E-Book, Deutsch, 166 Seiten
Jeier Solange wir Schwestern sind
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96148-678-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 166 Seiten
ISBN: 978-3-96148-678-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Bei dotbooks erscheinen folgende Titel des Autors: »Die Sterne über Vietnam« »Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn« »Flucht durch die Wildnis« »Sie hatten einen Traum« »Sturm über Stone Island« »Wo die Feuer der Lakota brennen« »Flucht vor dem Hurrikan« »Wohin der Adler fliegt« »Die Reise zum Ende des Regenbogens« »Hinter den Sternen wartet die Freiheit« »Die vergessenen Frauen von Greenwich Village« »Solange wir Schwestern sind« »Blitzlichtchaos« »Der Stein der Wikinger« Die Website des Autors: www.jeier.de Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier
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Kapitel 1
Halt die Welt an, ich will aussteigen.
Ich war ziemlich fertig, als ich den Spruch im Zimmer meiner Schwester entdeckte. Die großen Buchstaben leuchteten rot an der Zimmerwand und klebten wie ein böses Omen auf der gemusterten Tapete. Der Spruch an sich war harmlos. Er stammte aus einem Musical, das vor einigen Wochen im Fernsehen gelaufen war. Mich erschreckte die rote Farbe, die wie Blut an der Wand heruntergelaufen war und jetzt noch auf das Messingbett zu tropfen schien. Mir wurde richtig übel, als ich das Licht anknipste und die nasse Farbe an der Wand leuchten sah.
»Yvonne! Wo bleibst du denn?«
»Ich suche meinen Pullover, den roten mit den weißen Blumen. Ich dachte, er ist bei Angie. Kannst du mal kommen?«
»Ich hab keine Zeit.«
»Ich muss dir was zeigen.«
»Ich koche gerade!, rief meine Mutter ungeduldig. »Was ist denn schon wieder?«
In der Küche klapperten Töpfe, dann hörte ich ihre Schritte auf der Kellertreppe. Im Vorbeigehen hob sie die schmutzigen Schuhe auf, die Angie auf die Stufen geworfen hatte.
»Elende Schlamperei!«, schimpfte Mama leise. Sie warf die Schuhe in die offene Waschküche und kam ins Zimmer. »Ich hab Rouladen auf dem Herd stehen und muss noch Kartoffeln aufsetzen«, meinte sie ungeduldig. »Was ist denn?«
Ich deutete auf die Schmiererei. Es ging mir nicht darum, Angie zu verpetzen. Da musste schon was anderes passieren. Aber ich wollte auch nicht warten, bis meine Mutter die Bescherung von selbst entdeckte. »Das hat Angie geschrieben.«
Mama war sprachlos. Sie rieb ihre Hände an der Schürze trocken und starrte entsetzt auf die rote Farbe. Ihr Gesicht war blass geworden. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die den ganzen Tag mit einem Staublappen in der Hand herumliefen, aber sie hatte es gerne ordentlich und träumte von der glücklichen Familie aus der Margarine-Werbung, die lächelnd auf der Terrasse eines sauberen Eigenheims saß und sich schon beim Frühstück über den herrlichen Sommertag freute. In dieses Bild passte Angies unaufgeräumtes Kellerzimmer schlecht und die blutrote Schrift noch viel weniger.
