Josipovici | Unendlichkeit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Josipovici Unendlichkeit

Die Geschichte eines Augenblicks
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99027-122-3
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Geschichte eines Augenblicks

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-99027-122-3
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dies ist ein ebenso komisches wie in Wahrheit tiefernstes Buch über einen großen Komponisten des letzten Jahrhunderts.Gabriel Josipovici hat ein überaus komisches Buch geschrieben, das das Leben durchschaut, um ins Herz aller Kunst zu zielen. Und zu treffen.»Ich hatte Glück, Massimo, sagte er zu mir, dass das einzige, wofür ich mich wirklich interessiert habe, die Frauen und die Musik waren. Indem die Frauen dich verletzen, bereichern sie dein Leben. Selbst meine Frau hat mein Leben bereichert.« Jener Massimo, der hier erzählt, von gelegentlichen Fragen unterbrochen oder ermuntert, war der Butler seines verstorbenen Herrn. Und dieser Herr, Tancredo Pavone, wird uns als einer der großen italienischen Komponisten des 20. Jahrhunderts vorgestellt (und der Kenner wird sein zusätzliches Vergnügen daran haben, hinter diesem Namen einen anderen zu ahnen). Ungewöhnlich in seinen Auffassungen, nicht zuletzt von Musik, war er so ungewöhnlich, wie einer sein muss, der in sich Unerhörtes hört und das zum Klingen bringen will.Der Butler, der seinem Herrn so nah wie fern war, hat nicht vergessen, was er gesehen und gehört hat, und so kann er von der großartigen Arroganz, der Eigensinnigkeit und Lebensneugier Pavones berichten, die aus diesem Nachkommen eines sizilianischen Adelsgeschlechts einen großen Klangerfinder gemacht haben.

1940 als Kind russisch-italienischer und rumänisch-levantinischer Eltern in Nizza geboren, wuchs in Kairo auf, studierte in England und lehrte an der School of European Studies der Universität Sussex. Er lebt als freier Schriftsteller in Lewes, England. Zuletzt auf Deutsch: Unendlichkeit (2012).
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Als erstes fragte ich ihn, wie es dazu gekommen war, dass er für Mr. Pavone arbeitete.

Ich habe erfahren, dass er jemanden suchte, sagte er.

Wie haben Sie das erfahren?

So etwas erfährt man eben.

Standen Sie vorher schon einmal in Diensten?

Ehrlich gesagt, mein Herr, hatte ich keine Arbeit. Ich war eine Zeitlang für meinen Schwager tätig, dann aber nicht mehr. Ich stellte –

Und warum nicht mehr?

So etwas kommt vor, mein Herr.

Natürlich. Was machten Sie für Ihren Schwager?

Sie baten mich, über Mr. Pavone zu sprechen.

Natürlich. Bitte fahren Sie fort.

Ich stellte mich Mr. Pavone vor, aber er sagte mir, dass die Stelle bereits vergeben sei. Er notierte sich dennoch meine Telefonnummer, und einige Tage später rief er an und bat mich, zu ihm kommen.

Und da bot er Ihnen die Stelle an?

Ja, mein Herr.

Welchen Eindruck machte Mr. Pavone auf Sie?

In welcher Hinsicht?

Wie wirkte er auf Sie?

Auf mich wirken?

Als Sie ihn zum ersten Mal trafen, ja.

Wissen Sie, mein Herr, Mr. Pavone gehörte zu einer ganz anderen Kategorie als die Herren, die Ihnen vielleicht geläufig sind. In erster Linie war er Sizilianer, verstehen Sie? Und sizilianische Signori, sizilianische Adlige, Mr. Pavone war nämlich ein Adliger, wissen Sie, mein Herr, der Abkömmling einer sehr adligen Familie, sizilianische Adlige sind ein ganz eigener Menschenschlag. Und darüber hinaus war er Künstler. Sie wissen, dass Künstler von Gott berufen sind, und dass sie, wenn ich so sagen darf, genauso seine Diener sind wie der Papst höchstpersönlich. Aber vor allem war er er selbst.

Was meinen Sie damit, er war er selbst?

Er war er selbst. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.

Aber ist nicht jeder von uns er selbst?

Nein, mein Herr, wenn ich so sagen darf, mein Herr. Nicht auf diese Weise.

Auf welche Weise?

Er war einzigartig.

In welcher Weise war er einzigartig?

