E-Book, Deutsch, Band 7, 354 Seiten
Reihe: Lektionen
Joss / Lehmann Theater der Dinge
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95749-107-7
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Puppen-, Figuren- und Objekttheater
E-Book, Deutsch, Band 7, 354 Seiten
Reihe: Lektionen
ISBN: 978-3-95749-107-7
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Lektionen 7 Theater der Dinge" gibt einen umfassenden Überblick über die Ausbildung für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater. In einer historischen Einführung wird gezeigt, wie in der Geschichte des Theaters vom Ritual bis in die Gegenwart das "Ding auf der Bühne" zum Protagonisten wurde. Im zweiten Teil werden die Grundlagen der Ausbildung beschrieben – vom Animieren, Sprechen, Spielen, Bauen und Führen bis hin zum Netzwerken für einen gelingenden Einstieg in den Beruf. Ein Serviceteil mit den Ausbildungsstätten für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater schließt den Band ab.
Ein unentbehrliches Handbuch für alle, die mehr darüber wissen wollen, wie die Dinge Theater spielen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Theater der Dinge von Markus Joss und Jörg LehmannSeite 9
Die Puppe, die Figur – Das Ding. Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart des Puppen- und Figurentheaters von Silvia BrendenalSeite 13
I. Theater Dinge – Eine Geschichte
Magie, Rituale, Masken – Das Theater der Dinge im antiken Griechenland
von Jörg Lehmann Seite 20
Quelle 1: Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken von Sigmund Freud Seite 25
Quelle 2: Die Masken der Tragödie von Richard Weihe Seite 30
Quelle 3: Kultischer und nichtkultischer Gebrauch von Masken und Figuren
von Ernst-Frieder Kratochwil Seite 36
Fliegende Engel und bucklige Dämonen von Markus Joss und Florian FeiselSeite 45
Quelle 4: Kasper – Spaßmacher mit Migrationshintergrund
Bemerkungen zur Geschichte einer verkannten Figur, die eigentlich keine ist
von Anke Meyer Seite 53
Quelle 5: Puppentheater im Mittelalter – Neue Sichtweisen von Kamil KopaniaSeite 62
Quelle 6: Rekonstruktion der tramezzo-Bühne von Abraham von Souzdal Seite 69
Die Menschen werden mechanisch von Markus Joss Seite 73
Quelle 7: Das Theater als neue Welt von Florian Nelle Seite 78
Quelle 8: Das große Buch des menschlichen Körpers – Zur Sozialgeschichte der Anatomie 1500 – 1800 von Robert Jütte Seite 84
Quelle 9: Imitation des Lebens – was die Schildkröte uns lehrt von Wenzel Mracek Seite 88
Literarisierung und Entzauberung: Und in Leipzig wird eine (keine) Puppe verbrannt von Jörg Lehmann Seite 94
Quelle 10: Der unzeitgemäße Narr von Enno Podehl Seite 101
Quell 11: Die europäische Aufklärung von Gotthard Feustel Seite 111
Quelle 12: Johann Georg Geisselbrecht – Ein verkanntes Puppenspiel-Genie der Goethe-Zeit von Lars Rebehn Seite 120
Gott oder Gliedermann. Die Puppe tanzt – und wird zur Metapher von Jörg Lehmann Seite 128
Quelle 13: Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist Seite 133
Quelle 14: Kleist: Über das Metamorphosen-Theater von Lars Rebehn Seite 138
Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk – und der Zweifel an der Sprache
von Jörg LehmannSeite 142
Quelle 15: Androidentheater (Ein paar Überlegungen I: Das Theater) von Maurice Maeterlinck Seite 152
Quelle 16: Über Schauspieler und Sänger von Richard Wagner Seite 157
Quelle 17: Aus einem Brief an Paul Brann, undat. [zwischen Mai und Juli 1906]
von Richard Teschner Seite 160
Neue Körper auf die Bühne – Das Theater der historischen Avantgarden
von Markus Joss Seite 162
Quelle 18: Der Fall Jarry von Guido Hiß Seite 169
Quelle 19: Der Schauspieler und die Über-Marionette von Edward Gordon Craig Seite 174
Quelle 20: Mensch und Kunstfigur von Oskar Schlemmer Seite 179
Quelle 21: Das Wachsfigurenkabinett. Abendmahl von Oskar Panizza Seite 187
Gegenwart I – Das Material, das Ereignis, die Naht von Markus Joss Seite 191
Quelle 22: Die Realität des niedrigsten Ranges von Tadeusz Kantor Seite 198
Quelle 23: Körper-Störung. Mediale Thesen zum Puppentheater von Meike Wagner Seite 201
Quelle 24: Wir werden euch verzaubern – Versprengte Thesen, warum wir die Zukunft sind von Tim Sandweg Seite 206
Gegenwart II – Die Literatur, die Puppe, das Zeigen von Jörg Lehmann Seite 213
Quelle 25: Telefonat zwischen K.H. und M.H. – Aufgezeichnet am 4.9.1988, 23.10 Uhr von Knut Hirche und Marlies Hirche Seite 223
Quelle 26: Im Theater der Dinge von Holger Teschke Seite 229
II. Grundlagen der Ausbildung
Methoden: Der lange Weg zur Ausbildung Puppenspielkunst unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungszone und der entstehenden DDR
von Hartmut Lorenz Seite 236 ...
