E-Book, Deutsch, 141 Seiten
Jullien Denkzugänge
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-2095-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mögliche Wege des Geistes
E-Book, Deutsch, 141 Seiten
ISBN: 978-3-7518-2095-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was heißt es, einen Gedanken zu fassen, einen Gedanken zudem, der einem entfernten Denken entstammt? François Jullien erkundet die Wege ins Innere der chinesischen Geisteswelt und stellt die Frage nach der Möglichkeit, Zutritt zu ihr zu erlangen. Ihre Begriffe nachzuzeichnen, ihre Geschichte zu rekonstruieren genügt dafür nicht. Erst wenn wir unser Denken wirklich hinter uns lassen, können wir uns auf alternative Wege des Geistes begeben. Anhand der konzentrierten Lektüre des ersten Satzes der chinesischen Spruchsammlung »Yi-Jing« veranschaulicht Jullien, was es heißt, verschiedene Wege des Denkens zu beschreiten – einen Text von innen her zu lesen und sich ihm von außen, von der Bibel und griechischer Philosophie her zu nähern. Im Laufe der Lektüre richtet sich zwischen beiden Interpretationszugängen eine Schwelle auf, eine Schwelle jedoch, die uns einlädt, sie zu überschreiten und einzutreten.
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II
Das Anderswo Chinas
Wir müssen tatsächlich die Größenordnung dieses chinesischen Anderswo besser ausloten. (Das ist umso nötiger, als unter der Flagge der Globalisierung inzwischen überall Standardkategorien in Anschlag gebracht werden, die sämtliche Landschaften – auch die mentalen – mit ihren Stereotypen sättigen, wobei sie die Tendenz aufweisen, ihre Uniformität für Universalität auszugeben; die Tendenz also, dem, was nur eine Erleichterung der Produktion und ihrer medialen Vermarktung ist, den Anschein einer logischen, grundsätzlichen Legitimität zu geben, indem ihm ein Seinmüssen zugeschrieben wird.) Gelingt uns das nicht, wird ganz im Gegenteil das Besondere isoliert, eingepfercht, zum Klischee gemacht, wird Erhaltengebliebenes überhöht und in eine künstliche Folklore verwandelt: einen Köder für Touristen. Auch müssen wir heute – gegen Widerstände – eine Geographie dieses Anderswo und dieser möglichen Wege des Denkens erstellen. Was um Gottes Willen nicht heißt, in der Suche nach einer Pseudoidentität die Kulturen ängstlich auf sich selbst hin abzuschließen, sondern durchaus das Gegenteil: ihre Ressourcen für jedwede Intelligenz zu erforschen und sie zu erschließen. So wie ich »Intelligenz« verstehe, ist sie keine feststehende Fähigkeit mit erstarrten oder meinetwegen auch »transzendentalen« Kategorien, wie im klassischen Verständnis, sondern sie ist rege und entfaltet sich, schreitet voran im Zuge der durchlaufenen Intelligibilitäten. Und je weiter nun diese Intelligibilitäten voneinander entfernt sind, umso mehr geben sie einem zu entdecken und zu durchlaufen.
Beginnen wir auf besser markiertem Terrain. Was Indien betrifft, so haben uns die Arbeiten der vorherigen Generation (in Frankreich vor allem von Dumézil und Benveniste) gezeigt, wo die Gemeinsamkeiten mit uns Europäern liegen, im Hinblick auf semantische Elemente ebenso wie auf logische Bezüge, auf mentale Repräsentationen ebenso wie auf soziale Funktionen. Man darf ebenfalls annehmen, dass sich zu Zeiten des klassischen Altertums das Denken beiderseits des Indus durch Kontiguität gegenseitig beeinflusst hat, zum Beispiel von den Gymnosophisten auf Plotin. Mit dem Islam, dessen Sprache einer anderen Familie angehört, teilen wir – noch immer das europäische, genauer genommen das christliche »Wir« – die Religion des Buches, die biblische Abstammung, die Idee eines Schöpfergottes: Spirituell verbindet uns das Absolute einer uns durch eine Offenbarung überlieferten Botschaft; und außerdem haben sich die Geschichten Europas und des Islams unaufhörlich vermischt. Aristoteles ist uns durch die Araber überliefert; Thomas von Aquin lässt sich von Averroes inspirieren; der islamische Monotheismus baut auf seinen Vorgängern auf. Und selbst die Figur des europäischen Intellektuellen geht in ihren ersten Grundzügen auf das maurische Andalusien zurück. Doch wie hat man jenseits dieses Horizontes gedacht? Sollte man in diesem »Anderswo« – denn ein Anderswo ist es – anders gedacht haben?