In jeder Weise.

Können Sie mir ein Beispiel geben?

Er war es in jeder Weise. Ich habe niemals, in meinem ganzen Leben habe ich niemals einen Herrn wie ihn getroffen, und, wie Sie sehen, bin ich nicht mehr jung.

War es seine Erscheinung, die ungewöhnlich war, oder war es etwas anderes?

Nicht ungewöhnlich, mein Herr. Nein. Nicht ungewöhnlich.

Aber Sie sagten einzigartig.

Einzigartig, aber nicht ungewöhnlich.

Erklären Sie mir, was Sie damit meinen.

Sie hätten ihn kennen müssen, mein Herr, um es zu verstehen.

Aber ich habe ihn nicht gekannt. Deshalb frage ich Sie.

Ja, mein Herr.

Fahren Sie fort.

Wie möchten Sie, dass ich fortfahre?

Fahren Sie einfach fort. Beschreiben Sie ihn.

Er war sehr großgewachsen und dünn, zumindest machte er den Eindruck, sehr großgewachsen zu sein, obwohl er, ehrlich gesagt, nicht mehr als mittelgroß war, vielleicht sogar ein wenig kleiner, mit einer Adlernase und, zu jener Zeit, als ich anfing, bei ihm zu arbeiten, schwarzem Haar, so schwarz, dass es fast blau war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ein Schwarz, das in gewissem Licht auch blau sein konnte.

Fahren Sie fort. Hören Sie nicht auf. Fahren Sie fort.

Wir Italiener haben alle schwarzes Haar, natürlich mit Ausnahme derer, die blond sind, aber Sizilianer haben schwärzeres Haar als die meisten, wenn Sie wissen, was ich meine.

Ja, ich verstehe. Also, fahren Sie fort.

Ja, mein Herr. Er kleidete sich immer sehr erlesen. Er hatte über hundert Anzüge in seinen Schränken. Es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie vor Motten geschützt waren und dass sie sauber und frisch blieben, weil er zu jeder Tages- und Nachtzeit – manchmal arbeitete er nämlich die Nacht hindurch, und manchmal brachte er die Nacht damit zu, durch die Straßen Roms zu spazieren – beschließen konnte, einen von ihnen anzuziehen. Es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er sie jederzeit anziehen konnte, ich musste darauf achten, dass der Anzug, hatte er ihn einmal getragen, gereinigt und gebügelt war, bevor er in den Schrank zurückgehängt wurde, für den Fall, dass er ihn bald wieder herausnehmen wollte. Und mit seinen Hemden war es das gleiche. Er erzählte mir, dass er, als er in den dreißiger Jahren in Wien lebte und Komposition bei Scheler studierte, seine Anzüge zum Reinigen immer nach London schickte, und auch seine Hemden, um sie waschen und bügeln zu lassen. Nur London, sagte er, bietet die für das Reinigen und Bügeln erforderlichen Standards, nur die englische Oberklasse weiß, was es bedeutet, einen fachgerecht gebügelten Anzug zu haben. Natürlich, sagte er, ist das nicht mehr der Fall. Heutzutage sind die Mitglieder der englischen Oberklasse auf der Flucht, sagte er, sie werden einer nach dem anderen davongejagt. In England wurde die Jagd auf wildlebende Tiere nach und nach abgeschafft, sagte er, aber die Jagd auf die englische Aristokratie wird mit immer größerer Grausamkeit betrieben. Die Engländer waren einmal das zivilisierteste Volk der Welt, sagte er, aber jetzt sind sie eines der barbarischsten. Die Franzosen sind das einzig verbliebene zivilisierte Volk, sagte er. Sie widerstehen der Barbarei Amerikas, der Barbarei der Neuen Welt, aber sie werden nicht ewig widerstehen können. Bald schon wird niemand mehr wissen, was das Wort Zivilisation bedeutet. Wir müssen uns von der Welt abwenden, wie die weisen Hindus das schon immer wussten, sagte er, weil die Welt niemals unserer Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte, entsprechen wird. Wir müssen jeden Tag üben, sagte er, jeden Tag, Massimo, um unser Verlangen, die Welt zu einem besseren und zivilisierteren Ort zu machen, zu eliminieren, wir müssen lernen zu akzeptieren, dass sie immer nur ein schlechterer und ein unzivilisierterer Ort sein wird. Bald schon, sagte er, wird sogar die Erinnerung an vergangene Zivilisationen verschwunden sein, nicht in deinem Leben, Massimo, sagte er, und bestimmt nicht in meinem, aber sehr bald, sehr bald. Wir haben das Ende der neolithischen Periode erreicht, Massimo, sagte er. Erst jetzt haben wir das Ende des Neolithikums erreicht. Deine Kinder, Massimo, sagte er, werden nicht mehr wissen, dass die Milch von Kühen produziert wird, sie werden nicht einmal mehr wissen, was eine Kuh ist. Sie werden nur noch wissen, was ein Supermarkt ist, weil das der Ort ist, wo sie die Milch kaufen können. Wir treten also in eine neue Ära ein, sagte er. Nach dem Ende des Neolithikums haben wir die Ära des Synthetischen erreicht. Niemand wird mehr wissen, was ein Stein ist, niemand wird wissen, was ein Baum ist, niemand wird wissen, was eine Blume ist, niemand wird wissen, was die mathematische Formel für die Unendlichkeit ist. Aber warum sollten wir uns darüber Gedanken machen? Meine Aufgabe ist es, zu komponieren, und deine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass meine Hemden und meine Anzüge den höchsten noch geltenden Standards gemäß gereinigt und gebügelt werden. Ich sage nicht den höchsten Standards gemäß, sagte er, sondern den höchsten noch geltenden Standards gemäß. Verstehst du den Unterschied, Massimo? fragte er mich. Wenn du den Unterschied nämlich nicht verstehst, hat es gar keinen Sinn, dass ich dich anstelle.

