Joseph | Das verbotene Glück der anderen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 375 Seiten

Joseph Das verbotene Glück der anderen

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-406-65423-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 375 Seiten

ISBN: 978-3-406-65423-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der siebzehnjährige Unni Chacko hat etwas Schreckliches getan. Drei Jahre nach seinem Selbstmord erhält sein Vater, der Journalist Ousep Chacko, mit der Post ein Päckchen mit einem Comic seines künstlerisch hochbegabten Sohnes Unni - ein Irrläufer, der Ousep erneut auf die Suche nach den Gründen für den Tod seines Sohnes schickt. Er befragt seine ehemaligen Freunde, besucht Treffen der Comic-Zeichner, belästigt einen berühmten Neuropsychiater, entdeckt das ungewöhnliche Leben seines Sohnes und dringt zugleich immer tiefer in die Geheimnisse der eigenen Familie ein. Der Roman, der in den 1990er Jahren in Madras spielt, klug, scharfsinnig, komisch und sehr anrührend, erzählt vom Leben einer schwer gebeutelten Familie, von Wahrheitssuche und Liebe, spannend und herzzerreißend.

Joseph Das verbotene Glück der anderen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1
Die Underdogfamilie
Laut Mariamma Chacko gehört Ousep Chacko zu der Sorte Mann, die man töten muss, wenn die Geschichte zu Ende ist. Er weiß aber, dass sie sich dessen nicht immer ganz sicher ist. Vor allem morgens, wenn er am Schreibtisch sitzt, einen hohen Stapel Cartoons vor sich, die er genau studiert, um das einzige Rätsel zu lösen, das ihr am Herzen liegt. Zwar hat er nicht danach verlangt, doch sie bringt ihm trotzdem einen Becher Kaffee und stellt ihn etwas heftig auf den hölzernen Schreibtisch, um ihn an sein schändliches Benehmen in der vergangenen Nacht zu erinnern. Sie reißt die Fenster auf, leert seinen Aschenbecher und ordnet die Zeitungen auf dem Tisch. Wenn er dann endlich zur Arbeit aufbricht, wortlos die Wohnung verlässt und die Treppe hinuntergeht, steht sie an der Tür und blickt ihm nach. Unten läuft Ousep mit kurzen, schnellen Schritten über die Spielwiese zum Tor – über harte braune Erde, auf der vereinzelt ein paar Grashalme wachsen. Er sieht die anderen Männer, allesamt gute Ehemänner und gute Väter, mit geputzten schwarzen Schuhen und korrekten Hemden, die ihnen wegen der hohen Luftfeuchtigkeit bereits am Leib kleben. Alle halten ihre Helme in den Händen und tragen darin ihre unerhört kleinen, vegetarischen Lunchportionen zum Vespastand. Immer mehr Männer kommen aus den tunnelähnlichen Korridoren, die zu den Treppenaufgängen des Wohnblocks A führen, einem kargen, weißen, dreistöckigen Gebäude. Ihre ordentlichen, vielversprechenden Gattinnen erscheinen jetzt in weißen Baumwollsaris auf den Balkonen und winken zum Abschied. Sie murmeln Gebete, lächeln den anderen Frauen zu und spähen mit einem Auge in die eigenen Sariblusen. Die Männer grüßen Ousep nie. Sie wenden sich ab oder interessieren sich plötzlich für den Erdboden oder putzen ihre Brillen. Doch für ihresgleichen hegen sie große Zuneigung. Es sind Gleichgesinnte, die durch bloßes Räuspern miteinander kommunizieren können. «Gorbatschow», sagt ein feingliedriger Mann. «Gorbatschow», erwidert der andere. Mit dieser erschöpfenden Analyse des Hindu-Leitartikels über Michail Gorbatschows Wahl zum Präsidenten der Sowjetunion gehen sie zu ihren Vespas. Vespafahren in Madras bedeutet, dass ein Mann verspricht, abends nicht betrunken nach Hause zu kommen. Echte Nachrichtenreporter wie Ousep Chacko betrachten es als