Als Entweder-Oder läuft die Frage in aller Grobheit auf Folgendes hinaus: Sind die verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt nicht ebenso gut auch unendlich abgewandelte Antworten auf die gleichen Fragen, die wir uns stellen – die wir uns unmöglich nicht stellen können? In diesem Fall beliefe sich ihr Inventar auf eine breitgefächerte Palette. Oder aber können wir nur in jenen von uns zwischen den Kulturen zutage gebrachten Abständen entdecken, was es mit dem »Menschlichen« auf sich hat? Besser gesagt, können wir nur entdecken, worum es dabei »geht«, wovon es »ausgeht«, indem wir es (in dem Bewusstsein, dass es sich dann in ebenjenen mannigfachen Gegenüberstellungen befindet) geduldig Zug um Zug identifizieren? Mit dem Bild des Gehens soll dabei der offene, fortschreitende, nicht definitive Charakter dieses Entdeckens bewahrt werden. Ohne weitere Aufstellung von Vorabdefinitionen, vor allem keiner des »Men- schen«, die immer ideologisch ist – was augenscheinlich an die Universalität der Fragen selbst rührt.
Lässt sich Kants Kurzformel – »Was kann ich wissen?« / »Was soll ich tun?« / »Was darf ich hoffen?« – so umstandslos exportieren? Lassen sich denn diese Fragen, die die allerabstraktesten sein und alles Hypothetische so gut wie möglich in ihrem Dreieck fassen wollen, deshalb schon von ihren semantischen Faltungen loslösen? Und lassen sie sich folglich von den vorgefassten theoretischen Annahmen isolieren, von denen sie aufgeworfen wurden? Tatsächlich können wir nicht einmal sicher sein, dass »wissen« (oder »erkennen«) und »tun« (oder »handeln«), Schlüsselbegriffe unserer klassischen Philosophie, sich a priori in anderen Sprachen wiederfinden, und man kann sich vorstellen, dass dies beim eschatologischen »hoffen« noch um vieles fraglicher ist … Bleiben diese drei Selbstbefragungen nicht in einer impliziten Voraussetzung stecken, der sie nicht auf den Grund gehen, solange sie keinen (äußeren) Anhaltspunkt haben, um sie zu reflektieren? Führt uns folglich dieses Verschiedenartige – aus dem Verschiedenartigen der Kulturen – nicht auf unsere eigenen Fragen zurück und zwingt uns, sie zu überarbeiten? Was China betrifft, frage ich mich sogar: Ist es überhaupt notwendig, dass wir mittels Fragen denken? Heißt Denken immer, ein Rätsel zu beantworten, die Sphinx zu befragen, den Abgrund auszuloten, wie es im Abendland seit den Griechen mit großer Leidenschaft gewollt wurde?
Es stimmt allerdings, dass eine Disziplin geboren wurde, als sich der Okzident in seiner Rolle als Erforscher des Anderswo und Kolonisator der Ressourcen der Verschiedenartigkeit über die Kulturen der ganzen Welt kundig gemacht hat – die »Anthropologie«. Doch hat man sie nicht zu voreilig und zu sehr zu ihrem Vorteil so benannt? Hält sie denn ihre Versprechen? Und warum überhaupt hat die Philosophie aus jenem Anderswo, das sie uns entdeckt, so wenig Nutzen gezogen? Im Gegensatz zur Kunst beispielsweise, die sich von ihm inspirieren ließ. Wieso hat sich die Philosophie ihrerseits so wenig an ihm erneuert? Oder nur an ihren Rändern: schon bei Montaigne (doch ist Montaigne »Philosoph«?). Das heißt, warum behalten wir für diese Untersuchung über die kulturelle Diversität jenen beschränkten, ausschnitthaften Modus bei, ohne mit ihr unser Universelles zu erneuern? Ohne aus ihr den Schlüssel zu dem zu machen, was »Humanität« ist – oder vielmehr sein kann?
