E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Jonsberg Das ist kein Spiel
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20276-7
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-20276-7
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jamie ist 16 Jahre alt und ein Mathe-Genie. Verblüffend logisch und ehrlich ist sein Blick auf seine eigene Familie - und darauf, dass da etwas schief läuft. Zum Beispiel bei Summerlee, seiner rebellischen älteren Schwester. Als die an ihrem 18. Geburtstag mehrere Millionen im Lotto gewinnt, sagt sie sich endgültig von der Familie los - und provoziert eine Kettenreaktion von Unheil. Jamies kleine Schwester Phoebe wird entführt und der Kidnapper verlangt zwei Millionen. Ausschließlich mit Jamie will er darüber verhandeln. Warum? Wieso weiß der Täter so viel über Jamie? Und weshalb fühlt sich das Ganze wie ein einziges Duell an, bei dem Jamies Kombinationsgabe auf eine tödliche Probe gestellt wird?
Barry Jonsberg ist einer der renommiertesten australischen Kinder- und Jugendbuchautoren. Er studierte Englisch und Psychologie und arbeitete als Lehrer, bevor er freiberuflicher Schriftsteller wurde. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Children's Peace Literature Award für 'Das Blubbern von Glück', und sind außer in Australien und Deutschland in den USA, England, Frankreich, Polen, China, Ungarn und Brasilien erschienen. Barry Jonsberg lebt mit seiner Frau, seinen Kindern und zwei Hunden in Darwin, Australien.
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KAPITEL 1
»Erzähl’s mir noch mal.«
»Ich hab’s dir schon zehn Millionen Mal erzählt.«
»Zehn Millionen und sechzig Mal.«
»Weshalb willst du es dann noch einmal hören?«
»Damit zehn Millionen und einundsechzig Mal draus werden.«
»Das ist kein Grund.«
»Ist es wohl.«
»Nein.
»Doch.«
Phoebe trug den Pyjama, den ich ihr vor knapp zwei Jahren zu ihrem sechsten Geburtstag gekauft hatte. Er war über und über mit mathematischen Gleichungen bedruckt. E = mc2. Die Drake-Gleichung. Ich hatte mich sogar zu einer Fourier-Reihe verstiegen: . Und zu quadratischen Gleichungen: . Von den meisten hatte sie keine Ahnung. Sie ist noch sieben, okay? Aber sie liebte sie. Ich hatte einen einfarbigen Schlafanzug gekauft und war damit in einen Shop gegangen, der Firmenlogos auf Arbeitskleidung druckt. Jede Gleichung wurde in einer anderen Farbe gedruckt. Das Ganze hatte ein Vermögen gekostet, aber das war mir egal.
Danach weigerte Phoebe sich, zum Schlafen irgendetwas anderes zu tragen. Mom musste den Anzug tagsüber waschen und trocknen, damit sie ihn abends wieder anziehen konnte. Inzwischen war Phoebe gewachsen, und der Stoff war eingegangen, sodass die Ärmel bis knapp über die Ellenbogen reichten und die Hosenbeine die Waden nur noch halb bedeckten. Sie sah aus, als ob sie mit einer Überschwemmung rechnen würde. Einige Gleichungen waren verblasst, und das Gewebe war voller kleiner Knötchen, aber auch das machte ihr nichts aus. Phoebe interessierte sich nicht für Mathematik. Sie interessierte sich für Geschichten. Und sie interessierte sich für mich, ihren Bruder, und deshalb liebte sie den Schlafanzug.
Jetzt kniete sie auf dem Bett, den mageren Hintern auf den Knöcheln, und hüpfte auf und ab.
Ich liebte es, wenn sie das tat. »Es gibt da diese wunderschöne Prinzessin und sie heißt Phoebe.«
»Warum ist sie wunderschön?«
»Weil sie langes, glattes Haar hat, das ihren ganzen Rücken bedeckt.«
»Nur den Rücken, nicht den Kopf.« Es machte ihr Spaß, die Pointe vorwegzunehmen.