»Das wäscht sie selber ab«, sagte sie. »Darauf kannst du dich verlassen. Ich mache keinen Handgriff mehr in diesem Zimmer.« Sie ließ die Schürze los. »Wie kommt sie nur auf diesen Blödsinn? Ist das 'ne neue Mode? Beschmiert man jetzt die Wände?«
»Graffiti ist out«, winkte ich ab, »zu Hause jedenfalls. Die beschmieren nur noch S-Bahnen und Fabrikwände, die richtig großen Sachen.«
Sie berührte die rote Farbe und wandte sich angewidert ab. »Das ist Ölfarbe«, sagte sie, »die geht doch nie mehr weg.«
»Ich helfe dir«, sagte ich und lächelte schon wieder. »Irgendein Mittel wird's schon geben. Mach dir keine Sorgen, Mama. Angie hat sich bestimmt nichts dabei gedacht, du kennst sie ja.«
Ich wusste nicht, warum ich meine Schwester plötzlich verteidigte. Wir kamen gut miteinander aus, aber sie war in letzter Zeit selten zu Hause und wir sahen uns kaum noch. Sie hatte ihre Freunde und ich hatte meine. Sie ging auf die Wirtschaftsschule in der Stadt, kam erst am späten Nachmittag zurück und war fast jeden Abend unterwegs. Ich ging auf die Realschule und blieb am liebsten zu Hause. Ich hatte keine Lust, jede freie Minute im Freizeitheim rumzuhängen wie dieses blonde Mädchen aus der Nachbarklasse. Sandra. Die zog sich doch nur Zigaretten rein, machte auf cool und spielte Billard mit den Jungen aus der zehnten Klasse. Wie die schon kicherte, wenn einer dieser Kerle mit seinem Motorrad vor der Schule wartete. »Schau mal, der Markus, der hat 'ne nagelneue Hundertfünfundzwanziger«, sagte sie dann, als ob das einen Unterschied machte. Ich war lieber mit Heike zusammen, die hatte ähnliche Interessen, schaute sich dieselben Filme an und las dieselben Bücher.
»Wo bleibt sie überhaupt?«, fragte meine Mutter, während sie einige DVDs und Zeitschriften vom Boden aufhob und auf den Schreibtisch legte.
»Angie?«
»Wer denn sonst?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich, »ihr Handy war abgeschaltet. Eigentlich müsste sie schon hier sein. Sie hat was von einem neuen Freund erzählt. Ich glaube, sie meint den Typ, der sie letzten Samstag zur Disco abgeholt hat, als sie so geschminkt war. Vielleicht hängen sie in der Stadt rum.«
»Angie? Die soll sich lieber um ihre Hausaufgaben kümmern, sonst schafft sie die Prüfung nie. Apropos ... hast du schon deine Hausaufgaben gemacht? Ihr schreibt doch morgen 'ne Matheprobe, oder?«
»Übermorgen.«
»Und? Kannst du alles?«
»So ungefähr«, antwortete ich, »mündlich war ich ganz gut. Ich schau mir heute und morgen noch mal alles an. Mach dir keine Sorgen. Für 'ne Drei reicht es in Mathe immer. Soll ich mal mit Terpentin ran?«
»Wie?«
»An die Ölfarbe. Soll ich sie mit Terpentin abwaschen? Oder willst du 'ne neue Tapete drüberkleben? Ich glaube, es sind noch ein paar Reste von der Blümchentapete übrig. Die sieht fast genauso aus.«
»Mach, was du willst«, sagte sie. »Ich rühre jedenfalls keinen Finger mehr.« Sie nahm die Schmutzwäsche, blickte noch einmal auf die blutrote Schrift und ging kopfschüttelnd aus dem Zimmer. »So eine Schweinerei«, murmelte sie, während sie die Kellertreppe hinaufstieg. »Mit knallroter Ölfarbe. Ich möchte wissen, was Papa dazu sagt.«
Papa schimpfte kaum, als er um sieben aus dem Büro kam und von Mama in Angies Zimmer geführt wurde. Er lachte sogar und summte die Melodie, die zu dem Spruch gehörte. »Stop the world – I want to get off. Euch fällt auch nichts Neues mehr ein.«
»So leicht nimmst du die Sache?«, staunte meine Mutter.
Papa berührte die rote Farbe und zerrieb sie zwischen Mittelfinger und Daumen. »Soll ich ihr den Kopf abreißen? Ich hab mal 'ne große Colaflasche an die Schultür geklebt und musste das verdammte Ding mit einem kleinen Messer abkratzen. Soll sie doch sehen, wie sie den Spruch wieder abbekommt. Ist schließlich ihr Zimmer.«
»Eine Schweinerei ist das!«
»Halb so schlimm.«
So war mein Vater. Er nahm alles auf die leichte Schulter und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Das Leben ist viel zu kurz, sagte er oft, warum soll ich mich über jeden Mist aufregen? Wenn Mama wütend war, brachte sie immer ihren Schwager ins Spiel, der sei viel strenger und bei dem tanzten die Kinder nicht auf dem Tisch. Papa lachte nur. »Ich brauche keine angepassten Roboter«, sagte er. »Ich brauche selbstständige Wesen, die auch mal einen Fehler machen dürfen.« Er war stolz darauf, uns nie geschlagen zu haben. Nicht mal den berühmten Klaps hatte er uns versetzt. Er ging schon hoch, wenn er das Wort nur hörte.
