E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Jasper Carla Mann
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0341-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das tragische Leben im Schatten de Brüder
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0341-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Willi Jasper, geboren 1945, lebt als Kulturwissenschaftler und Publizist in Berlin. Bis 2010 war er Professor für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen über Thomas und Heinrich Mann, darunter die Biographie »Heinrich Mann - der Bruder«. Bei Propyläen erschien 2001 eine Lessing-Biographie von ihm; seine Biographie über Carla Mann wurde 2012 veröffentlicht.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Nathanaels Geheimnis
Am 31. Juli 1910 erscheint die »der Persönlichkeit nach bekannte« Leichenfrau Leokadia Walch auf dem Standesamt der Gemeinde Polling bei München, um anzuzeigen, »dass die ledige Carla Augusta Olga Maria Mann im Alter von 28 Jahren und 10 Monaten am 30. Juli 1910 nachmittags um vier Uhr« im Haus ihrer Mutter verstorben sei. Ursache und Umstände des Todes werden nicht registriert. Die Leichenfrau erklärt lediglich, »dass sie Zeuge von dem Tode der Carla Mann sei«. Bei der so jung Verstorbenen handelt es sich um die Schwester der Schriftsteller Thomas und Heinrich Mann, Schauspielerin am Stadttheater Mülhausen (Elsass). Später heißt es in der Familienversion, sie habe sich selbst mit Zyankali vergiftet. Allerdings wird diese Todesursache von den amtlichen Stellen nicht bestätigt, und es liegt auch kein Abschiedsbrief vor. Offensichtlich soll zunächst der Eindruck eines »natürlichen Todes« erweckt werden. Man veranlasst eine schnelle Beerdigung ohne medizinische Untersuchung oder Obduktion. Als die Leichenfrau bei den Behörden ihre Totenmeldung macht, liegt schon eine gedruckte Traueranzeige vor. »Die Hinterbliebenen« verkünden darin, dass ihre »liebe Tochter, Schwester, Schwägerin und Braut Carla« am Tag zuvor »nachmittags um 4 Uhr schnell und unerwartet im 28. Lebensjahr verschied« und die Beerdigung am 2. August auf dem Münchner Waldfriedhof stattfinden werde.
Auch in den Zeitungsmeldungen ist von einem »natürlichen« Todesfall die Rede. »Die Schauspielerin Fräulein Carla Mann« sei »dieser Tage in München einem Schlaganfall erlegen«, heißt es am 4. August in der Neuen Mülhauser Zeitung. »Die Theaterbesucher werden mit großer Anteilnahme von dem Ableben dieser geschätzten Künstlerin Kenntnis nehmen, erfreute sie sich doch während ihrer Zugehörigkeit zu unserem Stadttheater großer Beliebtheit.« Und L’Express meldet »mit Bedauern« den Tod der Mademoiselle Carla Mann, »einer Schauspielerin, die seit mehreren Jahren am Theater von Mulhouse ihre Qualität bewiesen« habe. Sie sei »in den letzten Tagen plötzlich und unerwartet [survenu brusquement] in München verstorben«. Wichtiger als die Todesursache erscheint dem Blatt die Information über die Bedeutung ihrer Brüder. »Dank des Talentes ihrer Schriftstellerbrüder Thomas und Heinrich Mann«, so kann man erfahren, sei auch Carlas Name »mit dem Ruhm der modernen deutschen Literatur verbunden«.
Einzelheiten der Vorgeschichte, des Motivs und der Ausführung einer möglichen Verzweiflungstat Carla Manns sind bis heute nicht geklärt. Klaus Mann berichtet, dass das Unglück von Polling zu jenen »Geheimnissen« seiner Kindheit gehörte, »an die man nicht rühren durfte«. Der Erklärung seiner Großmutter zufolge sei »die Tante Carla« an einem »jähen Herzschlag« gestorben. Erst sehr spät habe er von den »melancholischen Details« eines Selbstmordes erfahren. Aber warum hat sich Carla umgebracht? Oder war es gar kein Suizid?