»Erzähle ich die Geschichte oder du, Prinzessin?«
»Du.«
»Darauf kannst du deinen mageren Hintern verwetten.«
»Dann mach weiter.«
»Sie ist so umwerfend schön, so wunderwunderhübsch, so oh-mein-Gott-das-hält-man-ja-im-Kopf-nicht-aus-fantastisch, dass Prinzen aus nah und fern kommen und um ihre Hand anhalten.«
»Das muss aber eine tolle Hand sein.«
»Es ist eine sagenhaft tolle Hand, doch sie wollen auch die übrigen Teile von ihr.«
»Aber hauptsächlich die Hand.«
»So ist es.« Ich hätte sie zu gern gekitzelt, bis sie sich zu einer Kugel zusammengerollt und um Gnade gefleht hätte, aber das konnte ich erst, wenn ich die Geschichte zu Ende erzählt hatte. Phoebe stellte Ansprüche und es galten feste Regeln. Kitzeln kam später. Ich nahm den Lotussitz ein und stützte das Kinn auf meine verschränkten Finger. »Die Zahl der Prinzen, die um ihre Hand anhalten dürfen, wird auf drei beschränkt. Sie heißen …«
»Luke, Alex und Corey.«
Phoebe änderte die Namen nach Lust und Laune. Corey war immer dabei, weil er ihr bester Freund aus der dritten Klasse war – ein merkwürdig aussehender Junge mit dünnem Haar und einer großen Nase; aber über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Luke tauchte gelegentlich auf, aber Alex war mir neu. Er musste in letzter Zeit in der Schule gemein zu Phoebe gewesen sein.
Ich speicherte die Information. »Sie beschließen, gegeneinander zu kämpfen. Der Sieger gewinnt Phoebes Hand.«
»Und ihre übrigen Teile.«
»So ist es. Sie wählen also ihre Waffen …«
»Ratten.«
»Was?«
»Ratten.«
Phoebe veränderte auch die Waffenart, wenn ihr danach war. Wir hatten schon Gewehre, Pfeil und Bogen, sogar Taschen voller Sprengstoff. Aber Ratten waren neu. Zu ihrem achten Geburtstag in zwei Monaten wünschte sie sich ein Haustier und verfolgte die Idee ein wenig penetrant. Mom fand sie nicht so gut, aus dem verständlichen Grund, weil sie das Haus nicht mit einem Nager teilen wollte, dessen Vorstellung von Sozialkompetenz sich darauf beschränkte, in einem Rad herumzulaufen und dabei ganz gewaltig zu scheißen. Phoebe hielt diese Einstellung für Blödsinn und machte ihren Standpunkt mehr als deutlich.
Ich ließ mich darauf ein. »Ninjaratten. Wenn man sie nach jemandem wirft, hängen sie sich an die Halsschlagader der Zielperson und beißen sie tot. Jetzt ist es aber so, dass Luke ein Profi-Ninjarattenwerfer ist. Er verfehlt sein Ziel nie. Wenn er eine Ratte drei Mal wirft, trifft er drei Mal. Alex ist auch nicht schlecht. Er trifft …«
»Zwei von drei Malen.«
»Genau. Aber der arme Corey. Also, er ist kein Held im Rattenwerfen. Bei drei Versuchen trifft er nur ein einziges Mal. Die Prinzen stehen also mit ihren Ratten in der Hand an den Ecken eines imaginären gleichschenkligen Dreiecks. Das bedeutet, dass alle drei denselben Abstand zueinander haben. Wir wollen ja fair bleiben. Und dann sagt Prinzessin Phoebe …«
»Die wunderwunderschöne Prinzessin Phoebe.«
»Die über alle Maßen wunderwunderschöne Prinzessin Phoebe sagt: ›Damit es wirklich fair zugeht, müssen die Freier ihre Ratten nacheinander werfen, bis nur noch einer steht. Aber sie müssen nacheinander werfen. Und außerdem ist es nur fair, wenn der schlechteste Ninjarattenwerfer anfangen darf.‹«
»Das ist richtig fair.«
»So ist es. Corey fängt also an, dann kommt Alex und dann Luke. Wenn noch zwei stehen, machen sie in dieser Reihenfolge weiter, bis nur noch ein Prinz übrig bleibt, der um Prinzessin Phoebes Hand anhalten kann. Und um ihre übrigen Teile.«
»Auf wen sollte Corey als Ersten zielen?«
»Das, meine liebe Schwester, ist die Frage.«
Phoebe hüpfte auf ihrem Bett auf und ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Das war so süß, dass ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich tat weder das eine noch das andere, sondern schaute ihr fest in die Augen.
