E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Jensen Das neunte Leben des Louis Drax
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-423-42877-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-42877-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Mysteriös und faszinierendLouis Drax ist kein normaler Junge. Jedes Jahr stößt ihm unter mysteriösen Umständen etwas Schreckliches zu, sodass er beinahe ums Leben kommt. An seinem neunten Geburtstag, bei einem Picknick mit seinen Eltern, stürzt er in eine tiefe Schlucht und fällt ins Koma. Danach ist sein Vater verschwunden. Louis' behandelnder Arzt versucht dem Geheimnis dieser kleinen Familie auf den Grund zu gehen. Besonders Natalie, Louis' Mutter, übt eine seltsame Faszination auf ihn aus.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Ich bin nicht wie die meisten Kinder. Ich bin Louis Drax. Mir passieren Sachen, die nicht passieren sollten – wie, bei einem Picknick zu ertrinken. Frag mal meine Maman, wie das ist, die Mutter eines Unfallkindes zu sein, und sie wird’s dir erzählen. Absolut nicht komisch. Du kommst nicht zum Schlafen vor lauter Sorge, wie das noch enden wird. Du siehst überall Gefahren und denkst, ich muss ihn beschützen, ich muss ihn beschützen. Aber manchmal kann man das einfach nicht. Beim ersten Unfall hat Maman mich erst mal gehasst, bevor sie mich liebte. Das war meine Geburt. Es war wie bei dem großen Julius Cäsar. Da säbeln sie der Frau mit einem Messer den Bauch auf und ziehen dich raus, du schreist und bist blutverschmiert. Sie dachten, auf dem normalen Weg (der ähnlich grauslich ist) würde ich es nicht schaffen. Und dass auch Maman es nicht überstehen würde, wie Julius Cäsars Mutter, und sie uns in einen Sarg legen müssten. Sie in einen großen und mich in einen kleinen. Vielleicht hätten sie uns auch in einen gepackt, einen Doppelsarg, und Blablabla. Ich wette, so was gibt’s. Ich wette, die gibt es übers Internet, für Mütter und Jungs, die sich besonders nah waren. Eine Geburt ist grauslich, und selbst wenn du hundert wirst, kommen du und deine Maman nicht darüber weg. Und das war nur der Anfang. Was ich allerdings noch nicht wusste, und sie auch nicht. Der zweite Unfall geschah, als ich ein Baby war. Ich war acht Wochen alt, lag schlafend in meiner Wiege und war kurz vorm plötzlichen Kindstod. Mann! Ich muss ihn beschützen, ich muss ihn beschützen, dachte sie. Keine Panik, ruf einen Krankenwagen. Die haben ihr dann erklärt, wie sie mich vor dem Ersticken bewahren konnte, bis sie da wären. Und sie gaben mir Sauerstoff. Wovon ich auf meiner Brust lauter blaue Flecken bekam. Sie hat bestimmt noch die Fotos von mir. Die zeigt sie dir, wenn du willst, und auch die Röntgenaufnahmen von meinen süßen kleinen Babyrippen, alle gequetscht und gebrochen. Mit vier bekam ich einen Anfall, bei dem ich so schrie, dass ich neuneinhalb Minuten praktisch nicht atmete. Ehrlich. Nicht mal der große Houdini hat das gebracht, und der war Entfesselungskünstler. Das war ein Amerikaner. Mit sechs bin ich auf die Gleise der Lyoner Metro gefallen. Der Stromschlag hatte mich schon zu fünfundachtzig Prozent geschafft, was so gut wie nie passiert, aber mir passierte es. Ich habe es überlebt, aber das war ein echtes Wunder. Dann hatte ich eine Lebensmittelvergiftung, weil ich mich mit verdorbenem Zeug voll gestopft