Dass es dunkle Geheimnisse in der Mann’schen Familiengeschichte und ihren Künstlerexistenzen geben muss, ahnt man. Heinrich Mann wollte seinen 1925 erschienenen Roman Kopf ursprünglich sogar Die Blutspur nennen. Dabei meinte er keineswegs nur die kriegerischen Verstrickungen des Kaiserreichs, sondern vor allem die dargestellte Ödipustragödie, »die durch das gesamte (eigene) Leben« führe. Aber kein Literaturdetektiv hat es bisher vermocht, konkrete Spuren von »Blaubartzimmern« in den Biographien frei zu legen. Die Frage aber, ob und wie man angesichts des Mangels an handfesten autobiographischen Zeugnissen dem dichterischen Werk der Familie das »Trauma« früher Schock- und Schanderlebnisse »entreißen« kann, bleibt bestehen. Das gilt vor allem für das kurze Leben und den jähen Tod von Carla Mann. Man hat keinen »Nachlass« gefunden – auch ihr Tagebuch ist verschwunden. Erhalten sind nur die meisten ihrer Briefe an den Bruder Heinrich. Schemenhaft bleibt vor allem ihr letztes Umfeld im elsässischen Mülhausen/Mulhouse. In den offiziellen Archiven der Stadt und des Theaters weiß man nichts über sie und die Familie ihres Verlobten Arthur Gibo sowie die schicksalhafte Affäre mit einem Arzt. Aufschlussreicher sind Werk und Lebensbeschreibungen ihrer Brüder (vor allem Heinrichs), Briefe der Mutter und auch Zeugnisse von wichtigen Bezugspersonen wie Theodor Lessing oder dem Rivaner Arzt Christoph von Hartungen. Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass Carla Manns Tod in erster Linie eine Familienaffäre war.
Am ausführlichsten hat der jüngste Bruder Viktor das tragische Geschehen und die unmittelbare Vorgeschichte in seiner Familienbiographie Wir waren fünf dargestellt. Demnach ereignete sich die Tragödie, so wie angezeigt, am späten Nachmittag des 30. Juli auf dem Schweighart’schen Gutshof im oberbayerischen Polling, dem damaligen Wohnsitz der Mutter Julia. Das auf mittelalterlichem Klostergrund entstandene Landhaus war schon lange vor der Jahrhundertwende ein Sommertreff von Malern und anderen Künstlern, die aus der nahen Großstadt München gern zur Erholung kamen. »Polling hat Atmosphäre«, pflegte Thomas Mann zu sagen. Für Carla schien diese »Atmosphäre« vor allem Geborgenheit zu bedeuten. Diese suchte sie in Polling meist dann, wenn ihr persönliche Probleme über den Kopf zu wachsen drohten und der Lieblingsbruder Heinrich für Trost und Schutz nicht zur Verfügung stand.
So auch im Juni 1910. Carla, die mit Unterbrechungen seit September 1907 am Stadttheater im elsässischen Mülhausen engagiert ist, hat die Sommerpause zur Flucht nach Polling genutzt. Wenig später kommt auch Viktor. Er leistet beim Münchener Feldartillerie-Regiment sein Freiwilligenjahr ab und darf sich nach anstrengenden Manövermärschen und Gefechtsübungen ein paar Tage bei seiner Mutter ausruhen. Stolz berichtet der Zwanzigjährige, dass man ihn demnächst zum Korporal ernennen wolle. Doch sosehr er sich auch bemüht, »Lustiges aus der Kaserne« zu erzählen, die »Mama« bleibt »von Sorgen ganz verdüstert«. Der Grund ist offensichtlich »das gespannte Wesen der Schwester«, das auch Viktor sofort bemerkt. Carla »fiel aus nervöser Heiterkeit in Grübeln und wechselte von Ansätzen der Aufgeschlossenheit zu spröder Abwehr jeder Teilnahme«. Alle seine »burschikosen Tröstungen« taugen nur wenig dazu, die Stimmung der Schwester zu »mildern«. Nur einer – da ist er sich sicher – »hätte mehr, viel mehr vermocht: Heinrich«. Aber der befindet sich in Südtirol. Immerhin vermag Viktors »naiver Zuspruch« für Carlas »Nervenzustand eine endliche Entspannung durch Mitteilsamkeit« zu bewirken. So erfährt er »ungefähr«, was in Mülhausen in den letzten Wochen und Monaten vorgegangen war.
