheiten verlieren. Ich werde das Bett also nicht an eine dunklere Stelle schieben, wenigstens vorläufig nicht. Inzwischen scheint mir die Sonne direkt in die Augen. Ich schließe sie. Noch eine Minute. Gleich, gleich stehe ich auf und mache mir eine Liste, welche Dinge ich heute erledigen werde. Nichts davon wird mich sonderlich berauschen, es wird aber auch nichts dabei sein, was mich anöden würde. Ich kann mir Frühstück machen, ich muss aber nicht, ich kann in den Garten gehen, ich muss aber nicht, ich kann die Veranda sauber machen … Der Tag beginnt gerade erst. Genau wie der Sommer, auch wenn davon noch nicht viel zu merken ist. Ich weiß nicht, wie ich hier den Winter überstehen soll, doch darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Die Sonne scheint, und daran wird sich der heutige Tag ausrichten. Ich werde damit beginnen, mir einen Kaffee zu kochen, dazu werde ich getoastetes Brot und etwas von dem essen, was ich gestern eingekauft habe: Käse, Marmelade oder die Mettwurst. Den Vormittag über werde ich im Garten sein. Zum Mittag gibt es, was von dem gestern Gekochten übrig ist und danach werde ich mich ausruhen. Dann werde ich ein wenig sauber machen, vielleicht gehe ich auch in den Laden, vielleicht auch zur Post. Der Tag hat ja gerade erst begonnen. Ich bin also endgültig hierher gezogen. Die Wohnung habe ich der Tochter überlassen. Ursprünglich hatten mein Mann und ich vor, in die Zweiraumwohnung der Tochter zu ziehen und ihr unsere Vierraumwohnung zu geben. Doch dann war uns klar geworden, dass wir uns in dieser kleinen Wohnung streiten würden. In der Vierraumwohnung konnten wir unsere Einsamkeit voreinander verbergen, doch in den zwei Zimmern würde das nur schwer gelingen. So hatten wir uns zu dem umfassenden Wohnungswechsel entschlossen und waren in diesem Häuschen auf dem Dorf gelandet. Wir hatten es nie angesprochen, doch im Stillen waren wir uns beide sicher, dass dieses Haus, auch wenn es nur einen Raum hatte, ausreichend unterteilt war, so dass wir zusammen sein könnten und uns gleichzeitig nicht im Wege wären. Mein Mann freute sich auf den Werkzeugschuppen, die Spaziergänge im Wald und das Angeln, ich auf den Garten. Wir machten uns keine Illusion, dass aus uns das ideale Rentnerehepaar werden würde, das Hand in Hand durchs Dorf spaziert, doch wir hofften, die Leere und die drückende Stille würden sich hier natürlicher und schmerzloser auflösen als in der rastlosen Stadt ohne Grün. Endlich konnten wir uns auf etwas freuen. In der Stadtwohnung hatte sich die Freizeit allmählich mit sinnlosen Stereotypen angefüllt, auch wenn wir uns das nicht eingestehen wollten. Und als wir uns geeinigt hatten, hier in dieses Haus zu ziehen, bekam mein Mann einen Herzinfarkt. Es ging wahnsinnig schnell. Die Ärzte sagten, der Infarkt sei gnädig gewesen. Obwohl der Umzug bereits vorbereitet war, mietete ich mir in der Stadt eine Einraumwohnung und dachte darüber nach, dieses Haus aufzugeben. Was sollte ich denn allein damit anfangen? Wenn die Tochter mit ihrem Mann endgültig in unsere alte Plattenbauwohnung zieht, werde ich diesen gesamten Bereich meines Lebens verlieren. Sie hat bereits mit der Renovierung begonnen. Den Raum, in dem ich das Erwachsenwerden und meine Ehe erlebte, den Raum, in dem wir Kinder großzogen – es wird ihn nur noch in meiner Erinnerung geben, und sie wird zusammen mit meinem Gedächtnis verblassen und sich verlieren. Doch das wird immer noch besser sein, als sie jeden Morgen und jeden Abend herbeizurufen und dann wieder zu verscheuchen. Eigentlich ist es doch gut, dass ich mich um diese Wohnung nicht mehr kümmern muss, ich muss nicht länger in allen Ecken Staub wischen, auch nicht, wenn ich bei der Tochter Blumen gieße und lüfte, so lange sie im Ausland ist. Ich habe mich schon immer schwer damit getan, einen angestammten Lebensbereich zu verlassen. In meinem bisherigen Leben bin ich erst zwei Mal umgezogen – von den Eltern in die Plattenbauwohnung, in der ich bis vor Kurzem mit meinem Mann gelebt habe, und von dieser Wohnung hier in das Haus. Wir dachten, wir hätten Zeit, uns allmählich im eigenen Haus einzuleben. Doch der Tod kam. Urplötzlich, unumkehrbar, schockierend und unangekündigt wie er letztendlich immer kommt, selbst wenn er herbeigesehnt wird und das Totenbett bereits durchgelegen ist. Und das Leben geht weiter, als sei nichts geschehen. Die Leute, die ich hier kennenlerne, bringen keinen Mann mit mir in Verbindung, weder einen lebendigen noch einen toten. Sie kennen mich ohne. Sie können sich nicht einmal daran erinnern, dass wir ein paar Mal gemeinsam hier waren. Für sie gibt es nur noch mich. Ich fühle mich unvollständig. Manchmal aber auch befreit. Doch das sage ich nicht laut. »Die Welt ist blind und unaufmerksam« hat mal jemand zu mir gesagt. Ich selbst beachte den Schmerz anderer ja auch nicht, jedenfalls nicht so, wie sie es nötig hätten. Dass traurige Menschen egoistisch sind, habe ich schon vor längerer Zeit festgestellt, doch jetzt wird mir klar, dass auch ich so geworden bin. Es gelingt mir nicht, etwas dagegen zu tun. Vielleicht geht es ja irgendwann vorüber, vielleicht auch nicht, egal. Die Leute...