Jungwirth | Im Atlas | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

Jungwirth Im Atlas


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99065-072-1
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

ISBN: 978-3-99065-072-1
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Diesen Urlaub haben David und Stefan dringend nötig. Acht Tage Marokko, von Marrakesch in die Wüste - um dort den einzigartigen Nachthimmel zu sehen. Doch die Reise steht schon vor Beginn unter keinem guten Stern. Einen Tag vor dem Abflug geht ein Video von der Ermordung zweier Däninnen im Touristenort Imhil viral. Stefan will den Flug stornieren. Aber David, der sich von den Bildern auf seltsame Weise angezogen fühlt, überredet ihn, die Reise anzutreten. In Marokko bleibt die Stimmung angespannt. Sie sind sich uneinig, ob sie ihre Beziehung hier offen zeigen sollen, und ihr Fahrer Kalifa erscheint ihnen von Tag zu Tag rätselhafter. Als er David und Stefan im Hohen Atlas auf der Straße sitzen lässt, wandern sie wohl oder übel zum nächstgelegenen Ort: ausgerechnet nach Imhil ... Andreas Jungwirth führt uns in seinem Reiseroman versiert und zielsicher auf die abseitigen, unbetretenen Pfade - zu einer Beziehung, zur Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und schließlich über die Grenzen des Erwartbaren.

Andreas Jungwirth, 1967 in Linz geboren, lebt nach langer Zeit in Berlin wieder in Wien. Studierte in Wien Germanistik und Theaterwissenschaft sowie am Konservatorium Schauspiel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit (Theater, Hörspiel) arbeitet er als Hörspielregisseur und moderiert Publikumsveranstaltungen für Ö1 (»Hörspielgala«, »radiophone Werkstatt«). Zuletzt erschienen die Jugendromane »Kein einziges Wort« (2014, Ravensburger Buchverlag) und »Schwebezustand« (2017, CBT) sowie in der Edition Atelier seine Erzählung »Wir haben keinen Kontakt mehr« (2019).

