E-Book, Deutsch, Band 2, 380 Seiten
Reihe: Superior
Jungwirth Superior
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95991-228-0
Verlag: Drachenmond Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Windschatten der Lüge
E-Book, Deutsch, Band 2, 380 Seiten
Reihe: Superior
ISBN: 978-3-95991-228-0
Verlag: Drachenmond Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anne-Marie Jungwirth, Jahrgang 1978, ist studierte Betriebswirtin und im Finanzbereich tätig. Den Zahlen gehört ihr Kopf, dem Schreiben ihr Herz. Entschlossen nicht nur davon zu träumen, sondern dieser Leidenschaft wirklich nachzugehen, hat sie nach der Geburt ihres Sohnes. Durch den Gewinn eines Schreibwettbewerbs ermutigt, wagte sie schließlich den Schritt, ihr erstes Romanmanuskript an einen Verlag zu senden. Ihr Debütroman 'Engelsstaub' ist im Mai 2015 bei Carlsen Impress erschienen. Ihr zweiter Roman 'Superior' erscheint im Sommer 2017 im Drachenmondverlag. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in ihrer Wahlheimat Österreich.
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1
Amelia ging ins Büro des Hauses, um alles für die Videokonferenz vorzubereiten. Irgendwie hatte jedes Zimmer in diesem Haus seinen eigenen Charme, nur das hier nicht. Es war ein seelenloser Raum. Deckenhohe Regale nahmen den Wänden die Luft zum Atmen. Die Regalböden hingen durch und zeugten noch von der Last, die sie einmal tragen mussten. Nun waren sie leer. Ein paar Blätterstapel hier und da, aber keine Bücher oder Ordner, nach denen die Möbel zu hungern schienen. Vor dem Fenster befand sich ein Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche ebenfalls durchgebogen war. Seiner eigentlichen Funktion beraubt, wurde er jetzt als Abstellplatz für ihren Drucker genutzt. Neben dem Schreibtisch befand sich eine Kommode. Auf ihr ein Fernseher, ein schwarzer Plastiklautsprecher, den Moira und sie immer Ufo nannten, jede Menge Kabel und eine Konsole. Amelia steckte das Verteilerkabel in die Steckdose und schaltete die Konsole ein. Während ihr die blinkenden Lichter anzeigten, dass sich die gesicherte Verbindung aufbaute, nahm sie auf einem der beiden Stühle Platz, die direkt vor dem Fernseher standen.
Hier konnten sie länger reden. Sie verstand nicht viel von diesen Dingen, aber irgendwie wurden die Signale wohl verschlüsselt und die Übertragung umgeleitet oder so. Sky war ein Freund von Regelmäßigkeit und gerne gut informiert. Moira und Amelia sprachen hier deshalb montags, mittwochs und freitags um Punkt achtzehn Uhr mit ihm und meistens auch Nathan. Gespräche, die wie heute außerhalb dieser Termine stattfanden, gab es nur selten. Theoretisch könnte sie hier auch länger mit Nathan reden, aber sie hatten es nur einmal gemacht. Für Amelia war es merkwürdig, Nathans Gesicht und jede Pore darin dreifach vergrößert auf dem Bildschirm zu sehen, ohne seine Wärme zu spüren. Und dabei selbst hier zu sitzen, auf diesem unbequemen Stuhl, und in das künstliche Auge über dem Bildschirm zu blicken, das ihr Gesicht zu Nathan übertrug. Selbst ein Telefonat fühlte sich intimer an, vermittelte ihr das Gefühl, seine Stimme an ihrem Ohr zu hören. Aber dieses Video-Ding … Für manche mochte das eine Form von Nähe sein, sie fand es gruselig und konnte auf diese Art der Kommunikation verzichten.
Die Verbindung zum Netzwerk hatte sich aufgebaut und Amelia betrat den virtuellen Besprechungsraum. Obwohl sie zu früh war, waren Nathan und Sky bereits dort.
»Hey, Amelia«, begrüßte Nathan sie sofort.
