Vorwort
Stoffe aller Art werden rund um den Globus aus dem Boden, aus Lebewesen oder aus der Luft gewonnen, in Raffinerien und Fabriken gereinigt, zerlegt, wieder verbunden, durch Pipelines gepumpt, auf Containerschiffen verschickt, transformiert und verbraucht. Aber parallel zu all dem machen sie sich, oft unerkannt, selbst auf den Weg, versickern und verdunsten, geraten in Nahrungsketten, verteilen sich in der Atmosphäre und in Gewässern, dringen ein und breiten sich aus. Ihr ungeplantes und ungewolltes Eigenleben führt zu Konflikten. Solche Konflikte decken die Stoffgeschichten auf – indem sie den Lebensweg ausgewählter Substanzen nachzeichnen.
Dabei geht es darum, sich nicht nur auf das Labor zu beschränken, sondern auch das, was außerhalb der Labore passiert, in die Betrachtung einzuschließen. Schon heute besteht der Sandstrand einiger Meeresbuchten zu drei Prozent aus Mikroplastikpartikeln, die Tendenz ist steigend. Auch im Meersalz, einem Stoff, der gerade seiner vermeintlichen Ursprünglichkeit wegen gekauft wird, finden sich inzwischen die vollsynthetischen Partikel, sie gelangen zudem über Muscheln, Fische, Shrimps usw. auf unsere Teller zurück. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre liegt aufgrund der Verbrennung fossiler Energieträger schon heute mehr als 40 Prozent über den vorindustriellen Werten. Hochgiftiges Arsen gelangt in vielen Bergbauregionen ins Grundwasser, und der synthetische Stickstoffdünger, durch großtechnische Synthesen aus der Luft gewonnen, der auf den Felder ausgebracht wird, um Rekordernten zu ermöglichen, löst sich im Regenwasser, versickert und verteilt sich in Bächen, Flüssen, Seen und im Meer, wo er weiterhin für Wachstum sorgt und in der Folge auch ein allgemeines Sterben einleitet, weil verfaulende Algen den Sauerstoff in den Gewässern verbrauchen.
Die angeblich gezähmten und hochpräzisen Produkte der Laboratorien und der Chemiefabriken geraten oftmals auf Abwege. Sie verteilen sich nach eigenem Plan in der Umwelt, schreiben Geschichten, bisweilen gar Geschichte. Sie stehen nicht nur in technischen, sondern auch in politischen und kulturellen Handlungszusammenhängen, und von diesen Handlungszusammenhängen handeln die Stoffgeschichten. Deren Ziel ist: Aufklärung über Stoffe. Sie wollen anregen, über Stoffe und unseren Umgang mit ihnen auf eine neue Art nachzudenken, nicht durch die Optik einer quantitativen Theorie, sondern im Spektrum von Geschichten.
In den Environmental Humanities, in der Ethnologie und der Anthropologie, in der Umweltgeschichte, aber auch in der Humangeographie beobachten wir gegenwärtig einen wahren Boom von Ding- und Stoffbiografien. Auch in der populären Literatur und im Journalismus ist das Erzählmuster präsent. Ein Versuch einer historischen und methodischen Reflexion der stoffgeschichtlichen Methode ist daher an der Zeit. Das ist, was ich hier anbiete, mein Anspruch ist, auf wichtige Fragen eine tragfähige Antwort zu geben: Was ist das Ziel stoffhistorischer Studien? Welche Typen dieser Forschung gibt es? Wie hat sie sich entwickelt? Was sind wesentliche Kritikpunkte an der Methode und wie kann darauf geantwortet werden? Was sind überhaupt Stoffe und weshalb wurden ihre Wege seit den 1930er Jahren verstärkt Gegenstand historischer und auch belletristischer Darstellungen? Mein Konzept betont den integrativen und narrativen Charakter der stoffhistorischen Analysen. Diese können dann ertragreich sein, wenn sie von einem klar und selbstbewusst formulierten geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus systematisch naturwissenschaftliche Perspektiven einbeziehen. In der Einleitung möchte ich zunächst die historische Entwicklung, die Kontexte und das wissenschaftliche Potenzial der Stoffgeschichten darstellen.
Darauf folgen Studien zu einzelnen Stoffen, die exemplarisch den Erkenntnisgewinn, den die Methode erzielt, darstellen sollen: Stoffgeschichten ermöglichen es, die Beziehungen einer Gesellschaft zu ihrer materiellen und ökologischen Umgebung zu erforschen. Sie fragen, in welchen Kontexten welche Stoffe erforscht und mobilisiert, wie sie gedeutet wurden und werden, welche Ziele mit bestimmten Stofftransformationen und Stoffinventionen verbunden wurden und welche Folgen und Nebenfolgen sich einstellten. Die Stoffgeschichten eröffnen also einen Weg, um den technisch vermittelten Stoffwechsel bestimmter Gesellschaften mit der Natur
1 zu analysieren. Und zwar historisch präzise.
Dies ist die inventive Funktion der Methode; sie entdeckt unbekannte oder wenig bekannte Fakten und Zusammenhänge und stellt sie als Geschichte dar. Daneben hat die Methode eine kritische Funktion, weil sie bereits vorhandene und zirkulierende Geschichten über Stoffe aufgreift, zueinander in Beziehung setzt und kritisch kommentiert. So konfrontiert sie etwa die häufig verwendeten Metaphern des »Siegeszuges« dieses oder jenes Stoffes mit dem aus den Quellen erschließbaren tatsächlichen Geschehen.
