E-Book, Deutsch, 148 Seiten
Jung / Pohlmann-Rother Die Grundschule neu bestimmen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-037196-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine praktische Theorie
E-Book, Deutsch, 148 Seiten
ISBN: 978-3-17-037196-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Braucht die Grundschule eine theoretische Fundierung? Das scheint auf den ersten Blick etwas überambitioniert. Im Alltagsverständnis scheinen Zweck und Aufgabe der Institution Grundschule klar definiert. In der Realität sind allerdings ihr Profil und ihre Zuständigkeit zunehmend unschärfer geworden. Als erster Band der neuen Reihe "Grundschule heute" beschäftigt sich das Buch deshalb zunächst mit den Besonderheiten dieser Schule und der Frage, was diese Anfangsphase institutionalisierter Bildung überhaupt ausmacht. Von dort aus werden das Profil und die Identität der Disziplin (Grundschulpädagogik), der Institution Schule und schließlich der Profession (Lehrkräfte) näher bestimmt.
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Die Grundschule: Kernaufgaben, Spezifika, Leitvorstellungen
Bereits während der Gründungsphase der Grundschule nach dem ersten Weltkrieg wurden in der Weimarer Verfassung vom Juli 1919 und im Reichsgrundschulgesetz vom April 1920 zentrale Aufgaben und Charakteristika dieser damals innovativen Schulstufe formuliert, die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder aufgegriffen, modifiziert und erweitert wurden. Bei der Recherche nach konstitutiven, spezifischen und ausreichend trennscharfen Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmalen der Grundschule lassen sich daher sowohl im historischen Verlauf wie auch in der ganz aktuellen Diskussion zahlreiche tragfähige Ideen finden. Diese Ansätze sollen im Folgenden gebündelt und systematisiert werden. Natürlich müssen bei dieser relativ groben Einteilung in sechs unterschiedliche Grund- und Leitvorstellungen manche Details vernachlässigt werden; unberücksichtigt bleiben beispielsweise die primär politisch motivierten Leitvorstellungen von Bildung, die der Grund- bzw. der Volksschule in erster Linie eine Erziehung des Schülers und der Schülerin zum funktionierenden Mitglied in Volk und Staat zur Aufgabe machten, sei es zum Volksgenossen oder zur sozialistischen Persönlichkeit. Unter dieser vereinfachten Perspektive lassen sich sechs übergreifende und spezifische Grundvorstellungen identifizieren, die oft in einer signifikanten Metapher oder einem Sinnbild zusammengefasst werden. 2.1 Erstes Leitbild: Die Grundschule als verbindende Brücke oder Vermittlungsort
Bereits in der Weimarer Verfassung und im Reichsgrundschulgesetz werden als zentrale Aufgabe und innovative Besonderheit der Grundschule die gemeinsame Bildung aller Kinder benannt und in den folgenden Richtlinien von 1921 als grundlegende Bildung sowohl inhaltlich-material, aber auch in organisatorisch-methodischer Hinsicht konkreter gefasst. Grundlegende Bildung erscheint hier zum einen als eine Anknüpfung an die kindliche Heimat bzw. Lebenswelt, die kindgemäß, ganzheitlich und erlebnisbetont aufgriffen und geklärt werden soll, zum anderen als eine Vorbereitung auf die gegliederten Fächer der weiterführenden, also der mittleren und höheren Schulformen. Spezifikum der Grundschule wird damit ihre vermittelnde Stellung zwischen dem Kind und den in Fächern geordneten Inhalten. Diese Grundidee einer Verbindungs- oder Brücken- und Vermittlungsinstitution zwischen Kind und Sache wird in den Jahrzehnten nach der Installierung der Grundschule 1919/20 immer wieder aufgegriffen. Als einer der prominentesten Vertreter darf beispielsweise Wilhelm Flitner genannt werden, der in den 1960er Jahren die Grundschule ausdrücklich als Vermittlungsschule positionierte (vgl. Flitner 1966). Als relativ aktuellen, elaborierten und fundierten Entwurf kann in diesem Zusammenhang etwa auf Ludwig Duncker und Walter Popp (1994) hingewiesen werden, gerade weil sie die vor- und außerschulischen Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler ausdrücklich in den schulischen Kontext und Auftrag miteinbeziehen. »Was im Spiel oft selbstständig und ohne Anleitung erprobt wird, strukturiert sich allmählich zu Vorstellungen über die Wirklichkeit, in denen objektive Bezüge und subjektive Bedeutungen enthalten sind. Der Aufbau der Erfahrung, des Wissens und des Weltbildes muss analysiert und erkannt werden, wenn man ihn pädagogisch unterstützen und fördern will. In Schule und Unterricht werden solche Formen der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit auf eine methodisch-systematische Grundlage gestellt. Vor allem der Sachunterricht versucht, Brücken zu schlagen zwischen der spielerischen Beschäftigung der Kinder mit der näheren Umgebung und der Bewältigung einer komplexen Wirklichkeit, die nicht allein durch selbsttätiges Probieren verstanden werden kann.