Sie runzelte die Stirn vor lauter Konzentration. »Bei seinem ersten Versuch sollte er auf Luke zielen, weil Luke nie sein Ziel verfehlt. Wenn er ihn also loswerden könnte, wäre das genial und seine beste Chance, um die Hand der wunderhübschen Prinzessin Phoebe anzuhalten.«
Phoebe wusste die richtige Antwort, weil wir das Spiel schon eine Million und sechzig Mal durchgespielt hatten, dennoch musste es jedes Mal gleich ablaufen.
»Falsch, Dumpfbacke«, sagte ich. »Spektakulär falsch. Coreys Chancen stehen drei zu eins, dass er Luke tötet. Selbst wenn er super viel Glück hätte, bleibt Alex als nächster Werfer, und der hat nur noch Corey als Zielscheibe. Und das wiederum bedeutet, die Chancen stehen zwei zu drei, dass Corey hinüber ist.«
»Ich weiß, ich weiß!« Sie hüpfte wieder auf ihrem Bett auf und ab. »Er sollte auf Alex zielen.«
»Noch falscher, Dumpfbacke«, erwiderte ich. »Megaspektakulär falsch. Wenn er richtig viel Glück hat, ist Alex tot. Bleibt noch Luke und der verfehlt sein Ziel nie. In diesem Fall ist Corey definitiv hinüber.«
»Das ist doof.«
»Du bist doof.«
»Bin ich nicht.«
»Bist du wohl.«
»Sag mir’s.«
»Ich hab dir’s doch gerade gesagt. Du bist doof.«
»Nein. Sag mir die Antwort.«
»Okay.« Ich tat, als wolle ich mich anders hinsetzen. Doch dann packte ich sie unter den Achseln und warf sie auf den Rücken. Sie kreischte und versuchte nach mir zu treten, aber ich war zu schnell. Ich warf mich auf sie, meine Knie in den Innenseiten ihrer Ellenbogen und mein Hintern auf ihren dürren Beinen, sodass sie keine Chance hatte, sich zu befreien. Ich senkte den Kopf und mein Pony kitzelte sie im Gesicht. Sie warf ihren Kopf hin und her, lachte dabei aber so fürchterlich, dass ihr Rotz aus der Nase lief.
»Igitt, wie eklig«, sagte ich. »Du bist so was von eklig. Du bist eine eklige, doofe Dumpfbacke.«
Sie schrie jetzt vor Lachen, versuchte aber gleichzeitig zu reden. Es kam ein ersticktes Kreischen heraus. »Aber … ich bin trotzdem … wunderschön.«
»Zugegeben«, sagte ich, »eine wunderschöne, eklige, doofe Dumpfbackenprinzessin. Hör zu, Tropfnase. Das nennt sich Spieltheorie, was bedeutet, dass du dir nicht nur überlegst, was du tun willst, sondern auch, was die anderen tun werden. Das ist Sinn und Zweck des Ganzen. Wenn Alex als Erster drankäme, auf wen würde er zielen?«
»Auf Luke.«
»Korrekt. Denn wenn er es nicht...