Jungen / Porombka | Deutsche Nullen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 6204, 224 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Jungen / Porombka Deutsche Nullen

Sie kamen, sahen und versagten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-68324-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Sie kamen, sahen und versagten

E-Book, Deutsch, Band 6204, 224 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-68324-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Too big to fail', sagen die Amerikaner. Da können sie von uns noch etwas lernen. Schließlich haben sich die Deutschen als Virtuosen des pompösen Untergangs einen Namen gemacht. Die Geschichte der Weltgeistpächternation zeigt, dass ein Vorhaben gar nicht groß genug sein kann, um mit Glanz und Gloria an die Wand gefahren zu werden. In diesem Buch verneigen sich Oliver Jungen und Wiebke Porombka vor den Koryphäen unter den Versagern. Von Kaiser Wilhelm II. über Joachim von Ribbentrop und Egon Krenz bis hin zu Rudolf Scharping und Thomas Middelhoff bieten sie wertvolles Grundlagenwissen zur Geschichte der deutschen Null. Das Motto lautet: Wir müssen sie feiern, wie sie fallen. Das sind wir unserer Geschichte schuldig.

Jungen / Porombka Deutsche Nullen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


VORWORT
Heldentum ist keine Kunst. Schwert in die Hand, Pferd unter den Hintern, ab ins Nirwana. Helden gab es zu allen Zeiten in allen Kulturen, und zwar eher zu viele als zu wenige. Helden sind so etwas wie die Mückenplage der Menschheitsgeschichte. Wo es leuchtet, schwirren sie herum. Und wenn man sie zu fassen sucht, greift man ins Leere. Nichts an Helden ist individuell, alles übermenschlich, typisiert, langweilig. Ihr Ruhm ist eingefroren in Legenden, die Nachgeborene legitimatorisch vor sich hertragen. Das Missverhältnis von nationaler Aufladung und internationaler Austauschbarkeit all der edlen, identitätsstiftenden Recken wirkt im besten Falle komisch. Wie viel interessanter ist die andere Seite! Nieten gab es freilich ebenfalls zu allen Zeiten. Dichter, die keine einzige Zeile zustande bringen, Henker, die sich ins eigene Bein hacken, das allein ist noch nicht bemerkenswert. Auf die Dimension der Niederlage kommt es an, Size does matter. Bauherren sind gemeint, die bei Bezug eines Märchenschlosses, das ihren gesamten Etat verschlungen hat, bemerken, dass die Fundamente nicht tragen; Tüftler, die das Rad neu erfinden, aber diesmal in eckig; Karrieristen, die sich aus einem Fettnapf nur durch einen beherzten Sprung in den nächsten retten. Den Koryphäen unter den Versagern also wollen wir in diesem Buch ein Denkmal setzen, einfach deshalb, weil sie es verdient haben. Denn da ist etwas in ihrem Scheitern, das sie aus der Masse der simplen Luschen ebenso heraushebt wie aus der Schar der strahlenden Sieger: ästhetische Vollendung, radikale Individualität, Charakter. Dabei haben wir keine vergleichende Kulturgeschichte des Verlierens im Sinn. Dieses Feld überlassen wir gerne klugen Geisteswissenschaftlern. Nein, hier geht es um hemmungslose Panegyrik. Wir feiern sie mit allem gebotenen Enthusiasmus, die visionären Nulpen und wüsten Stümper, die vom Erfolg Gehörnten und vom Misserfolg Verwöhnten, all die tragischen Gestalten, die ihr Leben lang auf den Kairos gewartet und ihn dann verschlafen haben, und auch jene, die im genau richtigen Moment am richtigen Ort waren, nur um ihr weltumstürzlerisches Projekt mit voller Kraft gegen die Wand zu fahren. Nebenbei mag dies ein Beitrag sein zur Beantwortung der immer noch durch Europa gespensternden Frage: Was ist deutsch? Die überragenden Großnullen nämlich wollen den Verfassern geradezu als Personifikationen jenes überlangen deutschen Jahrhunderts erscheinen, das spätestens mit der Reichsgründung von 1871 begann (wir berücksichtigen auch den Vorlauf) und vielleicht erst in unseren Tagen mit «Dieselgate» endet. Wäre eine so grandios idiotische, kolossal fatale Überheblichkeit, wie sie der Volkswagenkonzern zu Beginn des dritten Jahrtausends an den Tag gelegt hat, in irgendeinem anderen Land denkbar? Die Sturmtruppe des Klimaschutzes trickst beinhart die Umwelt aus – eine fast schon geniale Selbstversenkung. Vermutlich aber handelt es sich nur um das letzte Aufbäumen jenes Großnullentums, das uns, die wir nun allmählich (endlich? leider?) stinknormal werden, in der Vergangenheit ausgezeichnet hat. Die Deutschen, da ließen sie sich ein sattes Säkulum lang nichts vormachen, waren schließlich Virtuosen des pompösen Untergangs. Es fällt nicht schwer, darin die Folge einer heftigen Idealismus-Infektion zu sehen. Die Besessenheit von einer Idee, und sei sie noch so hirnrissig, verlieh den Vorzeigeknallchargen der Weltgeistpächternation nahezu unbegrenzte Energie, schenkte ihnen eine Ausstrahlung, die das Fußvolk einfach mitriss. Umso gewaltiger waren die Zusammenbrüche. Nur selten ist zuletzt noch etwas von dieser alten Grandezza aufgeblitzt, etwa in den Badehosen-Knutschfotos von Rudolf Scharping oder im fulminanten Handstand-Überschlag eines Thomas