E-Book, Deutsch, 140 Seiten
Jöhnck Entwicklungsförderung im Unterricht
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-045090-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Didaktische Grundlagen und Praxisbeispiele im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-17-045090-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Johannes Jöhnck ist Lehrer für sonderpädagogische Förderung und Fachleiter für die Fachrichtung Geistige Entwicklung.
Autoren/Hrsg.
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1 Einleitung
1.1 Zur Notwendigkeit eines dualen, d.?h. fach- und entwicklungsbezogenen Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
»Competency in and across developmental domains is vital for a child to be successful both academically and in life« (Purcell/Taber Doughty 2018, S. 220, in Bezug auf ›Students With Intellectual Disability‹).
»Von besonderer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Schwerpunkt geistige Entwicklung sind Angebote, die dazu beitragen, kognitive, kommunikative, emotionale, soziale und motorische Fähigkeiten zu stärken. Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit, sich und die Umwelt wahrnehmen zu können« (KMK 2021, S. 6).
Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen Kognition, Kommunikation, emotionale und soziale Entwicklung, Motorik und Wahrnehmung sind mit Blick auf ›Students With Intellectual Disability‹ nicht nur international seit langem ein zentrales Thema (siehe das vorangestellte Zitat aus Purcell/Taber Doughty 2018 sowie Gargiulo/Bouck 2018). Schon seit den Anfängen spielten diese Kompetenzen – insbesondere in ihrer (variierenden) Gewichtung gegenüber fachbezogenen Kompetenzen, bspw. ›Fähigkeiten im Rechnen‹ (vgl. Fuchs 1917; n. Mühl 1983, S. 9, sowie Speck 2018, S. 28) – auch in der deutschsprachigen Geistigbehindertenpädagogik ihre Rolle (vgl. Lindmeier/Lindmeier 2019). In einem der Klassiker der Disziplin, dem Buch »Handlungsbezogener Unterricht mit Geistigbehinderten« (Mühl 1983), kommen entsprechende entwicklungsbezogene Ziele bspw. in Gestalt eines Unterrichtsbeispiels im »weiten Bereich der Sozialerziehung« (ebd., S. 162) zum Ausdruck. In diesem Beispiel ist das vorrangige Lernziel, »anderen eine Freude zu bereiten, indem sie [die Schülerinnen und Schüler; J. J.] für einen anderen ein angemessenes Geschenk herstellen oder kaufen« (ebd.). In einem anderen vorgestellten Vorhaben, im Kontext von ›Identitätsfindung‹ und ›Ich-Entwicklung‹, werden zudem ein Album gebastelt und eigene Fotografien darin eingeklebt (vgl. ebd., S. 165?ff.). Bis heute finden sich viele solcher praktischen Beispiele und Anregungen in der fachrichtungsdidaktisch ausgerichteten Literatur (vgl. für den Bereich emotionale und soziale Entwicklung z.?B. aktuell Boecker 2019; Diessel 2019; Fink 2019, S. 101?ff.; Gelhausen 2019; Häußler 2023a, S. 155?ff.; Jöhnck 2019a; 2019b; 2019c; 2019d; 2019e; 2019f; 2019g; 2020; 2021; 2022, S. 85?ff.; Kannewischer/Wagner 2011; Kühlewind 2022; Rosendahl 2022; Schiebe 2021; Stichling 2022; Stöppler/Wachsmuth 2010, S. 130?ff.; Theunissen/Vogt 2013; Tiggemann/Sennekamp 2019).
Es handelt sich dabei um Wege der Verwirklichung jener in den KMK-Richtlinien (2021) eingeforderten ›Angebote‹ (s.?o.) – in einem Förderschwerpunkt, in dem es eben nicht allein um eine (sonder-)pädagogisch-didaktische Ausrichtung auf eine fächerbezogene Bildung geht, sondern ein Fokus auf die o. g. Entwicklungsbereiche systematisch hinzutritt (vgl. dazu ausführlich in den KMK-Empfehlungen ebd., S. 6?ff.).
In Anlehnung an Koch und Jungmann (2017) lässt sich der darin zum Ausdruck kommende Begriff von Bildung, in dem neben fächerbezogenen explizit und gleichrangig auch entwicklungsbezogene Ziele mitgedacht werden, als ›erweiterter Bildungsbegriff‹ bezeichnen (vgl. ebd., S. 92?f.). Dass beides hier so harmonisch zu einem Begriff vereint erscheint, sollte freilich nicht über die dahingehend bewegte Geschichte sowie gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen in Theorie, Empirie und Praxis hinwegtäuschen: In der sonderpädagogischen Fachrichtung Geistige Entwicklung wurde die (vom Autor dieses Buches ausdrücklich unterstützte) Fachorientierung keineswegs immer so großgeschrieben wie heutzutage (vgl. Musenberg 2019). Ehemals in der Geistigbehindertenpädagogik dagegen verbreitete, von konkreten Lebens-, Fach- und damit Sinnbezügen isolierte Trainings bspw. von Aspekten der Wahrnehmung werden heute zurecht kritisch betrachtet. Heute ist es aber auch eine Anforderung an die akademische Disziplin, jene eingeforderte (didaktisch-methodisch zeitgemäße) Kultivierung von Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen theoretisch, empirisch und pragmatisch nicht zu kurz kommen zu lassen. Was zudem die konkrete (sonder-)pädagogische Praxis vor Ort angeht, ist und bleibt die jeweils individuell adressat(inn)engerechte Verknüpfung von Fachorientierung mit einer Ausrichtung auf die Entwicklungsbereiche eine anspruchsvolle Aufgabe für Lehrkräfte und deren Teams.
