E-Book, Deutsch, 154 Seiten
Reihe: Kinderbücher bei Null Papier
Jens / Schulze Maja
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-053-5
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kindheitserinnerungen aus dem Bündnerlande
E-Book, Deutsch, 154 Seiten
Reihe: Kinderbücher bei Null Papier
ISBN: 978-3-96281-053-5
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ina Jens (1880-1945) war eine Schweizer Schriftstellerin und hieß mit richtigem Namen Claudia Cadisch. Sie arbeitete viele Jahre als Lehrerin. Nach ihrer Heirat mit dem Pädagogen Carl Werkmeister emigrierte das Ehepaar 1907 nach Chile, wo Ina Jens an der deutschen Oberschule in Concepción unterrichtete. Seit den 1920er Jahren veröffentlicht sie unter ihrem Pseudonym Romane und Geschichten, die sich in erster Linie an ein jüngeres Publikum richteten.
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Mein Lebensretter und mein Zeugnis
In unserem Dörfchen gab es eine Sommer- und eine Winterschule. Der Besuch der Winterschule war obligatorisch. In die Sommerschule konnte gehen, wer wollte. Selbstverständlich besuchte ich die Sommerschule, schon aus dem einfachen Grunde, weil, wäre ich zu Hause geblieben, ich tagelang im glühenden Sonnenbrande auf endlos weiten Wiesen hätte Heu nachrechen müssen.
Außerdem trieb mich in diesem meinem zehnten Lebensjahre ein fast krankhafter Ehrgeiz in diese Sommerschule. Ich hatte nämlich im vergangenen Jahre ein selten gutes Zeugnis erhalten, stand doch darin, dass ich während des Schulbesuchs »ausgezeichnet fleißig« gewesen sei, ein Zeugnis, das Generationen vor mir niemand aufzuweisen imstande gewesen wäre.
»Ausgezeichnet fleißig!« Das ganze Dorf sprach davon, nämlich wenn ein Huhn ein Ei legte, sprach auch das ganze Dorf darüber, so interessiert waren die lieben Mitmenschen damals in dem kleinen Dorfe. Dieses Mal waren auch alle merkwürdig einer Meinung, nämlich dass ich dieses Zeugnis überhaupt nicht verdient habe, dass ich ein ganz nichtsnutziges kleines Mädchen sei und man den Lehrer einfach nicht begreifen könne. Ich jedoch kümmerte mich nicht im geringsten um die Giftworte, die ich rechts und links zu hören bekam, sondern blähte mich wie ein Frosch in der Sonne, sah nur von Zeit zu Zeit in mein Zeugnis, um mich zu vergewissern, dass das Wörtchen »ausgezeichnet« auch wirklich und wahrhaftig noch dastand und nicht etwa plötzlich wie ein Vogel davongeflogen sei. Es stand aber unverrückbar da, lachte mich an, entzückte mich, berauschte mich derart, dass ich den festen Vorsatz fasste, auch in diesem Jahre mir dieses wunderbare Prädikat zu verschaffen, und mit diesem, wie mir schien heiligen Entschlusse betrat ich die Sommerschule.
Drei Monate gingen wie im Fluge vorbei. Ich war während der ganzen Zeit geradezu überfleißig und überaufmerksam gewesen. Unter allen Arbeiten standen die besten Noten, und über mein Zeugnis brauchte ich mir gewiss keine Gedanken zu machen. Ein zweiter Triumph, ein zweites »Ausgezeichnet fleißig« leuchtete lieblich wie ein Stern vor meiner Seele.
Die letzte Schulwoche war da, und eine große Erwartung erfüllte mich. Ich ging wie auf Bergeshöhen unter meinen Mitschülern einher, sah innerlich geradezu verächtlich auf sie nieder und fühlte mich grenzenlos erhaben. Das Sprichwort von den Bäumen, die der liebe Gott nicht in den Himmel wachsen lässt, kannte ich nämlich nicht.
Es war Donnerstag. Am Freitag hatten wir noch Zeichnen und Naturgeschichte, und am Sonnabend sollten wir unsere Zeugnisse erhalten. Nun hatte unser Lehrer einmal den Wunsch geäußert, wir möchten Stechapfel suchen, eine Pflanze, die bei uns sehr selten vorkam, und die zu finden als ein besonderes Verdienst des betreffenden Schülers angesehen worden wäre.