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1
David stand nackt vor dem Spiegel und betrachtete sich, als wäre er ein Fremder. Was es zu sehen gab? Den geraden Mund. Die Unterlippe etwas voller als die Oberlippe. Einen schlanken Hals. Unter dem Kehlkopf die verblasste Narbe einer Schilddrüsenoperation, da war er Ende zwanzig gewesen. Schultern, die, wie oft bei großen Menschen, leicht nach vorne fielen. Graue Haarbüschel, darin versteckte Brustwarzen, klein und fest. Fettpolster da und dort. Der Nabel tief im Bauch. Ein passabler Schwanz. Kräftige Oberschenkel. Für seine Größe überraschend kleine Füße. Insgesamt Durchschnitt. Kein Grund, sich für irgendetwas zu schämen, nicht in seinem Alter. Als Fünfzehnjähriger war er ein schneller und wendiger Schwimmer gewesen. Hätte er konsequent trainiert, dachte David, während er sich weiter von oben bis unten musterte, hätte er es tatsächlich zu etwas bringen können. Jedenfalls war das die Ansicht seines Sportlehrers gewesen. Aber weshalb dieses Bedauern? – Verpasste sportliche Erfolge ließen sich dreißig Jahre später ohnehin nicht mehr nachholen. Und in seiner Jugend? Damals hatte es ihm an Ehrgeiz gefehlt. Wozu sich täglich schinden? Jeden Tag mehrere Stunden im Wasser. Sicher nicht! David hob seinen Kopf und blickte in die Augen seines Spiegelbildes. Sie changierten zwischen Grau und Grün. Bei ihrer ersten Begegnung vor einem Jahr hatte Stefan behauptet, Davids Augen würden im Zwielicht der Dämmerung leuchten. Unsinn. Keines Menschen Augen leuchten in der Dämmerung. Das war beiden klar gewesen. Stefan hatte in diesem Moment auf Biegen und Brechen etwas Bemerkenswertes sagen wollen – um David zu beglücken und sich selbst zu überzeugen. Er schob seine Schultern weiter nach vorne, formte einen Buckel, dann drückte er die Arme langsam nach hinten und machte ein Hohlkreuz. Ein Wirbel knackte, und der junge Fernsehmoderator, der sich entlang eines politischen Skandals profiliert und seit Kurzem die Nachrichten im Hauptabendprogramm übernommen hatte, sprach das Wort Marokko aus. Marokko. Ein heißer Abend Anfang Juli. Die letzte Premierenfeier der Saison. Plötzlich war jemand an der Theaterbar neben ihm gestanden, jemand, der ganz offensichtlich Davids Nähe gesucht hatte. Meist waren es junge Bühnenbildner, die sich auf diese Weise an ihn heranspielten, wie zufällig, weil sie sich von einer Bekanntschaft mit ihm auf irgendeine Weise einen Vorteil erhofften. Eine Erwartung, die David in der Regel enttäuschte. Fehlende Möglichkeiten oder fehlender Wille oder beides. Dieser aber war in Davids Alter gewesen. Er hatte David damit beeindrucken wollen, dass er alle afrikanischen Länder bereist hatte, soweit das für Reisende in den vergangenen Jahren eben möglich gewesen war, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen, ohne aus dem Nichts überfallen oder durch einen fingierten Unfall aufgehalten und dann ausgeraubt zu werden oder was man eben sonst alles so hörte oder las. Und wie viele Länder sind das?, hatte David wissen wollen, um die Sache abzukürzen. Gar nicht so wenige, hatte der Typ erklärt, aber keine genaue Anzahl genannt. Und David hatte nicht nachgefragt. Und worüber sie sonst noch gesprochen hatten – vergessen. Auch irgendein spezieller Grund, warum der Typ auf ihn zugekommen war, fiel David nicht mehr ein. Vielleicht hatte sich dieser Grund auch gar nicht offenbart. Warum nicht Land für Land eines Kontinents abhaken?, hatte David noch in derselben Nacht Stefan am Telefon vorgeschlagen. Sich von Marokko aus nach Süden vorarbeiten. Nein, Scherz beiseite: Fünf Stunden Flug stehen in einem guten Verhältnis zu den acht Tagen, die wir Zeit haben. David waren die Romane von Paul Bowles eingefallen. Also Tanger. Stefan war einverstanden gewesen. Wenn du unbedingt nach Marokko willst. Ich will nicht unbedingt nach Marokko. Aber da hatte Stefan sich bereits für Marrakesch entschieden. Von dort aus wollte er in die Wüste. Susanne sagt, das sei zwar total touristisch, hatte Stefan gemeint, aber die unkomplizierteste Art, den Himmel über der Wüste zu sehen – Stefan hatte offenbar auch Paul Bowles gelesen. Gelesen nicht, den Film gesehen. Immerhin. Also Marrakesch. Gegen Susanne war nicht anzukommen. Das war David schon während ihrer ersten gemeinsamen Nacht klar geworden. Nachdem Marokko in der Nachrichtensendung bereits zum dritten, vielleicht auch schon zum vierten Mal gefallen war, wollte David es nun doch genauer wissen. Er trat