Seit einiger Zeit ist die Schwester »mit einem elsässischen Herrn, einem jungen Großindustriellen, verlobt«. Er heißt Arthur Gibo und wirkt auf Viktor, wie der beim Anblick einer Photographie empfindet, als »ein außerordentlich gutaussehender, ja schöner Mann; schöner eigentlich, als es Männer sein dürfen«. Arthurs Familie, das heißt seine verwitwete Mutter, hatte Carla zunächst freundlich aufgenommen und die Verlobung gebilligt. Aber dann »waren geschäftspolitische Pläne aufgetaucht«, denen die Heirat des einzigen Sohnes mit einer offensichtlich nicht vermögenden Schauspielerin »zuwiderlief«, und »ein zäher, heimlicher Kampf« hatte begonnen. Für Viktor stellt sich das Geschehen so dar, dass man »nach Gründen für einen nachträglichen Einwand« suchte, »und da das Kommerzielle nicht zugegeben werden sollte, benutzte man den um eine schöne Schauspielerin natürlich besonders regen Klatsch, um Arthur wankend zu machen«. Dazu gehörten vor allem die in denunziatorischer Absicht verbreiteten Hinweise auf ein heimliches Verhältnis Carlas mit einem Arzt. Da ihr Verlobter sich im Kampf gegen die Familienintrige als »Schwächling« zu erweisen schien, »musste Carla in diesem Ringen Kraft für zwei einsetzen, was natürlich zermürbend war«, konstatiert Viktor Mann. Er sei damals aber noch »zu jung« gewesen, »um die ganze Schwere der seelischen Belastung« der Schwester zu begreifen, »dieses Entweder-Oder, das bei ihrem Charakter Himmel oder Abgrund hieß«. Er »wusste noch nicht, dass die Dinge sind, was sie uns scheinen«. Und »ganz im Stillen« war er geneigt, Carlas »Affäre« lediglich als bühnendramatisches Spiel zu betrachten, als ein Stück »von Kabale und Liebe«, aus dem sie ihr Herz wieder herausziehen könne, »wenn der Vorhang gefallen war«.
Bei ihren Spaziergängen durch die »sommerlich prunkende Landschaft« Pollings bringt er mit vermeintlicher »Forschheit, die ernüchtern sollte«, die Sache »auf ihre einfachste Formel«: »Entweder sei dieser hübsche Arthur Carlas Liebe wert und daher wirklich ihr Lebensglück, dann werde er sich als stark erweisen. Sei er aber schwach, dann wäre eben alles ein Irrtum gewesen; gewiss schmerzlich, aber immer noch besser als spätere Enttäuschung.« Die Schwester gibt ihm »bis zu einem gewissen Grad« recht und erklärt, dass sie auf eine grundsätzliche Aussprache mit dem Verlobten warte. Anfang Juli schließlich kommt ein »Brief aus dem Elsass«, der Clara glücklich zu stimmen scheint. Die letzten gemeinsamen Urlaubstage der Geschwister in Polling verlaufen, so Viktor, »heiter und ungetrübt«. Mutter und Schwester begleiten ihn zum Bahnhof. Es wird ein »lustiger Abschied«, Carla ruft ihm »im Ton eines Heinrich von Kleistschen Stückes« nach: »›Mach er’s gut, Korporal!‹« – und die Frauen »winkten...