Jelineck / Beetz | Hypermobilität im Kindes- und Jugendalter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 186 Seiten

Jelineck / Beetz Hypermobilität im Kindes- und Jugendalter

Ein praxisorientierter Leitfaden für Ärzte, Therapeuten und Eltern
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-045541-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein praxisorientierter Leitfaden für Ärzte, Therapeuten und Eltern

E-Book, Deutsch, 186 Seiten

ISBN: 978-3-17-045541-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieser interdisziplinäre Leitfaden gibt einen umfassenden Überblick über symptomatische Hypermobilität im Kindes- und Jugendalter. Thematisiert werden u.a. Prävalenz, Diagnostik und mögliche Ursachenzusammenhänge der Überbeweglichkeit der Gelenke, physische und psychische Begleiterkrankungen sowie Erfahrungen betroffener Kinder, Jugendlicher und deren Eltern. Evidenzbasiert und praxisnah wird aufgezeigt, wie relevante Fachdisziplinen und Eltern die Betroffenen unterstützen können und welche Maßnahmen diese selbst ergreifen können, um im Alltag und in der Schule/im Kindergarten zurechtzukommen.

Sonja Jelineck ist u.a. Osteopathin und Heilpädagogin. Sie lebt und arbeitet in München. Prof. Dr. phil. habil. Andrea Beetz ist Diplom-Psychologin in Erlangen mit einer Professur für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik an der IU Internationalen Hochschule.
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1 Einleitung


Viele von uns erinnern sich vielleicht aus der Schulzeit an zwei oder drei »Schlangenmenschen«, die mühelos ihren Unterschenkel hinter den Kopf legten oder ihren Daumen so weit bogen, dass er den Unterarm berührte. In teils weniger extremen Ausprägungen ist Hypermobilität der Gelenke kein besonders seltenes Phänomen: 10?–?20?% der Gesamtbevölkerung gelten als überbeweglich (Hakim & Grahame, 2003). Bei Kindern und Jugendlichen ist es sogar ein Drittel, wobei Mädchen häufiger betroffen sind als Jungen (Sobhani-Eraghi et al., 2020).

Für viele der »Schlangenmenschen« handelt es sich bei Hypermobilität lediglich um eine kuriose Fußnote ihrer Lebensgeschichte. Jenseits der Beweglichkeit entwickeln sie keine weiteren Symptome. Einige nutzen ihre Hypermobilität sogar aktiv im Sport, in der Musik und den darstellenden Künsten.

Abb. 1.1:Piet van Brechts, ein Schlangenmensch der 1950er Jahre
Quelle: Noord-Hollands Archief/Fotoburo de Boer

Dieses Buch konzentriert sich auf diejenigen Betroffenen, bei denen die Beweglichkeit zur Belastung wird. Schätzungen zu symptomatischer Hypermobilität variieren, werden aber zunehmend nach oben korrigiert: Vermutlich sind mindestens 2?–?3?% der Gesamtbevölkerung betroffen (Hakim & Grahame, 2014; Tinkle et al., 2017). Bei Kindern und Jugendlichen liegt die Rate wahrscheinlich noch höher, da beispielsweise zwischen 30 und bis zu knapp 70?% der hypermobilen Kinder und Jugendlichen von chronischem Schmerz berichten (Clinch et al., 2011; Pacey et al., 2015).

Die Hauptursache symptomatischer Hypermobilität liegt in einer meist angeborenen Erkrankung des Bindegewebes, die unter anderem zu einer erhöhten Beweglichkeit der Gelenke führt. Die vermutlich am häufigsten vererbbaren Bindegewebserkrankungen sind die Ehlers-Danlos-Syndrome (EDS) (Castori et al., 2017). Weitere bekannte erbliche Erkrankungen sind das Marfan-Syndrom und Osteogenesis imperfecta. Bindegewebe ist jedoch nicht nur im Bereich der Gelenke vorhanden, sondern im gesamten Körper: In der Haut, in Knochen, Sehnen, Muskeln, in allen Organen und im Nervensystem (Kamrani et al., 2024). Faszien bestehen sogar ausschließlich aus Bindegewebe. Bindegewebe macht knapp fünf Prozent der Körpermasse aus. Daher können sich Bindegewebserkrankungen im gesamten Körper auswirken und Symptome verursachen.

