E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Jenner Teatime im Jane-Austen-Club
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-2965-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2965-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jane Austen und die Suche nach dem Glück.
1945: Der Krieg ist zu Ende, doch in dem kleinen Dorf Chawton im Süden Englands hat er Spuren hinterlassen. Hier lebte einst Jane Austen und schrieb ihre großen Romane, und die Erinnerung an sie prägt den Ort und seine Bewohner noch immer. Eine Gruppe ungleicher Menschen setzt sich dafür ein, Jane Austens Vermächtnis für die Welt zu erhalten. Sie alle haben mit dem Verlust und dem Trauma des Krieges zu kämpfen und finden Zuflucht in der Literatur. Gemeinsam gründen sie die Jane Austen Society. Werden sie über die Liebe zum Lesen ihre Trauer überwinden und zurück ins Leben finden?
Booklist.
Natalie Jenner wurde in England geboren und wanderte als Kind mit ihrer Familie nach Kanada aus. Sie arbeitete u.a. als Unternehmensanwältin und Karrierecoach und hat eine kleine Buchhandlung in Oakville, Ontario, eröffnet, wo sie mit ihrer Familie und zwei Hunden lebt. Marie Rahn studierte an der Universität Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, u.a. Lee Child, Aldo Busi, Kristin Hannah, Silvia Day und Sara Gruen.
Weitere Infos & Material
Kapitel Eins
Chawton, Hampshire
Juni 1932
Er lag auf der moosbewachsenen Mauer, hatte die Beine angezogen und drückte seinen Rücken gegen den Stein. Das Zwitschern der Vögel drang durch die stille Morgenluft und verursachte ihm Kopfschmerzen. Ganz reglos lag er da und spürte, wie ihn auf dem kleinen Kirchhof der Tod umgab. Fast sah er selbst aus wie eine Skulptur auf einem Schrein, so als läge er in ewiger Ruhe auf einem stillen Grab. Zwar hatte er sein kleines Dorf nie verlassen, um die großartigen Kathedralen des Landes zu sehen, doch wusste er aus Büchern von alten Herrschern, die genauso wie er auf ihren Grabmalen lagen, damit ihre Bewunderer noch Jahrhunderte später ehrfürchtig zu ihnen aufschauen konnten.
Es war die Zeit der Heuernte, und er hatte seinen Wagen am Ende der alten Gosport Road stehen lassen, direkt vor dem Schwinggatter, das auf die Felder führte. Auf der Ladefläche seines Wagens stapelten sich bereits riesige Heubündel, die darauf warteten, zu den Gestüten und Milchfarmen zwischen Alton und East Tisted gebracht zu werden. Wie er so da lag, spürte er, dass sein Hemd feucht vom Schweiß war, obwohl die Sonne kaum schien. Es war erst neun Uhr morgens, doch er hatte schon mehrere Stunden auf den Feldern gearbeitet.
Mit einem Mal verstummten die Finken, Meisen und Rotkehlchen wie auf Befehl, und er schloss die Augen. Sein Hund Rider hatte bis jetzt Wache gehalten und die Schafe auf den Wiesen beobachtet, aber als der Atem seines erschöpften Herrchens immer tiefer und gleichmäßiger wurde, machte auch der Hund es sich auf der kühlen Erde des Friedhofs bequem.
»Verzeihung?«
Er schrak hoch, als er die Stimme hörte. Die Stimme einer Lady. Einer Amerikanerin.
Abrupt setzte er sich auf und musterte ihr Gesicht. Dann wandte er den Blick rasch ab.
Sie war noch jung, höchstens Anfang zwanzig. Das indigoblaue Band ihres Strohhuts mit der breiten Krempe passte genau zu ihrem dunkelblauen maßgeschneiderten Kleid. Sie wirkte recht groß, fast so groß wie er, doch dann bemerkte er, dass sie Schuhe mit den höchsten Absätzen trug, die er je gesehen hatte. In der einen Hand hielt sie ein Büchlein, in der anderen eine schwarze Handtasche. Um den Hals trug sie eine kurze Silberkette mit einem winzigen Kreuz.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, aber Sie sind der erste Mensch, den ich heute Morgen treffe. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«
Das überraschte den Mann nicht. Chawton zählte nur 377 Einwohner, und er war einer der wenigen, der schon früh auf den Beinen war – neben dem Milchmann, dem Briefträger, der morgens die Post abholte und dem Arzt, der einen dringenden Hausbesuch machte.
»Ich bin aus London gekommen, müssen Sie wissen«, sagte sie, um die Stille zu durchbrechen, »nur für einen Tag, mit dem Zug von Winchester. Ich wollte das Haus der Schriftstellerin Jane Austen besichtigen, kann es aber nicht finden. Und als ich diesen kleinen Kirchhof von der Straße aus sah, dachte ich, ich schaue mich hier mal um – vielleicht finde ich Spuren von ihr.«
Der Mann blickte über seine Schulter zu der kleinen Kirche, die er schon sein Leben lang kannte: Sie war umgeben von Buchen und Ulmen und vor ein paar Generationen aus dem hiesigen Flint- und Sandstein wieder aufgebaut worden – daher gab es im Innern nichts mehr, was von Jane Austen oder ihrer engeren Familie zeugte.
