Johnson Der Kuss des Katharers
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95890-070-7
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 387 Seiten
ISBN: 978-3-95890-070-7
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Als Lia Carrer eineinhalb Jahre nach dem Unfalltod ihres geliebten Mannes auch noch ihren Job an der Universität in Seattle verliert, kehrt sie Amerika endgültig den Rücken. Sie zieht nach Südfrankreich
zurück, wo sie früher ihre Ferien bei den Großeltern verbrachte. Im ruhig gelegenen Landhaus ihrer besten Freunde will sie ihr Leben neu ordnen und ihre Forschungsarbeiten über die Katharer wieder aufnehmen. Noch in der Nacht ihrer Ankunft, als sie erschöpft von der Reise am Fenster steht, erscheint das Gesicht eines Mannes in der Dunkelheit – eine Vision, die ihr jedoch nur wenige Tage später leibhaftig gegenüber tritt! Der geheimnisvolle Raoul, von dem sie sich bald magisch angezogen fühlt, hat ein ebenso großes Interesse an den sagenumwobenen Katharern wie sie. Bald muss Lia erfahren, dass ihre Recherchen über einen Mordfall aus dem 13. Jahrhundert, der zur Vernichtung der Katharer führte, sie und ihre neue Liebe in Gefahr bringen, und die Geister der Vergangenheit lebendiger sind, als sie es sich je träumen ließ"
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INTERNATIONAL AIRPORT CHARLES DE GAULLE AUSSERHALB VON PARIS – LETZTE WINTERSONNENWENDE
Achtzehn Monate nach dem Tod ihres Mannes kehrte Lia Carrer ins Languedoc zurück, wie ein Schatten auf der Suche nach Licht. Vom gläsernen Innenhof des Terminals sah die graue Wolkendecke über Paris anders aus als der Himmel über Seattle, wo sie hergekommen war. Aber die Stadt der Lichter war nicht ihr Endziel. Der Hochgeschwindigkeitszug TGV fuhr direkt von Charles de Gaulle und brachte sie in weniger als fünf Stunden nach Narbonne im Süden. Im TGV sank Lia auf ihren Fensterplatz. In ihrem Kopf hallten noch Flugzeugmotoren und Lautsprecher, aber die Geräusche der Zugfahrt – die Türen, die sich mit pneumatischem Zischen öffneten und schlossen, der Luftdruck beim Vorbeifahren entgegenkommender Züge – waren sichere Anzeichen dafür, dass ihre Reise bald vorüber war. Sie befand sich wieder auf festem Boden. Schläfrig blickte Lia aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Als die winterbraunen Täler langsam den Felsen und Abhängen des Zentralmassivs wichen, stieg Vorfreude in ihr auf. Auf der anderen Seite dieses riesigen Gebiets voller erloschener Vulkane und Felsplateaus lag die Provence und die wilde, einsame Schönheit ihres geliebten Languedoc. Sie dachte an die Sommerhitze in den Tälern der Pyrenäen und an die wilden Winterstürme entlang der Mittelmeerküste. Es war der 21. Dezember, die letzte der dunkelsten Nächte. Lia hatte zwar nicht absichtlich diesen Tag gewählt, um in Frankreich einzutreffen, aber jetzt kam er ihr vor wie ein gutes Omen. Sie hatte die Wintersonnenwende, wenn die Erde ihr blasses Gesicht der Sonne zuwandte, immer als Zeit der Wiedergeburt empfunden. Vielleicht war diese Reise ihre Wiedergeburt. Zumindest ging es vorwärts. Aus der goldenen Dämmerung war tiefblauer Nachthimmel geworden, als sie am Bahnhof in Narbonne ihren Mietwagen abholte. Die letzten Kilometer bis nach Minerve fuhr sie über eine leere Landstraße, durch dunkle Täler, in denen an Kreuzpunkten römischer Straßen mittelalterliche Ruinen standen. Die Geräuschkulisse einer Sendung auf Europe 1 und die gelegentliche Erinnerung der körperlosen Stimme aus dem GPS leisteten ihr Gesellschaft. Lia hielt vor Le Pèlerin, einem Steinhaus am Ortsrand, hoch über dem Fluss Cesse. Hier war ihre Reise zu Ende. Vor drei