Beleidigung, wenn man sie auf einer Vespa sieht, doch die Männer, die hier wohnen, sind fast alle Bankbeamten. Die Hände am Lenker stehen sie träge da und treten dann vehement den Kickstarter, als wollten sie den Motor aus dem Schlaf schrecken. Immer wieder treten sie das Pedal, manche springen geradezu in die Luft. Bis die Motoren endlich aufheulen und sie hintereinander zum Tor hinausfahren, wobei sie auf der Vorderkante der Sitzbank sitzen, als sei das preiswerter. Um sechs Uhr abends kehren sie auf demselben Weg zurück, mit Jasminblüten als Mitbringsel für ihre Frauen, die sie sich ins frisch gewaschene Haar stecken, sodass aphrodisischer Duft ihr Heim erfüllt und den Seelenfrieden ihrer bei ihnen wohnenden Schwiegerväter stört, alles alte Männer, die so ausgehungert nach Fleisch sind, dass sie Kinder und ausgewachsene Männer begrapschen und sich beim Damentennis im Fernsehen heimlich auf die Schenkel schlagen. An der Ausfahrt steht ein vorsichtig salutierender, dünner Wachmann in einer grotesken paramilitärischen Uniform, die sich im Wind bläht. Sein Widersacher Ousep nickt ihm zu, ohne ihn anzublicken – was ihm immer Respekt verschafft. Ousep dreht sich kurz nach den Frauen auf den Balkonen um, die alle so tun, als würden sie ihn nicht beachten. Auf seinem Balkon im dritten Stock steht niemand. Wenn er die Straße entlangläuft, ist er direkt im Blickfeld aller Balkone der vier identischen Häuser in der Balaji Lane, und alle Hausfrauen und reglosen Gespenster betrachten ihn mit sperrangelweit geöffneten Mündern. Morgens geht Ousep schnell und hält dabei den kleinen Finger ausgestreckt, als wolle er ein Signal empfangen. Durch die anderen Tore kommen noch mehr Vespas. Manche Fahrer starren ihn an, als sei der Blickkontakt mit ihm jetzt, da sie Helme tragen, weniger gefährlich – was in gewissem Sinne stimmt. Frauen verschwinden von den Balkonen und mümmeln ihre Gebete zu Ende, andere tauchen auf und widmen sich allen möglichen Dingen. Sobald sie ihn sehen, bleibt ihr Blick an ihm hängen, und sie fällen ein kurzes Urteil. Wenn man es recht bedenkt und sich die Vergangenheit vor Augen führt und Ouseps Eigenarten, dann ist es nur recht und billig, dass die Leute ihn anstarren, doch er hasst es zutiefst. Wenn sie wüssten, dass Ousep Chacko in Wirklichkeit nicht auffallen will und unter fremden Blicken leidet, fänden sie das vermutlich urkomisch. Doch es ist der Schüchternen Los, dass sich alle ihre Befürchtungen für gewöhnlich bewahrheiten. So, wie die Dinge stehen, fällt man in dieser geteerten Gasse leicht auf. Den ganzen Tag wartet diese Gasse darauf, sich vom leisesten Hauch von Fremdheit erschrecken zu lassen. Beispielsweise von einer verirrten Arbeiterin in einer subversiven, ärmellosen Saribluse, die hier dasselbe Ansehen genießt wie eine geschiedene Frau. Oder von einem Mann mit Pferdeschwanz oder einem nordindischen Mädchen in Jeans, die so eng sind, dass man das Tageslicht zwischen ihren Beinen sieht. Fast ist es, als seien solche Erscheinungen Anzeichen dafür, dass die Zukunft, die anderswo schon begonnen hat, sich jetzt in dieser Stadt umsieht. Eine Ära kämpft ihr letztes Gefecht, und nur noch dieses eine Mal lässt sich eine Straße in Madras korrekt porträtieren: Die Männer sind Filialleiter, die Mütter Hausfrauen. Alle Büstenhalter sind weiß, und angloindische Mädchen in geblümten Kleidern heißen Maria. Jahre später würden die Bewohner der Balaji Lane diese Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis kramen und sich leise lachend an die katholische Familie aus Kerala entsinnen, die