Er drehte sich um und blickte über seine linke Schulter zu dem kleinen Zauntritt am Ende des Kirchhofs, durch den man gerade so zwei Eiben sehen konnte, die kegelförmig zugeschnitten waren. Schon als Junge hatten sie ihn an riesige Salz- und Pfefferstreuer erinnert. Die Eiben säumten den abfallenden Terrassengarten eines imposanten elisabethanischen Backsteingebäudes mit Giebeldach und dreistöckigem Tudorvorbau, der mit wildem Wein bewachsen war.
»Das Große Haus ist da drüben«, sagte er unvermittelt, »direkt hinter der Kirche. Dort wohnt die Familie Knight. Die Gräber der Austens sind da vorne – sehen Sie, Miss, an der Mauer der Kirche?«
»Du meine Güte, das wusste ich gar nicht …«
Tränen traten ihr in die blauen Augen und fingen sich in ihren schwarzen Wimpern, die noch dunkler waren als ihre Haare. Sie war die schönste Frau, die ihm je begegnet war, wie ein Fotomodell aus einer Werbeanzeige in der Zeitung.
Er wandte den Blick ab und ging vorsichtig um sie herum, während sein Hund zwischen seinen Beinen umherlief. Vor zwei großen, aufgerichteten Grabsteinen blieb er stehen. Sie folgte ihm etwas mühsam, da die Absätze ihrer schwarzen Pumps sich in die Erde gruben. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, während sie die Inschrift der Grabsteine las.
Er trat ein Stück zurück und zog seine Kappe aus der Jackentasche. Nachdem er die hellblonde Stirnlocke zurückgestrichen hatte, die ihm bei der Arbeit immer ins Gesicht fiel, setzte er die Kappe auf und zog sie sich bis über die Augen. Er wollte Distanz schaffen, zu ihr und den seltsamen Gefühlen, die in ihm aufstiegen, als er sie so am Grab der vor über hundert Jahren verstorbenen Frauen stehen sah.
Er schlenderte mit Rider zum überdachten Friedhofstor und wartete. Nach ein paar Minuten tauchte sie schließlich hinter der Kirche auf und blieb vor jedem Grab stehen, an dem sie vorbeikam, als hoffte sie, noch mehr bekannte Namen zu lesen. Hin und wieder schwankte sie ein bisschen, wenn sie sich mit dem Absatz irgendwo verfing, und verzog wegen ihrer Ungeschicklichkeit kaum merklich das Gesicht. Doch wandte sie nicht einmal den Blick von den Grabsteinen ab.
Am Friedhofstor angekommen, lächelte sie und seufzte zufrieden.
»Mein Benehmen tut mir sehr leid. Ich bin den ganzen weiten Weg hergekommen, um das Cottage zu finden, wo sie die Bücher geschrieben hat – den kleinen Tisch, die quietschende Tür«, fügte sie hinzu. Darauf reagierte er nicht. »In London konnte ich nicht viel darüber in Erfahrung bringen … ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«
Er hielt ihr das Tor auf, dann schlenderten sie gemeinsam Richtung Hauptstraße.
»Wenn Sie möchten, kann ich Sie auch zu ihrem Haus bringen -es ist nicht mal eine Meile entfernt. Ich habe Zeit. Ich habe das Heu schon eingefahren, bevor es zu heiß wird.«
Sie lächelte; es war ein breites, strahlendes Lächeln, das er nur mit Amerikanern in Verbindung bringen konnte. »Das ist ausgesprochen nett von Ihnen, vielen Dank. Vermutlich kommen ständig Leute hierher, genau wie ich – oder?«
Er zuckte die Achseln. »Ja, ziemlich oft. Obwohl es da nicht viel zu sehen gibt. Im Cottage wohnen jetzt Arbeiter – die Zimmer sind vermietet.«
Als er sich ihr zuwandte, sah er, wie sie enttäuscht das Gesicht verzog. Bevor ihm bewusst wurde, was er da tat, fragte er sie nach den Büchern, nur um sie aufzuheitern.
»Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann«, antwortete sie zögerlich. »Wenn ich etwas von Jane Austen lese, und das immer wieder, denn ich habe sie öfter gelesen als jeden anderen Autor, dann habe ich das Gefühl, sie wäre in meinem Kopf. Wie Musik. Mein Vater hat mir ihre Bücher vorgelesen, als ich noch sehr jung war – er starb, als ich zwölf wurde –, und nun höre ich auch seine Stimme, wenn ich sie lese. Ich habe ihn nie so herzlich lachen hören wie bei ihren Büchern.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ja, haben Sie denn nichts von ihr gelesen?«, fragte sie, ebenso ungläubig.
»Ich hab mich an Haggard und seinesgleichen gehalten. Sie wissen schon, Abenteuergeschichten. Austen hat mich eigentlich nicht interessiert. Jetzt werden Sie mich wohl dafür verurteilen.«
»Ich würde niemanden wegen seiner Lektüre verurteilen«, gab sie zurück.
»Ich hab nie begriffen, wieso ein paar Bücher über Mädchen, die einen Ehemann suchen, mit Werken der wirklich großen Schriftsteller wie Tolstoi vergleichbar sein sollten.«
Mit neu erwachtem Interesse sah sie ihn an. »Sie haben Tolstoi gelesen?«
»Früher – ich sollte eigentlich studieren, aber dann wurden meine beiden Brüder eingezogen. Also blieb ich zu Hause, um zu helfen.«
»Arbeiten Sie jetzt alle gemeinsam auf der Farm?«
Er wandte den Blick ab. »Nein, Miss. Meine Brüder sind beide gestorben. Im Krieg.«
...