»Du musst was unternehmen«, sagte Mama.
»Ich werde mit ihr reden«, erwiderte Papa.
Ich hörte nur mit halbem Ohr hin und beobachtete den roten Spruch. Seltsam, dachte ich. Was hat Angie bewogen, diesen blöden Satz an die Wand zu pinseln? Und warum hatte sie die blutrote Farbe benutzt? Bekam sie keine Angst, wenn sie die großen Buchstaben im Halbdunkel sah? Oder wollte sie Mama eins auswischen? Die beiden verstanden sich im Moment nicht besonders gut und hatten öfter mal Krach.
»Ist Angie da?«, fragte Papa.
»Nein«, antwortete Mama. Sie war wütend, aber auch besorgt. So ging ihr das öfter bei Angie. Vor fünf Jahren, als meine Schwester am Blinddarm operiert wurde, hatte sie die ganze Nacht geweint, und kaum war Angie wieder zu Hause gewesen, hatten sie sich heftig gestritten. »Sie müsste längst hier sein«, sagte sie. »Die Schule ist um halb vier aus. Yvonne meint, sie ist vielleicht noch in der Stadt. Sie hat einen neuen Freund, den Jungen, der sie neulich zur Disco abgeholt hat.«
»Na, der sah doch ganz anständig aus«, meinte Papa, »der hatte fast so lange Haare wie ich vor dreißig Jahren.« Er lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Aber sie hätte wenigstens anrufen können. Wozu hat sie denn ein Handy?« Er ersparte uns die Geschichte von seiner Mutter, die ihm eingeimpft hatte, immer anzurufen, wenn er zu spät kam oder irgendetwas nicht in Ordnung war. Papa konnte ziemlich kleinkariert sein, wenn es um Pünktlichkeit ging, auch wenn er selber meistens zu spät kam und obwohl das gar nicht zu ihm passte.
»Du musst mit ihr reden«, sagte Mama noch einmal, als wir die Treppe hinaufgingen. »So geht das nicht weiter. Ich weiß nicht mal, welche Noten sie schreibt. Wenn sie von der Schule fliegt, können wir sie abschreiben. Mit der Hauptschule kommt sie nicht weit.«
»Sie könnte eine Lehre machen, meinte Papa, als wir uns zum Essen an den Küchentisch setzten. Mama stellte die Rouladen und eine Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch und füllte unsere Teller. »Handwerklich war sie doch immer recht geschickt. Erinnerst du dich noch an das Schränkchen, das sie in der Schule gebastelt hat? Das hätte sogar einem Schreiner gefallen, darauf möchte ich wetten.«
»Die nehmen auch nicht jeden«, erwiderte Mama. Sie zog eine Flasche Mineralwasser aus dem Kasten neben dem Kühlschrank, holte drei Gläser aus dem Schrank und setzte sich zu uns. »Heute musst du mindestens Realschulabschluss haben, um eine Lehrstelle zu kriegen. Der Schreiner, der unsere Regale gezimmert hat, hatte sogar einen Lehrling mit Abitur.«
Papa winkte ab. »Das sind Ausnahmen. Bei uns im Werk gibt es auch Lehrlinge mit Abitur. Aber Hauptschüler nehmen wir genauso.«
»Wenn sie gute Noten haben.«
»Und den Test bestehen, fügte er hinzu. »Heute geht überhaupt nichts mehr ohne Tests. Du weißt schon, eine ellenlange Liste mit allgemeinen Fragen und dieser psychologische Kram mit den...