Fortan wird es unmöglich sein, weiter mit Hegel bis zum Überdruss zu wiederholen, dass die Philosophie zuerst im Orient zum Vorschein gekommen sei (»Orient« in einem weitgefassten Sinn: oriens, der Osten (auch der Ferne Osten), dort wo die Sonne aufgeht, der Tag anbricht), doch durch eine seltsam hinausgezögerte Geburt erst in Griechenland die Bühne betrat, mit der Entdeckung des philosophischen Begriffs und seiner Operativität, die das Allgemeine mit dem Einzelnen verband; oder mit Husserl, dass zwar alle Kulturen gleichermaßen anthropologische »Variationen«, also prinzipiell gleichgestellt seien, doch nur eine, die europäische, das heikle Schicksal einer Selbstzuwendung und Selbstreflexion erfahren habe; oder mit Merleau-Ponty, dass der in der »Kindheit« der Philosophie verbliebene Orient mit derselben nur eine »indirekte« Beziehung unterhalten könne (obwohl wir nur zu gut wissen, wie viel wir von den Kindern zu lernen haben!). Nein, wir werden nicht mehr von einer Geophilosophie ausgehen können, wie es sogar Deleuze noch getan hat, das heißt, für das außereuropäische Denken an einem Stadium des »Vorphilosophischen« festzuhalten, da es nicht die Immanenzebene erreiche, usw. Wenn wir es aber weiter so halten, dann urteilen wir über dieses Denken immer nur nach unseren Erwartungen, oder sagen wir eher, nach unseren implizit gebliebenen Vor-Erwartungen, die unseren »Vor-Urteilen« lange vorausgehen und die als solche zunächst einmal aufzuspüren wären, was Descartes nicht bedacht hatte; und brauen uns bei der Kontaktaufnahme mit diesen »Anderen« noch immer nur Klischees und Etiketten zusammen, ohne in die bei ihnen wirkenden Zusammenhänge einzudringen und ohne unsere vorgefassten Annahmen zu hinterfragen – welche denn? Folglich auch ohne ausgehend von ihnen unser eigenes Ungedachtes zu ergründen: Eingelassen auf diese Gedanken von draußen haben wir uns noch immer nicht.
Die Philosophen unter meinen Freunden entgegnen mir für gewöhnlich Folgendes: Seit es ihre philosophischen Schulen gibt, haben die Griechen die möglichen Wege des Denkens entfaltet, indem sie systematisch seine Widersprüche herausgearbeitet haben. So Heraklit gegenüber Parmenides, oder Epikur gegen Platon (oder der Materialismus gegenüber dem Idealismus usw.). Konnte man seine Optionen denn radikaler wählen, und stecken diese Gegensätze nicht das gesamte Feld des Denkbaren ab? Das heißt, kühn gesprochen, gehen sie und die Ausübung der Vernunft selbst nicht fließend ineinander über? Ja, antworte ich darauf, die Griechen haben wohl alle Möglichkeiten erfasst, doch sind diese auf gewisse Weise konfiguriert, bereits vor-gefaltet aufgrund gewisser getroffener Entscheidungen, die sie nicht bedachten, an denen sie nicht zweifelten, die sie nicht vermuteten, über die sie nicht erstaunt waren – die zu bedenken sie nicht bedachten. Es stimmt, dass man ohne Falte nicht denkt. Man denkt nur angelehnt an Ungedachtes. Die von den Griechen bevorzugten Grundachsen...