Middelhoff. Die kümmerlichen Blindgänger der Gegenwart stolpern eher über Anrufbeantworter oder Doktorarbeiten. Es ist gar nicht so leicht, festzustellen, wo, wann und warum uns das Talent des Ungebremst-auf-die-Schnauze-Fallens abhandenkam. Es mag etwas mit dem globalisierten Neoliberalismus zu tun haben, mit der großflächigen «Entklugung» (Dieter Hildebrandt), aber ganz sicher auch mit dem Siegeszug des Matriarchats. Unter der ersten Frau an der Staatsspitze wurde die gute alte germanische Keule schließlich alternativlos durch Schlaflieder ersetzt. Die erste Grunderkenntnis der angewandten Nietenforschung lautet in der Tat: Für die Aufnahme in die Hall of Shame haben sich in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten ausschließlich Männer qualifiziert. Wir vermuten, dass Frauen einfach das Mach-dich-zum-Affen-Gen fehlt. Hinten herum mag Heinrich von Treitschke also doch Recht behalten haben: Männer machen Geschichten, Frauen alles richtig. Folglich droht der große Ödnistod. Wir versüßen ihn mit ein wenig Nostalgie am Ende der deutschen, allzu deutschen Geschichte, dieser Ära der fröhlichen Selbstüberschätzung. Zu den deutschen Nullen zählen wir die österreichischen übrigens stillschweigend hinzu: zum einen, weil wir die Sprache als Hauptkriterium der Kulturabgrenzung ansetzen, und zum anderen, weil das gute großnulldeutsche Tradition ist. So mag hier auch ein Österreicher dafür einstehen, was die betrachtete Spezies in nuce auszeichnet. Das tapfere Schneiderlein Franz Reichelt bietet sich für diesen Zweck an, weil seine hehre Tat vom Februar 1912 gefilmt wurde und sich heute bei YouTube bewundern lässt: Anderthalb Minuten, die mehr erzählen als ein ganzes Buch. Reichelt mag dem Beruf nach Schneider gewesen sein, der eigenen Berufung nach war er Visionär, ein Dädalus. Er glaubte an den fliegenden Menschen. So nähte er in seiner Freizeit einen sackartigen Fallschirm zusammen, der es etwa Piloten erlauben sollte, aus einem defekten Flugzeug auszusteigen. An die Gesetze der Aerodynamik und der Erdanziehung glaubte sich der Luftikus nicht gebunden, ein Schneider muss ja nicht alles wissen. So überzeugt war er jedoch von seiner eigenen Kreation, dass er den Sack nicht etwa an einer Puppe ausprobierte, sondern im Februar 1912 gleich die Weltpresse zu einer atemberaubenden Vorführung einlud: Reichelts Sprung vom Eiffelturm. Eine Kamera auf der unteren Plattform des Turms hält fest, wie der Schneider, von Gehilfen umtänzelt, in seinem Sackungetüm auf einem Stuhl balanciert, der gleich neben dem Geländer auf einem Tisch steht. Dann wagt Reichelt den Schritt über das Geländer und in den ewigen Nullenruhm. Er fällt wie ein Stein, schlägt hart auf, Erde und Staub wirbeln in die Luft. Am Ende des kurzen Clips misst einer der Herbeigeeilten mit einem Zollstock die Tiefe des beachtlichen Kraters. Das eigentlich ist es, was auch wir in diesem Buch unternehmen: die Tiefe der Krater vermessen. Die einzelnen Kapitel sind biographisch angelegt, weil dadurch die Fallhöhen am besten zum Ausdruck kommen, machen aber Bezüge und Bezugnahmen deutlich. Die deutschen Nullen, so zeigt sich, bilden eine Gesellschaft in der Gesellschaft, einen Geheimbund, der es dieser verspäteten, von Genieabgasen benebelten Nation nach Kräften erschwerte, sich «über alles» zu erheben. Dabei war ebendiese Erhebung das Ziel vieler Nullen. Sie gehören aber nun einmal zu jener Kraft, die was auch immer will und es nicht schafft. Subversion durch Unvermögen. Sollbruchstellen im Imperium. Die Ausbreitung der Disposition zum herrlich unqualifizierten Anführertum geschieht durch Einnullung, durch psychotechnische Osmose. Die Multiplikation mit einer Null ergibt schließlich stets wieder null. Ganze Kulturen von Nebennieten lagerten sich so an die herausragenden Vertreter an, bildeten Höfe. Aus diesem Pool gingen dann neue Vorzeigeversager hervor. Moralisch sind Nullen unzuverlässig. Sie (und nur sie) können weitgehend unbemerkt ein positives oder negatives Vorzeichen tragen. Ihr Wert bleibt dabei gleich. Vom großen Verbrecher unterscheidet eine große Null hingegen vieles, fast alles. Daher sind hier nicht einfach die deutschen Weltenbrandentfacher aufgeführt. Man fände gar kein Ende. «Unmenschen» haben nur Einlass gefunden, wenn sie aus besonderer Tollpatschigkeit in dieser Rolle gelandet sind. Die versammelte Nieten-Exzellenz entstammt dabei allen gesellschaftlichen Bereichen. Wir beginnen mit Heinrich von Treitschke. Der an schwerer Preußeritis leidende Historiker mit Tendenz zur Wildsau legte das theoretische Fundament für das deutsche Zeitalter der Nullen, indem er eine Nationalgeschichte zurechtzwirbelte, die er am Ende selbst ad absurdum...


Oliver Jungen und Wiebke Porombka sind ständige Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und arbeiten als Kritiker u.a. für Deutschlandfunk, WDR, ZEIT Online und diverse Jurys. Sie haben Bücher veröffentlicht über Grammatiktheorie und Stil, Fankultur, Frankfurt am Main, Urbanität und Literatur der Weimarer Republik.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.