Kuckucke unter den Krähen: an den abscheulichen Mann namens Ousep Chacko, an seine hilflose Frau, deren berechtigter Groll sich gegen die nackten Wände richtete, und an ihren Sohn Thoma, der schlecht in Mathe war. Was war aus ihnen geworden? Hatten sie dieses lange Leben rein zeitlich gesehen überdauert, es durchgestanden? Und natürlich würden sie sich an Unni erinnern. Unni Chacko würden sie nie vergessen. «Kannst du dich noch an Unni entsinnen?», würden sie sagen. «Hat man je herausgefunden, warum er es getan hat? Warum hat Unni Chacko so was getan?» Niemand erwähnte jemals, was er eigentlich getan hatte. Das Wort ist in allen Sprachen einfach zu fürchterlich. So früh am Morgen möchte Ousep noch nicht an seinen Jungen denken – zumindest das erste Interview möchte er hinter sich haben. Wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließe, würde er in die üblichen Fallen treten und sich dieselben entnervenden Fragen stellen, die er sich schon tausend Mal gestellt hatte. Er möchte an etwas anderes denken, an etwas Belangloses. Doch schon baut sich Unni Chackos Bild in Ouseps Kopf auf, Unnis Selbstporträt starrt seinen Vater an: ein Junge mit durchdringendem Blick und schmalen Augen, einer breiten Stirn und dichtem Wuschelhaar. Ein siebzehnjähriger Cartoonkünstler, außergewöhnlich talentiert, aber zu jung, um zu verstehen, dass sich hinter einer subtilen Art nicht immer nur Mittelmaß verbirgt. Wie die meisten Cartoonisten redet der Junge nicht viel, und das wenige, was er sagt, ist nicht besonders witzig. Meistens ist er entsetzlich einsilbig, selbst wenn er mit seiner Mutter spricht, die er aus übertriebenen Gründen liebt – die einzige Art, auf die Söhne ihre Mütter lieben können. All dies sieht Ousep, der sonst sehr wenig über seinen Sohn weiß. Das zu akzeptieren, ist keine Schande. Ganz gleich, welchen Illusionen sich Eltern hingeben, ihre Kinder kennen sie eigentlich nicht. Ousep ist einfach ein Vater, der seinen Sohn noch weniger kennt als andere Väter. Aber er hat jeden Zentimeter von Unnis dreiundsechzig Cartoons und Comics studiert, die in der Wohnung herumliegen, die meisten in einer Holztruhe. Wenn man einen unerklärlichen Comic dazuzählt, der zufällig in seine Hände geriet und den er vor Mariamma versteckt hält, dann sind es insgesamt vierundsechzig. Diesen Comic vor ihr zu verbergen, ist nicht ganz einfach. Er hat ihn im Radio versteckt, das er nun jedes Mal aufschrauben muss, wenn er ihn ansehen will. Irgendwo in Unnis Cartoons und Comics muss der Schlüssel verborgen liegen, des Rätsels Lösung, glaubt Ousep. Viel mehr an Glauben bleibt ihm nicht. Unnis Werk besteht vor allem aus Comics, die ein paar Seiten lang sind, elaborierte Schwarz-Weiß-Skizzen mit einem gelegentlichen Wasserfarbtupfer. Thematisch bilden sie keine Einheit, und düstere Superheldengeschichten, die man vielleicht vermutet hätte, fehlen ganz. Doch aus irgendeinem Grund wird in unverhältnismäßig vielen seiner Comics über die Suche nach dem Sinn des Lebens gespottet. Im Comic mit dem Titel ‹Die absolute Wahrheit› schwebt ein weißer Briefumschlag durch die Tiefen des Alls, umkreist fremde Welten und steuert schließlich in Richtung...


Manu Joseph, geboren 1974 in Kottayam, lebt in Delhi und ist Herausgeber des 'Open Magazine'. Er war u.a. Redakteur bei 'The Times of India', veröffentlichte 2010 den Roman 'Serious Men', der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, auch auf Deutsch erschien und für den er 2010 den Hindu Literary Prize erhielt.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.