Welche Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen können, innerhalb und außerhalb des regulären (Fach-)Unterrichts an den verschiedenen Bildungs- und Förderorten, auf welche Weisen in ihrem Auf- und Ausbau unterstützt werden? Hinter dieser einfach klingenden, grundsätzlichen Frage verbirgt sich eine facettenreiche Welt des Wissens, die fortlaufend noch erweitert und ausdifferenziert wird. Unterstützung und Förderung in den Entwicklungsbereichen – im vorliegenden Buch wird hierfür nachfolgend vor allem der Begriff der Entwicklungsförderung verwendet1 – sind sehr vielgestaltig. Umsetzungen im Unterricht erfolgen z.?B. sehr grundlegend über ein bewusstes Classroom-Management (vgl. z.?B. Martenstein/Hillenbrand 2013) oder spezifischer über Elemente der Gesprächsführung. Jedes Unterrichtfach enthält hier unterschiedliche besondere Förderpotentiale (siehe z.?B. Dilemma-Geschichten zur Förderung moralischer Urteilskraft etwa im Ethik- und Religionsunterricht oder übergreifend im Kontext Medienbildung, vgl. dazu Jöhnck 2019g und Tulodziecki/Herzig/Grafe 2021, S. 324?ff.), jede methodische Großform (z.?B. Projektarbeit oder projektorientiertes Arbeiten, Wochenplanarbeit) verleitet zu anderen Hoffnungen anvisierte Förderanliegen betreffend (z.?B. Förderung der Entscheidungsfähigkeit, Förderung der Selbstständigkeit). Dazu kommen außerschulische Lernorte, deren Besuch wertvoller Teil des Unterrichts sein kann.
In einer Online-Befragung von 107 Grund- und Förderschullehrkräften an hessischen Grundschulen ergab sich entsprechend allein für den Bereich der Förderung sozialer Kompetenz der Befund, dass
»Schulen [...] auf eine enorme Bandbreite an Lehrangebotsformen zurück[greifen]. Den befragten Pädagoginnen und Pädagogen zufolge wurden an ihren Schulen insgesamt 40 unterschiedliche Konzepte angewendet, die von Zirkuspädagogik über Klassenräte bis hin zu manualisierten und publizierten Social-Skills-Trainingsprogrammen (die am häufigsten vertreten waren) reichten« (Fingerle/Röder 2017, S. 331, mit Bezug auf Grumm/Hein/Fingerle 2013).
Umso herausfordernder (aber auch spannender!) erscheint mit Blick auf sämtliche Entwicklungsbereiche die sich stellende Aufgabe, hier einen breiten und differenzierten Überblick u.?a. über mögliche Wege der praktischen Umsetzung der Unterstützung und Förderung zu gewinnen. Vor dem nunmehr aufgespannten Horizont setzt das vorliegende, kleine und kompakte, theoretisch fundierte wie auch praxisorientierte Buch bewusst Schwerpunkte: Es möchte (sonder-)pädagogisch-didaktisch in die Entwicklungsförderung im Unterricht unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung einführen.
Anknüpfend an Jöhnck und Baumann (2023, S. 65?ff.) wird dabei nachfolgend von dualem Unterricht oder auch von dualer Unterrichtsplanung und -gestaltung gesprochen, wenn dieser Unterricht systematisch eben sowohl fach- als auch entwicklungsbezogen angelegt ist.
1.2 Perspektiven auf die Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Die nachfolgend zu entfaltenden Perspektiven auf die Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sollen die Bedeutsamkeit eines solchen dualen, d.?h. eben nicht nur fach-, sondern auch entwicklungsbezogenen Unterrichts für jene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zunächst weiter untermauern. Daran anknüpfend erfolgt ein Überblick über den Aufbau vorliegenden Buches.
Mit der derzeit (noch) gebräuchlichen rechtlichen Kategorie ›Förderschwerpunkt geistige Entwicklung‹ ist zunächst einmal verbunden, dass die so gruppierten Schülerinnen und Schüler – zumindest in der großen Mehrzahl – als kognitiv beeinträchtigt respektive geistig behindert angesehen werden (siehe dazu in diesem Abschnitt unten auch die differenzierenden empirischen Befunde). Zudem legt dieser Begriff für sich nahe, dass Bildungs-, Unterstützungs- und Förderangebote für jene Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen...