1.1 Eine multisystemische chronische Erkrankung


Symptomatische Hypermobilität ist bei medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Fachkräften und in der allgemeinen Bevölkerung relativ unbekannt und gilt als stark unterdiagnostiziert. Betroffene zeigen eine auf den ersten Blick verblüffende Palette an Symptomen, die nicht nur physischer Natur sind, wie zum Beispiel Schmerz, chronische Erschöpfung, Schwindel und Störungen des Verdauungs- und Harntrakts, sondern auch die Psyche betreffen, beispielsweise in Form von Angsterkrankungen (Castori, 2012). In symptomatischen Fällen wird Hypermobilität mittlerweile als ein zentraler Aspekt einer multisystemischen chronischen Erkrankung gesehen.

Fallbeispiel

Eine amerikanische Teenagerin beschreibt im Buch »Disjointed«, wie sie diese multisystemische Erkrankung im Alltag erlebt:
»Subluxationen [unvollständige Ausrenkungen von Gelenken] tun sehr, sehr weh, ein wirklich intensiver Schmerz, bei dem man schreien möchte. Aber sie passierten ständig, also habe ich einfach aufgehört, darüber zu reden. [...] In der Schule haben sich meine Gelenke beim Hinauf- und Hinuntergehen der Treppen verschoben, die Stühle verursachten Rückenschmerzen, nach dem Mittagessen tat mir der Magen weh wie verrückt, und dann hatte ich einen Gehirnnebel und konnte mich an nichts mehr erinnern. Und an den meisten Tagen wurde mir schwindelig und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich kämpfte nur darum, mich in dem Gebäude zurechtzufinden und den Tag zu überleben. [...] Fehlende Propriozeption [d.?h. Wahrnehmung der Lage und Bewegung des eigenen Körpers im Raum] ist wie in einem Virtual-Reality-Videospiel, in dem es keinen Boden gibt. Man weiß, dass es ihn gibt, aber man hat keinen Anhaltspunkt, wo er sich befindet. [...] Ich wusste nicht, wie sich erholsamer Schlaf anfühlt, bis ich fünfzehn war. Egal wie lange ich schlief, ich wachte immer erschöpft auf.«
(Jovin, 2020a, Übersetzung der Autorinnen)

Symptomatische Hypermobilität kann das Leben der Betroffenen erheblich beeinflussen, wie ausführlicher in ? Kap. 2.8 beschrieben wird. Betroffene berichten neben gesundheitlichen Belastungen u.?a. von einer eingeschränkten Berufswahl, mangelnder sozialer Teilhabe, Abhängigkeit von Anderen und Folgen für die Familienplanung. Es stellen sich z.?B. Fragen wie: Ist eine Schwangerschaft gesundheitlich möglich? Werden meine Kinder hypermobil sein (Bennett et al., 2019; Gurley-Green, 2001)?

1.2 »Zebras« – ein oft langwieriger diagnostischer Prozess


Früherkennung und frühzeitiges gutes (auch präventives) Management der Hypermobilität und damit verbundener Symptome sind essenziell, um Spätfolgen symptomatischer Hypermobilität hinauszuzögern und weitestmöglich abzumildern (Romeo et al., 2016). Leider gestaltet sich der Diagnoseprozess oft außerordentlich langwierig (vgl. auch ? Kap. 2.2).