hatte. Salmonellen, Tetanus, Lebensmittelvergiftung, Gehirnhautentzündung – das sind nur ein paar von den Krankheiten, die ich hatte, dann noch einen Haufen andere Sachen, die ich nicht aussprechen kann, aber sie stehen alle im dritten Band der encyclopédie médicale, da kannst du es nachlesen. Alles ziemlich eklig. »Ein Kind wie mich zu haben war ein Albtraum für sie«, sage ich zu Gustave. Gustave ist Experte für Albträume, weil sein ganzes Leben einer ist. »Jeden Tag hat sie über die ganzen Gefahren nachgedacht und wie sie mich davor bewahren kann.« »Hier ist es besser für dich«, sagt Gustave. »Bevor du kamst, habe ich mich ziemlich allein gefühlt, junger Mann. Bleib, so lange du willst. Leiste mir Gesellschaft.« Ich gewöhne mich an ihn, aber er macht mir immer noch Angst. Sein ganzer Kopf ist mit blutigen Verbänden umwickelt. Wenn du ihn sehen könntest, würdest du auch denken, dass er gruselig ist, vielleicht würdest du vor Schreck tot umfallen. Vielleicht würdest du ihm aber auch Geschichten erzählen, so wie ich. Das ist leichter, wenn man das Gesicht des anderen nicht sieht. Die Sache ist die, dass man mir nicht trauen konnte. Ließ man mich auch nur eine Minute aus den Augen, schon steckte ich in Schwierigkeiten. Und alle meinten, dass ein hoher IQ das schlimmer macht und nicht besser. »Es heißt, Katzen haben neun Leben«, sagte Maman, »weil sich ihre Seelen an den Körper klammern und nicht loslassen. Wenn du eine Katze wärst, Louis, hättest du acht von deinen Leben schon verbraucht. In jedem Lebensjahr eins. So kann es nicht weitergehen.« Und Papa und der Dicke Perez stimmten ihr zu. »Wer ist der Dicke Perez?«, fragt Gustave. Der Dicke Perez war ein dicker Gedankenleser, der keine Ahnung vom Gedankenlesen hatte. Maman und Papa haben ihn bezahlt, damit er mir zuhörte und mein Geheimnis lüftete. Das merkwürdige Geheimnis des Louis Drax, des erstaunlichen Unfallkinds. Das sagte Papa immer, wenn er ’ne Geschichte draus machte. Aber die war nicht komisch. Die war todernst und trieb Maman zur Verzweiflung. He, Gustave. Hören Sie sich an, was alle sagten. Dass ich eines Tages einen Riesenunfall haben würde, sagten sie, einen, nach dem es keinen anderen mehr geben würde. Eines Tages würde man nach oben sehen und ein Kind vom Himmel fallen sehen. Und das Kind bin ich. Kinder sollten ihre Maman nicht zum Weinen bringen, deshalb fuhr ich jeden Mittwoch zum Dicken Perez nach Gratte-Ciel. Er wohnte in der Nähe der Place Frères Lumière. Du weißt vielleicht nicht, wer die frères Lumière waren. Die frères Lumière waren zwei Brüder, die das Kino erfunden haben, und dort gibt es ein Museum über sie und einen Brunnen mitten auf dem Platz und einen Markt, wo Maman Salat, Tomaten und Käse einkaufte. Ich hasste Tomaten so sehr, dass ich eine Allergie dagegen kriegte. Beim Metzger kaufte sie saucisson sec, die ich und Papa heimlich Eselpimmel nannten. Und während sie durch die Läden lief, redeten der Dicke Perez und ich über Blut und so. »Was immer dir durch den Kopf geht, Louis, erzähle es mir. Ich bin da, um dir zuzuhören.