Sie wusste nicht warum, aber irgendwie klang er in ihren Ohren überschwänglicher als sonst.
»Hey.« Amelia winkte der Kameralinse zu. »Ihr seid ja schon da. Beide.«
»Ich würde mir das ja rot im Kalender ankreuzen, aber …«, begann Sky.
»Du willst nicht, dass ich abhebe. Schon klar«, unterbrach Nathan schulterzuckend.
»Erstens: Ich glaube nicht, dass du noch mehr abheben kannst«, widersprach Sky. »Und zweitens: Nein, ich habe einfach keinen roten Stift.«
Wenn Amelia es nicht besser wissen würde, würde sie sagen, die beiden liebten einander, so wie sie sich gegenseitig neckten. »Also ich weiß gar nicht, was du hast, Sky. Mich nerven Männer, die zu früh kommen, ja viel mehr.«
Sky blickte nach oben und schien nachzudenken. »Da ist was dran.«
Nathan schenkte ihr ein anzügliches Lächeln.
»Also, was gibt’s?« Amelia trommelte mit ihren Fingern auf der Sitzfläche ihres Stuhls.
»Es geht um deine Gabe«, begann ausnahmsweise Nathan das leidige Thema. »Wir haben schon oft darüber geredet, was wir glauben, was alles in dir steckt.«
»Richtig«, ergriff Sky das Wort. »Und wir dachten, es wäre nicht nur für uns gut, das Ganze etwas systematischer anzugehen, sondern würde auch dir eine gewisse Orientierung geben.«
Amelia überkreuzte ihre Arme vor der Brust. »Orientierung?«
»Ja, genau«, bestätigte Nathan und wirkte schon wieder so euphorisch.
Wollten sie ihr jetzt etwa ganz systematisch zeigen, wie weit unten sie war? Und wie weit entfernt vom Ziel? Vielleicht mit einer total bescheuerten Tacho-Grafik. Also … wenn das der Plan war, konnte Amelia auf diese Art der Orientierung verzichten. Sie wusste auch so, dass ihre Fortschritte zu wünschen übrig ließen.
»Wir zeigen es dir«, sagte Nathan und sie hörte, wie er mit seiner Maus herumklickte. »Warte kurz. Ich stelle mal eben auf Screen-Sharing um.«
Amelia betrachtete das Bild, das sich langsam an der Stelle des Bildschirms aufbaute, auf der vor einer Sekunde noch Nathans Gesicht strahlte. »Was ist das denn bitte?«
»Eine Matrix«, antwortete Sky ruhig.
Echt? »Ich weiß, was eine Matrix ist. Für den Fall, dass es jemand vergessen hat, ich habe in Harvard studiert. So zwei, drei Dinge weiß ich also auch.«
»Hm.« Skys Gesicht wirkte ungerührt. »Wenn man den Erzählungen deiner Pflegeschwester während der Examination Week glauben darf, hast du auf dem Campus gelebt und keine Party ausgelassen. Das erfüllt zwar einige Kriterien von studiert, aber nicht alle.«
Amelia streckte ihm die Zunge raus. Total kindisch, aber ihr war gerade danach.
Nathans Gesicht war nicht zu sehen, sondern nur die Tabelle. Aber Amelia könnte schwören, dass er sich die Hand vor den Mund hielt, um sein Lachen zu dämpfen.
»Voll witzig.« Amelia verdrehte die Augen und legte ihren Arm über die Rückenlehne.
»Ein wenig schon«, sagte Nathan entschuldigend. »Aber zurück zum Thema. Das hier ist eine Matrix mit den Ausbaustufen und Merkmalen deiner Gabe.«
Amelia zählte fünf Zeilen und fünf Spalten. Ihre Gabe … mit Pandora klappte der Austausch von Bildern und Gedanken problemlos. Sie glitten fließend zwischen ihnen hin und her. Amelia musste nicht einmal darüber nachdenken. Es war wie atmen. Aber mit anderen … es war nicht so, dass sie sich extra blöd anstellte. Es funktionierte einfach nicht. »Enttäuschend, dass es nur so wenige Ausbaustufen gibt.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Keine Angst«, sagte Sky nüchtern. »Wir haben uns für diese Abbildung auf die rein serielle Nutzung beschränkt.«
»Serielle Nutzung?«
»Das ist …«, setzte Sky an.