Fallbeispiel – Fortsetzung

Dies berichtet die Mutter der oben genannten amerikanischen Teenagerin über den diagnostischen Prozess:
»Meine Tochter verbrachte ihre gesamte Kindheit mit Fehldiagnosen. Ihre Kindheit war geprägt von Schmerzen und seltsamen Symptomen, die in ärztlichen Praxen als Angstzustände abgetan wurden. Viel ›Hmmm ... das ist seltsam‹. Die Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit waren verheerend. Sie ist jetzt 17 Jahre alt und wurde mit EDS, MCAS [Mastzellenaktivierungssyndrom], POTS [posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom, eine Form von Dysautonomie] und Skoliose diagnostiziert. Jetzt, da wir wissen, woran sie leidet, können wir feststellen, dass sie diese Symptome seit ihrer frühen Kindheit hat. Kürzlich sind wir alte Krankenakten durchgegangen und haben gesehen, dass sie mit sieben Jahren zum ersten Mal wegen Schmerzen in den Hüften und Beinen zum Arzt gegangen ist. Sie leidet unter Angstzuständen, und während ihrer gesamten Kindheit führten verschiedene ärztliche Praxen ihre Schmerzen und seltsamen gesundheitlichen Probleme auf ihre Angstzustände zurück. Vier Therapierende und viele Jahre Therapie brachten keinerlei Verbesserung ihrer körperlichen Symptome und verschlimmerten in der Regel ihre Angstzustände. Mit 15 Jahren wurde ihr POTS so schlimm, dass es schließlich diagnostiziert wurde, was in der Folge zu EDS, MCAS und anderen Diagnosen führte. Die richtige Diagnose war das Beste für die psychische Gesundheit meines Mädchens. Nachdem sie ein Leben lang das Gefühl hatte, dass ihr Gehirn für all ihre gesundheitlichen Probleme verantwortlich war und dass es ihr besser gehen würde, wenn sie nur besser therapieren würde, war es für sie eine unglaubliche Bestätigung und Ermutigung zu verstehen, welche Dinge wirklich eine körperliche Grundlage haben (in ihrem Fall fast alle).«
(Jovin, 2020a, Übersetzung der Autorinnen)

Auf dem Weg zur Diagnose werden Symptome manchmal belächelt, übersehen oder voreilig als psychosomatisch klassifiziert; bei Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) wird ein möglicher Zusammenhang mit Hypermobilität von fachärztlichem Personal, das oft nur ein Körpersystem isoliert in Betracht zieht, teils nicht erkannt (Jovin, 2020a). Kindern und Jugendlichen werden dadurch sinnvolle Interventionen vorenthalten, was sich negativ auf ihre Gesundheit und ihre Teilhabe (im Sinne einer aktiven und gleichberechtigen Teilnahme am sozialen, kulturellen und beruflichen Leben) auswirken kann (Bennett et al., 2019).

Erschwerend kommt hinzu, dass einige Betroffene sich minderwertig oder stigmatisiert fühlen und versuchen, ihre Symptome zu verbergen. Verletzungsneigungen, blaue Flecken, Müdigkeit oder lang anhaltendes Einnässen führen dabei manchmal zu falschen Verdächtigungen von Missbrauch oder sogar zum Verdacht auf ein Münchhausen- bzw. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Sulli et al., 2018). Beim Münchhausen-Syndrom führen die Betroffenen selbst Symptome bzw. Krankheiten herbei, z.?B. durch Einnahme von Drogen, Medikamenten oder Selbstverletzung. Sie verschweigen dies, wenn sie sich in Behandlung begeben, und wollen vor allem die Aufmerksamkeit und Fürsorge des medizinischen Fachpersonals sowie ihres sozialen Umfeldes aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte. Beim...


Sonja Jelineck ist u.a. Osteopathin und Heilpädagogin. Sie lebt und arbeitet in München.
Prof. Dr. phil. habil. Andrea Beetz ist Diplom-Psychologin in Erlangen mit einer Professur für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik an der IU Internationalen Hochschule.



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