aus der Unterhose, die an seinen Knöcheln hing, verhedderte sich und wäre auf dem Weg ins Wohnzimmer fast gestürzt. Bisher sei unklar, wer für die Tat verantwortlich ist. Auch könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, las der Moderator mit einem etwas zu starren Blick auf den Teleprompter vor, ob es ein terroristischer Anschlag gewesen sei oder eine abscheuliche Bluttat. Punkt. Nächstes Thema. Ein Bericht über die gleichzeitig in Norddeutschland, Rumänien und Süditalien auftretende Schweinepest. David klappte seinen Laptop auf, öffnete die Seite einer Boulevardzeitung, die in der Regel Infos früher brachte als das Fernsehen und sich außerdem nicht scheute, Klarnamen zu nennen und Fotos von Opfern und Tätern ohne schwarzen Balken vor dem Gesicht zu zeigen. Die Topmeldung hieß denn auch: Zwei Touristinnen im Atlas enthauptet. Noch nichts Genaueres, keine Details, nur der Hinweis, dass im Netz ein Video kursierte, kein Bekennervideo, sondern eines, das den Hergang der Tat zeigte. Unter dem Hinweis war ein Screenshot, auf dem man in Grau- und Brauntönen eine unscharfe Gebirgslandschaft erkennen konnte. Ich sollte das nicht tun, dachte David noch, aber schon hatte er den dazugehörigen Link angeklickt. Ein Stoppschild ploppte auf – die Seite war bereits geblockt. Er klickte den Link mehrmals kurz hintereinander an. Das Stoppschild blinkte mehrfach kurz hintereinander. Stopp! Stopp! Stopp! Warum willst du dir das überhaupt ansehen? Warum willst du das in dein Leben lassen? Aber David scrollte über die Werbebanner hinweg, las Lesermeinungen, las Beschwerden darüber, dass man das Video nicht mehr sehen konnte, las Klagen über Zensur. Manche gaben Hinweise, wo möglicherweise ein funktionierender Link eingebettet sein könnte. Bald wirkte das Geschrei der anderen ansteckend. Ein Suchspiel im Netz. David verfing sich darin. Es war ihm, als wäre er Teil einer blitzschnell anwachsenden Community und als bestünde eine berechtigte Chance, gemeinsam eine alles beherrschende und die Allgemeinheit hinters Licht führende Macht auszutricksen. Ein neuer Post schob sich herein. Ein Link. Ohne weiteren Kommentar. Das Posting stammte von jemandem, der sich don’t-ignore nannte. David glaubte nicht an so eine Verschwörung, aber: Why should I ignore it, maybe I can use it for something? Fäden, als hätte jemand Regen gefilmt. Geflatter, wie von aufgescheuchtem Geflügel. Lichtpunkte sausen herum. Könnten auch gehetzte Leuchtkäfer sein. Das Weiß aufgerissener Augen. Vier Augen. Zwei Gesichter. Schon verlässt die Kamera sie wieder. Ein Knistern. Als würde etwas brennen. Oder zerreißen. Oder es hat nichts mit dem zu tun, was sich da abspielt. Ab Sekunde dreiunddreißig Schreie. Männerschreie. David hätte Schreie von Frauen erwartet. Dass diejenigen schreien, die sterben. Nicht die, die morden. Das Töten passiert im Dunkeln. Schnitt. Plötzlich Stille. Plötzlich Tag. Zwei Körper liegen im Licht, im Sonnenlicht. Die Kamera tastet sie ab. Die Füße. Die Beine. Bauch. Brust. Verrutschtes und verschmutztes Zeug. Sportzeug. Die Arme angelegt, die Beine an den Knöcheln überkreuzt. Nicht von selbst. Sie sind angelegt worden, sind überkreuzt worden. Eine der beiden Frauen hat nur einen Schuh an. David dachte, vielleicht haben die Mörder ja aus Spaß die Köpfe der beiden Mädchen vertauscht, und die liegen jetzt über den falschen Rümpfen. Aber dazu hätten die beiden wirklich enthauptet werden müssen. Enthauptet, hieß es. Unter einer Enthauptung ist aber, wenn man es genau nimmt, eine vollkommene Abtrennung des Schädels zu verstehen, dachte David. Die hier haben vermutlich bloß aufgeschlitzte Kehlen. Plötzlich wird mit einer schnellen Bewegung die Kamera gegen die Sonne gedreht. Der Bildschirm von Licht ausgegossen. Black. Schluss. Aus. Die Bilder erloschen. Die Aufnahme hat exakt eine Minute und siebenundvierzig Sekunden gedauert. Mit zugeschnürter Kehle starrte David auf das schwarze Display. Dass das wirklich geschehen war. Dass das kein Schauspiel war. Dass jemand so was tut. Dass jemand das dann auch noch filmt. Dass das jemand ins Netz gestellt hat, weil Mann oder Frau wollte, dass andere das sehen. Ob diese Bilder, je öfter man sie sieht, je mehr Details man entdeckt, je länger man darüber nachdenkt – als Ermittlungsbeamter beispielsweise –, würden diese Bilder immer harmloser, immer unechter oder immer authentischer, immer erschreckender wirken....



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