« Ziemlich oft ging’s um Vampire, aber ich weiß auch eine Menge über die Wunder der Tiefsee und Tausend Tolle Tiere und tote Leute wie Jacques-Yves Cousteau und Adolf Hitler, über die Jungfrau von Orléans und die Brüder Wright und verschiedene Krankheiten und Gifte. Der Weltrekord im Blutsaugen einer Vampir-Fledermaus steht bei fünf Litern. Sie saugt sie einer Kuh aus dem Nacken oder dem Hintern, nachdem sie sie mit Spucke gelähmt hat, die man medizinisch Saliva, Speichel, nennt. Ich konnte dem Dicken Perez erzählen, was ich wollte, weil er keinem was weitersagte und alles unter uns blieb. Je abgedrehter es war, desto aufgeregter wurde er, und sein Ledersessel quietschte. Ich dachte immer, wenn er irgendwann mal meine Blutgeschichten nicht mehr aufregend findet, kann er auch einen Kassettenrekorder mit seiner Stimme hinstellen, der mir dann alle paar Minuten sagt: Erzähl mir mehr. Und dann kann er gehen und sich Zeichentrickfilme im Fernsehen angucken und das Geld für Süßigkeiten ausgeben. »Wie viel Euro kostet das hier jedes Mal?« »Die Frage solltest du deiner Maman stellen«, sagt er, »oder deinem Papa.« »Ich frage aber Sie. Wie viel jedes Mal?« »Warum ist das wichtig für dich?« »Weil ich irgendwann mal das Gleiche wie Sie machen kann. Ein bisschen Knete verdienen.« Er grinst sein fettes Grinsen. »Möchtest du denn gerne Menschen helfen?« Ich muss lachen. »Leuten helfen? Ich würde gerne in einem Sessel sitzen und sagen: Erzähl mir mehr, und jedes Mal zig Millionen Euro dafür kriegen. Das würde mir gefallen, es sieht wie ein leichtes Leben aus.« »Möchtest du denn gern ein leichtes Leben haben, wenn du groß bist?« »Blöde Frage.« »Warum ist die blöd, Louis?« »Weil ich gar nicht groß werde, oder?« »Wie kommst du darauf?« Glaubt der, ich bin völlig hirnrissig? Glaubt der, ich komme vom Planeten Pluto oder sonstwoher, wo die Leute kein Hirn haben? »Noch ’ne blöde Frage.« »Es tut mir Leid, Louis, wenn du das für eine dumme Frage hältst. Aber trotzdem interessiert mich die Antwort«, sagt er mit seinem fetten Gesicht. »Also, wie kommst du darauf, dass du nicht groß wirst, Louis?« Sag nichts, sag nichts, sag nichts. Der Dicke Perez war mein größter Feind, aber er hat mir nie so viel Angst eingejagt wie Gustave. Wenn du Gustave treffen würdest, ging’s dir genauso. Weil er unter seinem Verband kein Gesicht hat, und manchmal muss er so husten, dass er kotzt, und manchmal denke ich auch, ich bilde ihn mir nur ein, damit ich einen hab, mit dem ich reden kann. Aber wenn ich das tue, dann weiß ich nicht, wie ich damit aufhören soll, denn wenn einer bei dir im Kopf lebt, wie kriegst du ihn dann raus? Das schaffst du nicht, siehst du? Weil sie da nun mal leben. Es gibt Gesetze, und du musst ins Gefängnis, wenn du sie brichst. Es gibt aber auch geheime Regeln, die so geheim sind, dass keiner über sie spricht. Das hier zum Beispiel ist eine, was Haustiere angeht: Wenn du ein kleines Tier hast, sagen wir einen Hamster namens Mohammed, und der lebt länger als so ein kleiner Nager normalerweise lebt, zwei Jahre also, dann kannst du ihn abmurksen, wenn du willst. Weil er dir gehört. Diese geheime Regel, die für Haustiere gilt, hat einen Namen, sie heißt: Das Recht zum Abmurksen. Du darfst ihn ersticken oder auch vergiften, wenn du zum Beispiel Unkrautvertilger hast. Oder du lässt was drauffallen, den dritten Band der encyclopédie médicale oder Harry Potter und der Orden des Phönix. Solange du keine zu große Sauerei dabei machst. Dass ich zum Dicken Perez gehe, das war Papas Idee, aber Mamans Problem, weil sie mich hinbringen musste. Papa hatte oben in den Wolken zu arbeiten, sagte, cabin crew, fifteen minutes to landing, doors to manual, las...