E-Book, Deutsch, Band 5, 576 Seiten
Reihe: Niels-Oxen-Reihe
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 5, 576 Seiten
Reihe: Niels-Oxen-Reihe
ISBN: 978-3-423-44024-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Niels Oxen kämpft um das, was ihn ausmacht: seine Menschlichkeit. Sein dunkelster Fall.
Teil fünf der furiosen Oxen-Serie
Alles könnte gut werden: Flashbacks und Albträume quälen Niels Oxen seltener und er denkt darüber nach, was ihm in seinem Leben fehlt: Beziehungen. Und Liebe. Da bittet Ex-PET-Chef Mossmann ihn um Unterstützung. In einer verlassenen Kiesgrube sind die Leichen ermordeter Veteranen gefunden worden. Bedroht das Land ein Sniper? Unachtsam geworden, wird Oxen verschleppt – und dort, wo er erwacht, gibt es nur Dunkelheit …
Für Leser:innen von Jussi Adler-Olsen, Stieg Larsson und Fans von skandinavischen Krimis und Thrillern.
'Die Oxen-Serie von Jens Henrik Jensen ist einfach großartig!' Saarländischer Rundfunk
'Oxen hat über die Jahre immer mehr an Charakter gewonnen. In vielerlei Hinsicht ist Oxen inzwischen bedeutsamer als Jensen. Aber das nehme ich ihm nicht übel – im Gegenteil, es ist das schönste Kompliment für mich.' Jens Henrik Jensen
Alle Bände der Niels-Oxen-Reihe:
Band 1: OXEN. Das erste Opfer
Band 2: OXEN. Der dunkle Mann
Band 3: OXEN. Gefrorene Flammen
Band 4: OXEN. Lupus
Band 5: OXEN. Noctis
Band 6: OXEN. Pilgrim
Von Jens Henrik Jensen sind bei dtv außerdem die skandinavischen Thriller-Serien SØG und EAST erschienen.
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2.
Der gellende Ruf von hinten ertönte, während er gerade die Stille und die leisen Geräusche genoss, die die kleine Gruppe auf dem gefrorenen Boden verursachte. Das Keuchen im Rücken war zwar lauter, als er es gewöhnt war, aber wenigstens ging es vorwärts. Die einzige Richtung, die es gab. »Oxen! Wann gibt’s endlich was zu essen, Mann? Ich könnte einen ganzen … Ochsen verdrücken!« Der Ausbruch wurde mit vereinzeltem Gelächter quittiert. Er lächelte, aber als er antwortete, war sein Gesicht wieder ernst. »Immer mit der Ruhe, Skram. Gegessen wird erst, wenn wir den Shelterplatz erreicht haben. Ich schlage vor, dass du ein paar Fallen aufstellst und uns was Leckeres besorgst, einen Hasen oder von mir aus auch ein Eichhörnchen.« »Eichhörnchen? Hast du sie noch alle, Chef? Ich habe eine Lunchbox mit Roastbeef, Remoulade und Röstzwiebeln dabei, ganz zu schweigen von den zwei Schweinerippchen mit Rotkohl«, gluckste der kräftige Mann. Ihre kleine Truppe sah auf den ersten Blick vielleicht aus wie eine Militäreinheit im Einsatz, war aber absolut zivil und verfolgte ausschließlich soziale Zwecke. Man hatte ihm den gut gemeinten Rat gegeben, dass sich innerhalb der Gruppe alle mit Vornamen ansprechen sollten, um den zivilen Charakter des Projektes und die Gleichrangigkeit untereinander zu betonen. Er hatte den Rat ignoriert. Wo diese Männer herkamen, war nur der Nachname üblich, und er selbst würde sich sowieso niemals daran gewöhnen, Menschen, die er kaum kannte, beim Vornamen zu nennen. Der Einfachheit halber – oder war es ein Reflex? – bezeichnete er die Teilnehmer gedanklich nach ihrer Funktion, wenn er ihre Handlungsmuster reflektierte oder sie insgeheim beobachtete. In seiner Vorstellung bildeten sie die kleine Einheit, die ihm am vertrautesten war: eine Jägerpatrouille. Er war der Patrouillenführer und dazu kamen, wie es sich gehörte, ein Späher, ein Funker, ein Sprengmeister und ein Sanitäter, der sein Flickzeug dabeihatte. Trotz seiner Abneigung gegen Vornamen wusste er natürlich, dass der hungrige Skram mit der Remoulade