Jahren hatten ihre liebsten Freunde Rose und Domènec Hivert eine verfallene Ruine in Minerve gekauft, fünfundzwanzig Kilometer nördlich von ihrem Hof in Ferrals-les-Corbières. Sie benannten sie nach den Wanderfalken, die es im ganzen Languedoc gab, Le Pèlerin, und verwandelten das Objekt in eine gîte – ein Feriendomizil, das man mieten konnte –, um ihr Einkommen als Bauern und Winzer ein wenig aufzubessern. Pèlerin bedeutete jedoch auch Pilger. Als Lia anrief und eine Zuflucht suchte, bot Rose ihr das Cottage an, bis sie sich ihre nächsten Schritte überlegt hatte. In der Diele ließ sie ihre Reisetaschen fallen und schlüpfte aus ihren Schuhen. »Ich bin da!«, verkündete sie dem dunklen, stillen Haus. »Der Pilger auf der Suche nach einem Heim.« Le Pèlerin wirkte auf sie wie ein Nest in einer Baumhöhle – geschützt und ruhig. Eine Lampe auf einem schmalen Tisch neben der Tür warf einen schwachen Lichtschein auf den Gang zwischen Küche und Diele. Lia war nicht im Le Pèlerin, seit Rose und Dom den Umbau beendet hatten, und was sie jetzt sah, ließ sie vor Freude schnurren. Der Eingangsbereich trennte Küche und Esszimmer vom gemütlichen Vorderzimmer. Die niedrigen Decken wurden von Holzbalken gehalten, und Teppiche in tiefem Rot und Blau lagen auf dem Boden aus gebeizten, glänzend polierten Kieferndielen. Lia ging durchs Vorderzimmer und fuhr mit den Händen über den rauen Putz an der Wand. An kalten Tagen hielt er die Räume warm, doch in den heißen Sommern im Languedoc würde das Haus kühl und frisch sein. Am anderen Ende des Zimmers war Holz im Kamin aus Flusssteinen aufgestapelt. Sie brauchte nur noch ein Streichholz entzünden, um ein loderndes Feuer zu entfachen. Domènec hatte ihr am Tag zuvor gemailt und versichert, dass Marie-Françoise, eine Haushälterin aus dem Ort, vor Lias Ankunft den Thermostat hochdrehen würde. Und tatsächlich wärmte der Steinboden in der Küche ihr die Füße. Ihre Freunde feierten verfrüht Weihnachten mit Domènecs Eltern in Perpignan. Sie würden erst in drei Tagen zurückkommen. Bis dahin war Lia allein. Sie zitterte vor Erschöpfung. Da sie es nicht mehr schaffte, ihre Koffer nach oben zu schleppen, ließ sie sie am Fuß der Treppe zurück und packte lediglich frische Wäsche und bequeme Kleidung aus sowie Shampoo und Duschgel. Die Wanne mit den Klauenfüßen war so breit und tief, dass ohne Weiteres zwei Personen gemeinsam hineingepasst hätten. Total unpraktisch, Wasserverschwendung, und der wunderbarste Anblick, den Lia sich in diesem Moment vorstellen konnte. Die Wanne stand an einem tiefen, breiten Fenster, durch das sie den zunehmenden Mond sehen konnte. Sie drehte das heiße Wasser voll auf und ließ gleichzeitig kaltes Wasser hinzulaufen; der Wasserdruck war hier so schwach, dass sie genügend Zeit haben würde, bis die Wanne vollgelaufen war. Sie zog sich aus und tappte auf bloßen Füßen in die Küche. Nach sechsunddreißig Stunden in denselben Kleidern strich die kühle Luft wie ein erfrischender Kuss über ihre Haut. Ein Dreiviertelmond schien durch das Fenster des lang gezogenen Raums und lockte sie zum langen Tisch, der vor der verglasten Wand stand. Lia fühlte sich fast schwerelos vor Müdigkeit und hatte das Gefühl, sie würde gleich durch die Fenster auf die Terrasse und in die Schlucht der Cesse schweben. Aber ihr bleiches Spiegelbild wurde durch das Glas aufgehalten. Dort, wo früher einmal Rundungen gewesen waren, standen ihr jetzt die Knochen hervor. Unter ihrem Rippenbogen, auf ihren hohlen Wangen und um ihre tief liegenden Augen lagen Schatten. Sie berührte ihren Bauch und die scharfe Kante der Hüfte und legte die Hand auf ihre Rippen. Der Kummer hatte die