« (Duncker & Popp 2004, 7; Hervorh. i. O.) Bemerkenswert erscheint hier, dass sich als Aufgabe grundschulgemäßer Bildung weniger das Bereitstellen unbekannter Inhalte oder die Begegnung mit neuen Phänomenen ergibt, sondern eher das methodische und systematische Ordnen von Dingen, die sich bereits im Wahrnehmungshorizont der Kinder befanden oder gerade befinden können. Der Schwerpunkt liegt hier eher auf einem formalen als auf einem materialen Aspekt, also dem methodisch-systematischen Durchdringen von bereits Bekanntem. Gleichwohl besitzen die Inhalte natürlich ihre Bedeutung, weil die formal-methodische Brücke ja eine klärende Verbindung zu neuen Inhalten herzustellen vermag. Das von Duncker & Popp verwendete Bild einer Brücke illustriert diese Grundvorstellung denn auch denkbar anschaulich.7 Inzwischen wird diese Idee der Verbindung oder Vermittlung eher demokratisch umgedeutet, so dass die beschriebene Brücke als ein Ort der inhaltlichen und methodischen Aushandlungsprozesse zwischen den Generationen gesehen werden kann (vgl. Kiper 2013; Heinzel 2011). 2.2 Zweites Leitbild: Die Grundschule als Ort der Vorbereitung
Hellmich & Kiper dagegen distanzieren sich unter Verweis auf die neuere, tragende Konzeption der anschlussfähigen Bildung von den bekannten Ideen einer Vermittlungsschule, die ihnen als zu spielerisch und damit zu abgekoppelt von weiterführendem Lernen erscheint (vgl. Hellmich & Kiper 2006, 16). Sie positionieren sich damit eher in der Tradition des Strukturplanes von 1970, der eine klare Stufung des Bildungswesens vom Elementar- bis zum Sekundarbereich vorsah und in dem jede Stufe die Lernprozesse der folgenden Stufe vorzubereiten habe. »Wir stellen dar, dass der Elementarbereich und die Grundschule stärker als bisher, ausgehend vom Konzept ›anschlussfähige Bildung‹, Bildungs- und Lernprozesse anlegen muss, die ein erfolgreiches Weiterlernen in den sich anschließenden Einrichtungen ermöglichen.« (Hellmich & Kiper 2006, 9) Die paradigmatische Idee eines möglichst bruchlosen Anschlusses zu den weiterführenden Bildungseinrichtungen ist sicher ebenso bekannt wie einsichtig und stellt auf theoretischer Ebene eine sinnvolle Konsistenz und Unteilbarkeit von Bildung her. Allerdings wird damit jede Bildungsstufe gleichsam in den Dienst der darauffolgenden institutionellen Phase gestellt und verliert notwendigerweise ihren Eigenwert. Zudem trägt die Grundschule als ein Ort der Vorbereitung auf die folgenden Schularten prinzipiell zu dem geschlossenen Charakter des Subsystems Schule bei, indem es die manchmal hermetische und lebensferne Position dieser Institution möglicherweise verstärkt. Die Grundidee von Vorbereitung unterstellt daneben auch eine gewisse Gleichheit und Konstanz der Bildungsvorstellungen über die einzelnen Schulstufen hinweg. Die Leitvorstellung einer elementaren Allgemeinbildung, ob sie nun eher als Brücke zwischen spielerischem und schulischem Lernen, als Unter- oder Vorstufe explizit systematischen Unterrichtens oder als vorbereitendes Verbindungsglied hin zu weitgehend fachlich gedachter höherer Bildung gesehen wird, scheint also in vielen theoretischen und konzeptionellen Überlegungen zur Grundschule eine tragende Rolle zu spielen. Diese Idee findet sich auch in Günter Schorchs Studienbuch Grundschulpädagogik, worin er dankenswerterweise eine umfassende und systematische Bestimmung der grundschulspezifischen Fundamentalia unternimmt. Schorch identifiziert dabei die Grundschule erstens als grundlegende, zweitens als kindgemäße, drittens als erste und viertens als gemeinsame Schule. Mit diesen vier Bestimmungsmerkmalen lassen sich, folgt man Schorchs Argumentation, die Eigenart, Eigenständigkeit und Besonderheit der Grundschule über die bekannte Metapher der Brücke oder der Vorstufe hinaus zureichend beschreiben. 2.3 Drittes Leitbild: Die Grundschule als Ort erster Beschulung
Das Grundcharakteristikum erste Schule wirkt zunächst einmal ebenso einleuchtend wie offensichtlich, beinahe selbstverständlich. Allerdings erscheint dieses Merkmal, so zutreffend es zu sein scheint, aber doch letztlich willkürlich. Schließlich bedarf es eigentlich nur einer Gesetzesänderung, um dieses Alleinstellungsmerkmal auszuhebeln. Vielleicht genügt sogar ein einfacher Verwaltungsakt, um mit einem verpflichtenden Kindergartenbesuch oder einem Vorschuljahr für alle Fünfjährigen gleichsam eine neue erste Vorschulklasse zu schaffen. Diese würde dann, bei entsprechender curricularer Anbindung, gleichsam in die Rolle der ersten Schule schlüpfen und die bereits existierende Grundschule als obligatorische Erstinstitution ablösen. In diesem Zusammenhang wurde auf das Beispiel des Hessischen Bildungsplanes ja auch bereits hingewiesen. Aktuell kann dennoch konstatiert werden, dass die Grundschule gleichsam als Initialzündung für schulisches Lernen eine besonders herausgehobene Stellung einnimmt, als Inauguralinstitution in schulisches Lernen einführt und die bekannten...