Was lag meinem Ehrgeiz näher, als alle Hebel in Bewegung zu setzen, um diese seltene Pflanze zu finden! Nach vielen erfolglosen Fahrten durch Wälder, Wiesen und Felder und nach endlosem, vergeblichem Nachfragen traf ich eines Abends die Schinderliese, ein als Hexe weit und breit verschrienes altes Weib. Sofort kam mir der Gedanke, dass sie allein mir helfen könne. Furchtlos trat ich auf sie zu und fragte sie nach Stechapfel – und siehe – die Alte versprach mir das herrlichste Exemplar, wenn ich ihr dafür ein Körbchen Pflaumen bringe. Ich hätte ihr in meiner Freude die Kleider vom Leibe gegeben.
Am Donnerstagnachmittag, so gegen fünf Uhr, machte ich mich auf den Weg ins Schinderhaus. Der Tag war trübe und die Berge mit Nebel verhängt. Das Schinderhaus lag jenseits des Flusses.
Statt nun den Weg über die hohe steinerne Brücke zu nehmen, stieg ich den Abhang hinter dem Dorf hinunter und durchkreuzte das weite, steinige Flussbett, zwängte mich mühsam durch das dunkle, dichte Erlengebüsch und stand endlich vor dem rauschenden Wasser. Es ging nicht hoch, und überall standen gewaltige Steine, auf denen man leicht das jenseitige Ufer erreichen konnte. An einer Stelle teilte es sich sogar in zwei Arme, die ein kleines Stück Land umspannten, und die sich weiter unten wieder vereinigten. Ganz mühelos sprang ich über das Wasser und erreichte das Schinderhaus.
Nach ungefähr einer halben Stunde kehrte ich glücklich mit dem schönsten Stechapfel wieder zurück. Ich ging wie im Traume. Das Gelingen nach den vielen Bemühungen, das voraussichtliche Lob des Lehrers, meine besondere Stellung in der Schule – alles dies beseligte mich namenlos.
Unterdessen war es aber dunkel geworden. Ein heftiger Wind jagte durch die Erlen, die sich rauschend bogen und mich fast zur Erde warfen. Als ich an den Fluss kam, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Das Wasser war merklich gestiegen und wälzte sich als eine schwarze, drohende Flut an mir vorbei. Ich stutzte wohl einen Augenblick, aber ohne eine Gefahr zu ahnen, sprang ich dort, wo sich das Wasser teilte, von Stein zu Stein über den ersten Arm hinweg und stand nun auf festem Boden, zu beiden Seiten die schäumenden Wasser. Als ich den zweiten Flussarm überspringen wollte, sah ich plötzlich, dass es eine Unmöglichkeit war. Die Wogen schossen hoch über den Steinen weg. Ein gewaltiger Schrecken erfasste mich, und ich entschloss mich rasch, wieder über den anderen Arm zurückzukehren, aber als ich mich umdrehte, sah ich, wie auch dort das Wasser in den wenigen Augenblicken gestiegen war, dass ich nicht mehr zurück konnte. Das Stückchen Land, auf dem ich stand, wurde zusehends kleiner und kleiner. Ich sah die schreckliche Flut auf mich zukommen, und eine rasende Angst ergriff mich. Mein Stechapfel schoss auf den Wogen davon. Ich sank auf die Knie, sprang wieder auf, hob die Arme empor, schrie, schrie wie eine Verzweifelte. Auf der fernen Brücke sammelten sich Menschen, die mir alle heftige Zeichen machten, dass ich zurück sollte. Die Entfernung ließ sie die große Gefahr nicht erkennen, in der ich schwebte.
Der Wind jagte mich fast in die Flut hinein. In den Erlen rauschte es unheimlich. Die Wogen tobten. Aus der fernen Schlucht schien sich ein Weltmeer über mich ergießen zu wollen. Die Leute schrien. Ich schrie, und die Nacht sank immer tiefer.
Da – teilten plötzlich zwei Hände das Gebüsch, und ein junger Bursche tauchte am Ufer auf. Mit einem gewaltigen Satze sprang er in die Flut von Felsblock zu Felsblock bis in die Mitte des Wassers. Dort blieb er, wie ein Fichtenbaum umrauscht von den tosenden Wassern, fest stehen und reichte mir eine Hand hinüber, riss mich dann so gewaltig über den Fluss,...