Ich habe versucht, in meiner Auswahl solche Stoffe zu berücksichtigen, die für moderne Gesellschaften von hoher Bedeutung sind. Sie alle sind eng mit großen politischen Ereignissen und Zukunftsfragen verbunden. Zeitlich beschäftigen sich die Studien mit dem 19. und 20. Jahrhundert, geographisch liegt der Schwerpunkt auf Mitteleuropa.
Ich beginne mit einer Geschichte vom Stickstoff, die die vielleicht bedeutendste Umstellung im Stoffwechsel moderner Gesellschaften zum Gegenstand hat: Das Haber-Bosch-Verfahren, mit dem aus Luftstickstoff (N2), der in der Atmosphäre überreich vorhanden ist, Ammoniak (NH3), eine Form des in der Natur seltenen reaktiven Stickstoffs gewonnen werden kann. Pflanzen benötigen solchen reaktiven Stickstoff für nahezu alle Lebensprozesse, besonders für die Photosynthese. Weil reaktiver Stickstoff in der Natur knapp ist, kann man das Haber-Bosch-Verfahren als eine Art Bypass ansehen, mit dem eine wichtige ökologische Grenze aufgehoben wird: Ernten konnten nun mithilfe des Kunstdüngers zwar nicht beliebig gesteigert, aber doch vervielfacht werden. Das Haber-Bosch-Verfahren sollte das von dem Chemiker William Crookes so genannte Weizenproblem lösen. Weizen aber war und ist nur für einen Teil der Weltbevölkerung Grundnahrungsmittel. Die Geschichte des Stickstoffs zeigt, dass chemische Synthesen eben nicht »Menschheitsprobleme« lösen, auch nicht »die Macht der Menschen über die Natur« vermehren, wie es die universalistische Rhetorik der Naturwissenschaft will, sondern Macht und Stärke ganz bestimmter historischer Kollektive über andere Kollektive erweitern. Universal, jedenfalls räumlich diffuser, sind jedoch die Folgeprobleme der Problemlösung. Denn nur ein sehr kleiner Teil des auf den Äckern ausgebrachten reaktiven Stickstoffs wird von den Nutzpflanzen aufgenommen und verwertet. Der Rest versickert im Grundwasser und gelangt in Bäche, Flüsse, Seen, ins Meer, wo massive Schäden angerichtet werden. Dies ist das neue Stickstoffproblem, eines der großen und weitgehend ungelösten ökologischen Probleme moderner Gesellschaften.
Nicht nur Kunstdünger enthält reaktiven Stickstoff als wesentlichen Bestandteil, auch in fast allen modernen Explosivstoffen ist er enthalten. Das hat chemische Gründe. Denn so schwer es ist, die Dreifachbindung, die die Stickstoffatome in der Atmosphäre aneinanderbindet, aufzubrechen, so schnell, oft explosiv schnell, kann diese wieder gelöst werden. Das zweite Kapitel widmet sich den Nitrosprengstoffen, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden. Diese Bezeichnung umfasst Substanzen wie Nitroglyzerin, Nitrozellulose, Trinitrotoluol (TNT), Pikrinsäure usw., Stoffe, die mindestens eine sogenannte Nitrogruppe, die aus Sauerstoff und Stickstoff gebildet wird, enthalten. Es sind allesamt Substanzen aus den Laboren der Chemiker
2, die im 19. Jahrhundert das Schwarzpulver ablösten. Während Schwarzpulver ein mechanisches Gemisch ist, in dem die reagierenden Substanzen lose nebeneinanderliegen, sind diese bei den Nitrosprengstoffen chemisch gebunden. Die grobe Ordnung im Gemisch wird durch die atomar genaue Ordnung und Proportion im Molekül abgelöst. Dadurch wird eine höhere Effizienz der Destruktion erzielt. Die weiträumige Umgestaltung der Natur, die Schaffung großer, transkontinentaler Verkehrswege, insbesondere in Amerika, aber auch in Europa, wurde jetzt erst möglich. Doch die Effizienzsteigerung hatte zugleich unerwartete und ungewollte Effekte, denn mit den neuen, atomar präzisen Feuerwaffen wurden die Kriege nicht, wie man vielfach erwartet hatte, unblutiger und schneller, wie der Erste Weltkrieg zeigte.
Aspirin und Heroin, von denen das dritte Kapitel handelt, sind ungleiche Schwestern, sie entstiegen demselben Erlenmeyer-Kolben in einem Bayer-Labor im heutigen Wuppertal. Beide wurden im Abstand von nur elf Tagen von dem Chemiker Felix Hofmann durch die Methode der Acetylierung hergestellt, lediglich die Ausgangsmaterialien unterschieden sich. Beide Mittel bekämpfen den Schmerz und haben doch höchst unterschiedliche Biografien. Wie stark diese Biografien von politischen Ereignissen und Kulturkämpfen geprägt wurden, und wie fragwürdig unser heutiges Bild von diesen beiden Stoffen ist, soll in dieser vergleichenden Stoffbiografie erzählt werden.
Das vierte und das fünfte Kapitel greifen zwei Bänder aus einer verflochtenen, recht dehnbaren Geschichte heraus. Zunächst geht es um die Erfindung des Gummis durch indigene Völker. Ich möchte zeigen, dass das übliche Bild, wonach indigene Völker zwar eine Art Gummi herstellen konnten, dieser jedoch erst durch eine Erfindung des US-Amerikaners Charles Goodyear entscheidend verbessert wurde, der Korrektur bedarf. Gummi ist eine indigene Erfindung, die vermutlich von Amazonien aus zunächst in ganz Süd- und...