Und, haben Sie den Unterschied verstanden?

Ich sagte ihm, dass ich, obwohl ich den Unterschied nicht verstanden hätte, sicher sei, dass es mir mit der Zeit gelingen würde.

Und, war er mit Ihrer Antwort zufrieden?

Das ist alles, was ich erwarten kann, sagte er. Das ist alles, was ich erwarten kann. Sie müssen wissen, mein Herr, dass Mr. Pavone, obwohl er heftig und herrisch erscheinen konnte, ein warmherziger Mensch war. Mir war das sofort klar. Und das ist der Grund, warum ich ihm so geantwortet habe. Ich verstehe nicht wirklich den Unterschied, sagte ich, aber ich bin sicher, dass ich mit der Zeit den Unterschied herausfinden werde, wenn ich bei Ihnen angestellt bleibe. Das ist alles, was ich als Antwort von dir erwarten kann, sagte er, und er zeigte mir die Schränke mit seinen Anzügen und mit seinen Schuhen und mit seinen Krawatten, er hatte tausende von Krawatten, zehntausende vielleicht. Annamaria wird dir sagen, wohin du sie zum Reinigen bringen sollst, sagte er. Früher einmal schickte ich sie zum Reinigen nach England, aber was sollte das heutzutage für einen Sinn haben? Sie würden dort so schlecht wie überall sonst gereinigt werden, es lohnt sich daher gar nicht, sie ins Ausland zu schicken. Genauso gut kann man sie hier in Rom außer Haus geben, sagte er, wo man sie im Auge behalten und sicherstellen kann, dass sie so gereinigt werden, wie man es sich erwartet. Was die Schuhe betrifft, sagte er, waren wir Italiener immer die Besten. Die Schuhmacher in Florenz sind im Design und der Herstellung von...


Josipovici, Gabriel
1940 als Kind russisch-italienischer und rumänisch-levantinischer Eltern in Nizza geboren, wuchs in Kairo auf, studierte in England und lehrte an der School of European Studies der Universität Sussex. Er lebt als freier Schriftsteller in Lewes, England. Zuletzt auf Deutsch: Unendlichkeit (2012).

Gabriel Josipovici geboren 1940 in Nizza als Kind russisch-italienischer und rumänisch-levantinischer Eltern.Er ging in Kairo zur Schule, studierte danach in England und lehrte an der School of European Studies der Universität Sussex. Er lebt als freier Schriftsteller in Lewes, England. Zuletzt erschien: »Moo Pak«, 2010.Der Übersetzer, Markus Hinterhäuser, geboren 1958 in La Spezia, ist Pianist und war von 2007 bis 2011 Konzertchef der Salzburger Festspiele, die er 2011 auch geleitet hat. Ab 2014 leitet er die Wiener Festwochen.



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