MAGIE, RITUALE, MASKEN – DAS THEATER DER DINGE IM ANTIKEN GRIECHENLAND
„Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort ‚Kunst‘ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘, mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“ Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Das Theater im antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. steht zweifellos am Beginn einer beschreibbaren Theatergeschichte Europas. Allerdings ist schon solch ein rasch hingeschriebener Satz eine tollkühne Behauptung, berührt die Aussage in diesem Satz doch die zentrale Frage nach den Ursprüngen von Theater und die noch schwieriger zu beantwortende Frage: Was ist eigentlich Theater? Ab welcher Erscheinung eines Spiels, einer Darstellung sprechen wir heute eigentlich von „Theater“? In der attischen Polis werden vor rund 2500 Jahren die seit Urzeiten vorhandenen und praktizierten theatralen Handlungen von Menschen zum ersten Mal belegbar und nachhaltig institutionell gerahmt; das Theater beginnt, sich aus dem rein kultisch-religiösen Bereich und dessen Zweckgebundenheit zu lösen. Ob man allerdings geneigt ist, an diesem Punkt der Entwicklung schon in den aufklärerischen Optimismus Bertolt Brechts einzustimmen, der hier den Sprung aus dem kultischen Bereich heraus in ein Theater vollzogen sieht, dessen Ziel er fortan als Unterhaltung definiert, soll an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden. Einerseits führen die klare Trennung zwischen Spielenden und Zuschauer, die staatliche Organisation der Aufführungen, die Arbeitsteilung der künstlerisch Produzierenden und der Festcharakter in der Summe mit einiger Sicherheit zu einer neuen Stufe kultureller Kommunikation, zu Theater in seiner institutionalisierten Variante. Öffentlich, zentral und inmitten der Polis werden Fragen gestellt und behandelt, welche die Polis, ihre Verfasstheit und das Leben ihrer Bewohner direkt betreffen. Um es mit dem Romantiker Novalis zu sagen: „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst.“ Auf der anderen Seite kann die religiös-kultische Anbindung und Einbindung der Aufführungen attischer Tragödien nicht übersehen werden. Von der Opferung zu Beginn der Feste, der zentralen Rolle des die Götter anrufenden Chores bis zu den verhandelten Stoffen: Das alles nimmt sich als eindeutiger Referenzpunkt in den Aufführungen aus. Aber, und das interessiert uns hier, welche Rolle spielen die Dinge in diesem Transfer aus dem kultischen Denken? Lange vor diesem ersten Aufscheinen einer theatralen Hochkultur im 5. Jahrhundert v. Chr., von deren Setzungen und Maximen das Theater bis in unsere Gegenwart zehrt, in deren dramatischen Texten wir uns immer noch glauben gespiegelt zu sehen, finden wir bereits Formen theatraler Handlungen der Menschen, die z. B. die attische Tragödie aufnimmt, nutzt, und: auch bändigt. Und wir finden irritierende Gemeinsamkeiten – und wieder die Spur dessen, was wir hier das Theater der Dinge nennen. Die bei vielen „Naturvölkern“ nachweisbaren Rituale der Opferung etwa haben einen klaren (rituellen) Ablauf, in dem Requisiten, Kostüme und Masken verwendet werden. Gegenstände können beschworen, an Gegenständen können Handlungen vorgenommen werden, die einem Toten oder nicht anwesenden Menschen, Geist, Gott gelten. Ein Ding kann für etwas anderes stehen – das theatrale Prinzip des als ob wird hier bereits sichtbar. Die Ahnen werden durch Dinge personifiziert oder durch deren besondere Behandlung stellvertretend zu Bindegliedern zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit oder Zukunft erfahren. Verwandlung, Ekstase, Rauschzustände werden angestrebt und genutzt, um in existenziellen Situationen Auskunft zu erhalten über den Willen der Götter, den Zeitpunkt der Ernte oder das Ende der Trockenzeit. Kern dieser Vorstellungen oder die Bedingung für dieses Denksystem ist der Animismus, der Glaube an die Beseeltheit