tatsächlich Peter hieß, und er kannte auch die Geschichte, warum aus dem Peter vor einer halben Ewigkeit ein »Peder« mit weichem »d« geworden war. Angeblich war das seinem ausgesprochen ungeschickten Verhältnis zu Schusswaffen geschuldet. Denn mit dem Konsonantenwechsel trug er nun denselben Namen wie die dänische Fregatte »Peder Skram«, die sich 1982 weltweit in die Schlagzeilen geschossen hatte, als sie bei einer Übung versehentlich eine Harpoon-Rakete auf ein Ferienhausgebiet in Lumsås auf Seeland abfeuerte – zum Glück ohne dass Menschen zu Schaden kamen, da gerade keine Urlaubssaison war. Es gab keine dumme Bemerkung über den gut gepolsterten, ewig hungrigen Peter, Peder Skram, die nicht schon gemacht worden war. Deshalb beließ er es bei einer kurzen Antwort. »Okay. Aber die Proviantpakete reichen nur für den Lunch, Skram. Deshalb ernenne ich dich hiermit zum Verantwortlichen für das Abendessen.« Im Gefolge hinter seinem Rücken wurde gefeixt. »Wie weit ist es bis zum nächsten Supermarkt, Oxen? Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass Skram unser Küchenchef sein soll.« Es war der Sprengmeister, der aus dem Hintergrund kommentierte. »Supermarkt? Hier gibt es im Umkreis von zehn Kilometern keine Geschäfte. Unser Hoflieferant ist die Natur. Wenn Skram völlig versagt, müssen wir Rinde nagen«, antwortete er. Der Sprengmeister schnaubte. »Rinde nagen? Jetzt dreht er endgültig durch … Wir stimmen ab. Wer ist dafür, dass wir Oxen als Mentor und Expeditionsführer absetzen und uns auf der Stelle zur nächsten Kneipe durchschlagen?« Mentor? Er ließ sich das Wort einen Moment lang auf der Zunge zergehen. Es schmeckte irgendwie komisch. Hmm. Mentor … Aber auch wenn er sich von Anfang an nicht so richtig mit dieser Rolle hatte identifizieren können, war er genau das – ein Mentor. In die Ecke gedrängt, hatte er schließlich zugestimmt, Teil dieses sogenannten Mentorenprogramms für Kriegsveteranen zu werden. Für Leute, die eine helfende Hand brauchten. Leute, die aus unterschiedlichen Gründen in Schwierigkeiten steckten. Die Mühe hatten, sich wieder in eine Gesellschaft einzugliedern, in der die Menschen sich über eine geregelte Erwerbsarbeit definierten, der keiner von ihnen nachging … Also für Leute wie ihn. Mit dem kleinen Unterschied, dass er früher zur Elite gehört hatte, zu der Truppe mit den bordeauxroten Baretts und dem nahezu unerreichbaren Schulterabzeichen, auf dem »Jäger« stand. Die Männer, die in einer Reihe hinter ihm gingen, seine Mentees, waren ganz normale Zeitsoldaten gewesen. Und jetzt hatten sie ausgedient. Er hatte ihren Respekt von der ersten Sekunde an gespürt. Bei ihrem ersten Treffen in der Svanemøllens Kaserne hatte er sich mit vollem Namen, Alter und seiner Jägernummer vorgestellt. Mehr war nicht nötig gewesen. Sie kannten seine Geschichte und einige seiner Missionen. Sie kannten die Hintergründe für die Verleihung der diversen Ehrenabzeichen, und sie konnten detailgetreu den Handlungsverlauf nacherzählen, der ihm als Einzigem im Königreich das Tapferkeitskreuz eingebracht hatte. Natürlich wussten sie aus den Medien auch, was er in den letzten Jahren durchgemacht hatte und dass er zu einem gewissen Zeitpunkt von allen und jedem gejagt worden war, sogar von der dänischen Polizei, weil er unschuldig unter dem Verdacht gestanden hatte, ein Mörder zu sein. Wenn er »Deckung« befahl, würden seine Veteranen sich auf der Stelle auf den Bauch werfen. Wenn er »Bellt!« befahl, würden sie bellen. »Rinde? Ehrlich? Was denn für Rinde, Oxen?