üppigen Rundungen ihrer Brüste und die Wölbung ihres Bauches, den Gabriel so gerne gestreichelt hatte, verschwinden lassen. Sie hatte schon lange nicht mehr ihr Spiegelbild betrachtet. Im Yogastudio wandte sie den Blick von den deckenhohen Spiegeln, und wenn sie sich im Badezimmer neben ihrem Büro die Hände wusch, blickte sie ins Waschbecken. Sie hatte hart daran gearbeitet, sich aufzulösen, ein Geist zu werden. Als sie jetzt ihren weiß schimmernden Körper in der Glasscheibe betrachtete, sah Lia, wie gerade sie sich hielt, als ob es ihr Herz vor Schmerz schützen würde, wenn sie ihre Muskeln stählte. Seit anderthalb Jahren hatte sie keinen Appetit mehr. Seit anderthalb Jahren tat sie alles nur mechanisch. Sie trieb durch ein Leben, in dem es kein Geländer mehr gab, woran sie sich festhalten konnte. Die Mattigkeit hatte begonnen an einem warmen Tag im Oktober, an dem der Himmel über Seattle blau war wie in der Toskana und der Duft nach getrockneten Rosen die Luft erfüllte. Der Dekan der historischen Fakultät an der Cascade University, wo sie als wissenschaftliche Hilfskraft europäische und mittelalterliche Geschichte unterrichtete, hatte sie in sein Büro gerufen, die Tür geschlossen und ihr mitgeteilt, die Fakultät würde ihren Vertrag nach dem Herbstquartal nicht mehr verlängern. Ihre letzten Studentenbewertungen waren schlecht gewesen, und sie hatte auch in den Komitees der Abteilung nicht mehr mitgearbeitet. Früher hatte der Dekan noch angedeutet, sie könne eine befristete wissenschaftliche Stelle bekommen, wenn sie ihre Dissertation im nächsten Jahr fertigstellen und verteidigen würde. Aber nach Gabriels Tod ruhte die Datei mit ihrer Doktorarbeit über die Rolle von Reinkarnation und Leben nach dem Tod in der katharischen Theologie ungeöffnet in ihrem Rechner. Also musste jemand anderer eine Entscheidung über ihr Leben treffen, damit Lia endlich wieder ein paar Schritte weitergehen konnte. Mit einem Fluch wich sie von der Scheibe zurück, als es direkt hinter dem Fenster weiß aufblitzte. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie das Gesicht eines Mannes. Das Mondlicht enthüllte dunkle Augen und scharfe Wangenknochen. Über die linke Seite seines Gesichts zog sich ein schwarzer Striemen. Lia warf die Hände hoch und schlug gegen die Scheibe. Wie ein Stromstoß löschte das Adrenalin all ihre Erschöpfung aus. Ein Schrei zerriss die Luft, und das Gesicht draußen vor dem Fenster wirkte auf einmal nicht mehr menschlich. In der Krone einer Schirmpinie, die am Felsen wuchs, saß ein Raubvogel. Der Wind plusterte die Federn an seinem Unterbauch auf. Sie schimmerten weiß im Mondlicht. Sein brauner Kopf neigte sich und seine bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf Lias nackte Gestalt. Sie schloss die Flügeltüren auf und trat auf die Terrasse am Haus. Vor zwei Jahren, bei einer Vogelschau im Château Peyrepertuse, hatte sie einen Bonelli-Adler gesehen. Früher einmal hatte er den Himmel über dem Languedoc beherrscht, aber jetzt war er in Frankreich nahezu ausgestorben. Einen solchen Adler in freier Natur zu sehen, war unglaublich. Tränen traten Lia in die Augen, als ihr klar wurde, was für ein Geschenk dieser majestätische Vogel ihr gemacht hatte. »Was hat dich hierher gebracht?«, flüsterte sie in Richtung des Adlers, der sie von seinem Ast aus beobachtete. Er veränderte seine Position und zeigte Lia das Profil seines Kopfes mit dem gebogenen Schnabel. Dann breitete er die Flügel aus und Lia keuchte auf, als sie die mächtigen gefiederten Schwingen sah, die von Spitze zu Spitze gut zwei Meter maßen. Er schwang sich vom Baum, und sie spürte das Rauschen seiner Flügel mehr,...