auch der Dingwelt. Wie sonst sollte man etwa an einer Puppe aus Stroh eine Handlung ausführen können, die einem dadurch fortan aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Straftäter gilt? Zum Vorstellungs- und Denksystem des Animismus gibt ein Auszug aus Totem und Tabu von Sigmund Freud Auskunft. (Quelle 1) Diese beiden Axiome – die religiöse Referenz und die die theatrale Kommunikation erst konstituierende Rolle von Dingen (die Maske) – gehen in die Erscheinung der attischen Tragödie ein. Ersteres manifestiert sich in der Gebundenheit der Aufführungen an den Mythos, Letzteres durch das Bindeglied der Maske. Diese konstituiert die griechische Aufführungspraxis in einer Form von Theater, welche zwar mit Menschen über den Menschen reflektiert (Novalis), aber die Götter zum Bezugspunkt hat – und diese sind nur mit Masken darstellbar, welche Richard Weihe beschreibt. (Quelle 2) Der zentrale Ort, die Keimzelle des Theaters, der kreisrunde Platz der Orchestra, wird auch von den Mitgliedern des Chores nur maskiert singend, tanzend (und betend!) betreten, zentrales Requisit und Referenzpunkt der Handlung ist häufig ein Altar. Dies alles generiert eine Form der Darstellung, die keine Form von Realismus anstrebt, die deutlich auf etwas anderes, nicht in der Realität Vorhandenes verweist. „Zeus, wer immer du auch bist …“, heißt es uns fast ironisch anmutend im berühmten ersten Standlied des Chors in der Orestie des Aischylos. Das Spiel vergegenwärtigt etwas außerhalb Stehendes – und stellt dabei konsequenterweise nicht den Menschen als Spieler in den Mittelpunkt. Das Theater in antiker Zeit verfremdet diesen Menschen und sein Tun mittels Masken, in späterer Zeit auch durch Kothurne (Schaftstiefel mit erhöhten Sohlen), durch das Metrum der verwendeten Sprache, durch Tanz und Gesang. Die großen Masken, in späterer Zeit noch kunstvoll ausgeschmückt, führen zu grotesken Verzerrungen des Spiels, die Gewänder haben weite, die Gesten optisch vergrößernde Ärmel. Aber auch in den Satyrspielen zeigen sich Überhöhungen des menschlichen Körpers; im derben, auch obszönen Spiel des Mimus etwa ist der allgegenwärtige aufgerichtete und grotesk vergrößerte Phallus zentrales Objekt und Zeichen. Dieses Spiel ist mit unserem gegenwärtigen Begriff des Schauspielens nur unzureichend zu fassen, der Mensch verkörpert nicht den Gott, er zeigt ihn, er verweist auf ihn. Ernst-Frieder Kratochwil spricht daher folgerichtig von Solisten, nicht von Schauspielern. (Quelle 3) Die Maske selbst scheint somit das Bindeglied zwischen einer animistisch konnotierten Kulthandlung und dem theatralen Spiel zu sein. Das Theater als Anlage selbst befindet sich im kultischen Bereich Athens, am Südhang der Akropolis. Die Aufführungen finden im Rahmen von Festen statt, die Dionysos, dem Maskengott, gewidmet sind. Der Kult dieses Halbgottes mit den ihn im Zustand der Ekstase umtanzenden Frauen, ein Kult der Verwandlung, des Rausches und der Ekstase, findet Eingang ins antike Theater, umgeformt und: gebändigt. Interessant für uns ist es – wenn wir das attische Theater als Wiege der europäischen Theaterentwicklung ansehen – auf Spielweisen des heutigen Theaters zu schauen: mit seiner Forderung nach einer vermeintlichen Authentizität der Darstellung, mit seiner Fokussierung allein auf den Menschen, der, der Maske, des Textes und jeglicher Verfremdung, ja der Kunstfigur entkleidet, auf sich und seine Körperlichkeit zurückgeworfen, nur noch als Experte seiner selbst auftritt. Ein anderer Berührungspunkt des Theaters der Griechen zu heutigen Formen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters findet sich in einer Spezifik der Spielweise: Das attische Theater, das für seine Szenen noch keine Innenräume kennt, nutzt – vor allem bei der Darstellung von Extremsituationen des menschlichen Lebens und Leidens – das Prinzip des Zeigens durch Verbergen und ist damit dem heutigen Theater...