« Der Sprengmeister klang trotzdem neugierig, jetzt wo er den Gedanken einen Moment hatte sacken lassen. »Birkenrinde zum Beispiel. Daraus kann man Birkenspaghetti machen oder von mir aus auch Birkennudelsuppe. Aber nur aus dem Kambium, das ist die weiche Schicht unter der äußeren Rinde. Die äußere Rinde hat zu viel Gerbsäure und würde dir den Magen kaputtmachen. Man schneidet das Kambium in dünne Streifen und kocht es fünfzehn bis zwanzig Minuten. Die meisten Nährstoffe landen dabei im Wasser, deshalb sollte man auch die Brühe schlürfen. Im Frühjahr, kurz bevor die Birken ausschlagen, ist der Kohlenhydratgehalt am höchsten. Dann sind ungefähr fünf Prozent von dem, was du einsammelst, Kohlenhydrate. Im Winter ist es etwas weniger. Hier draußen ist eine Menge essbar … und bevor man verhungert …« »Hast du das ausprobiert, Oxen?«, fragte der Sprengmeister. »Ja.« »Wie hat es geschmeckt?« »Zum Kotzen.« »Skram, ich will meine al dente, sonst setzt’s was«, brummte der Gruppenälteste, der Sanitäter. »Haben wir Ketchup? Ich meine, falls es nachher doch Eichhörnchen gibt …« Der Späher grinste. Er redete nicht oft und es war nicht leicht, ihm ein Lächeln zu entlocken. Aber der Mann hatte in den letzten Jahren auch nicht viel zu lachen gehabt. Er war in Afghanistan gewesen und hatte mitansehen müssen, wie sein bester Freund von einer Bombe zerfetzt wurde, die zwischen Steinen am Wegrand versteckt gewesen war. Das hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Komplett. »Wie weit ist es noch?«, rief der Sanitäter. Sprengfallen und all die anderen selbstgebastelten, todbringenden Drecksdinger, USBV, Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, zeichneten sich dadurch aus, dass sie viele in den Abgrund rissen. Ganz einfach formuliert, bestand seine Aufgabe darin, die Männer wieder aufzurichten. Sie im besten Fall in die Lage zu versetzen, die ersten vorsichtigen Schritte auf dem Arbeitsmarkt zu unternehmen. Er sollte Vorbild sein, sie inspirieren und seine Erfahrungen und Kompetenzen mit ihnen teilen. Diese Beschreibung stammte nicht von ihm. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich an irgendeinem Punkt seines Lebens eingebildet zu haben, anderen etwas beibringen zu können. Schon gar nicht nach seiner Scheidung und dem nachfolgenden Absturz. Nein, die Worte stammten vom Leiter des Veteranenzentrums Kopenhagen, Leif Husum. Husum, den er seit ihrer gemeinsamen Zeit auf dem Balkan gut kannte, war mittlerweile Oberst und hatte nach einigen Jahren in der Verwaltung des Veteranenzentrums in der Ringsted Kaserne die Leitung seines Standorts in Kopenhagen übernommen, und es fehlte ihm nur noch ein Jahr bis zum Ruhestand. Husum hatte in seinem Büro gesessen, sich seine Pfeife angezündet, ihm eine Tasse Kaffee eingeschenkt, ihn durchdringend angesehen und dann auf seine stille, gelassene Art sein Anliegen vorgetragen, seine Herausforderung. Mentor? Vorbild? Oxen hatte seine eigene prompte Antwort noch deutlich im Ohr: »Danke, nein.« »Warum nicht?« »Wie soll ich anderen den Weg zeigen, wenn …« In der kurzen Pause, in der er die richtige Wortwahl überdenken wollte, hatte der Oberst den Satz für ihn zu Ende geführt: »… wenn du ihn nicht einmal selbst finden kannst?« »Exakt.« »Gerade deshalb, Oxen … Gerade deshalb.« Der Leiter des Veteranenzentrums hatte seine kleine philosophische Saat in duftenden Tabakrauch gehüllt. Und dann hatten sie das restliche Gespräch darauf verwendet, über die guten alten Zeiten zu sinnieren, die mit wachsendem Abstand nur immer besser wurden. In den Tagen nach ihrem gemütlichen Nachmittag in der Kaserne war er standhaft geblieben. Er wollte sich nicht als hochdekorierter...