»Verdammt«, fluchte Amelia. »Ich weiß, was seriell ist. Aber habt ihr sie noch alle? Ich finde schon den Großteil dieser Matrix total verrückt. Und du willst mir jetzt sagen, dass man die Gabe nicht nur bei einer Person, sondern gleichzeitig bei mehreren einsetzen kann?«
»Wissen«, schaltete sich Nathan mit sanfter, aber sachlicher Stimme ein, »tun wir genau genommen nichts von alldem. Aber es sind Vermutungen, die wir aufgrund deiner DNA und dem Vergleich mit ähnlichen Sequenzen anderer Gaben-Träger angestellt haben. Was tatsächlich alles möglich ist, kannst nur du uns zeigen. Und nur mit viel Zeit.«
»Mit ganz viel Zeit würde ich sagen.« Amelia sah erneut zu der Abbildung. »Im Moment bin ich bei …«
»Wenn wir Pandora einmal außen vor lassen«, unterbrach sie Sky. »Dann bist du bei 1,1 und 1,2.«
Amelias Blick glitt zur Matrix. Reihe 1: In die Gedankenvorhalle eines anderen eindringen. Spalte 1: mit Körperkontakt. Spalte 2: bei physischer Präsenz nach erstmaliger Verbindung. »Das fasst es ziemlich gut zusammen, würde ich sagen.«
»Und das ist kein Grund, dich schlecht zu fühlen.« Die Matrix verblasste und Nathans nun nicht mehr so überschwänglich wirkendes Gesicht erschien vor ihr. »Eine solche Gabe zu erlernen, braucht seine Zeit und du tust, was möglich ist. Das wissen wir doch alle.«
Amelia nickte und biss sich auf die Unterlippe. Wussten das wirklich alle? So kam es ihr nämlich meistens nicht vor.
»Wir haben dir das nicht gezeigt, um dir Vorwürfe zu machen.« Sky schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht. Ganz im Gegenteil. Wir wollten dir die Perspektiven aufzeigen und dir Mut machen. Wie du siehst … das Ganze ist eine Matrix. Wenn du nach unten nicht weiterkommst, probieren wir es nach rechts. Und wenn es dort stockt, dann gehen wir wieder nach unten.«
»Wow!« Amelia atmete tief ein und aus. Was glaubte Sky eigentlich, was sie hier den ganzen Tag trieb? Netflix sehen und Chips futtern? Sie arbeitete jeden verdammten Tag an ihrer Gabe. Sie kämpfte mit den Basics. Hauptsächlich damit, nicht ständig kotzen zu müssen. Und er faselte hier etwas von ihren Perspektiven. »Du bist ja so motivierend, Sky. Ehrlich! Du solltest nach Afrika fliegen und verhungernden Kindern erzählen, dass sie alles erreichen können. Dass es Perspektiven gibt. Wenn sie doch nur endlich aufhören würden, sich mit elementaren Grundbedürfnissen von ihrer Bestimmung abzulenken.«
Sky senkte den Kopf. »Das ist jetzt irgendwie falsch rübergekommen. Entschuldigung, aber ohne meine Gabe … weiß ich einfach nicht, wann ich besser den Mund halten sollte.«
Nathan hob eine Braue. »Macht wirklich einen Riesenunterschied bei dir …«
»Tut mir ehrlich leid, Amelia.« Sky wirkte aufrichtig betrübt. »Es ist gerade einmal zwei Monate her, dass sich deine Gabe aktiviert hat. Und du machst das großartig. Ich bin nur einfach ungeduldig. Zu ungeduldig. Es tut mir leid.«
»Schon...




