Janson Winterapfelgarten
Version 1.V02
ISBN: 978-3-8437-0937-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0937-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und stammt ursprünglich aus Lübeck. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin in den italienischen Marken.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
Claudia wusste, was er sagen würde. Langsam näherte sie sich seinem Schreibtisch und blickte auf ihn hinab. Auf seiner runden Stirn glänzten Schweißtropfen, an seiner rechten Schläfe pochte eine dicke Ader. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Hand mit den kurzen dicken Fingern bedeutete ihr, sich zu setzen. Ihre watteweichen Knie gaben so schnell nach, dass sie hart auf dem Stuhl aufkam. Erschrocken zuckte er zusammen und starrte sie an. Er schwieg immer noch, obwohl sich seine Lippen bewegten. Oder? Ein Rauschen ging durch ihren Kopf. Claudia rubbelte heftig an ihren Ohren.
Schweigen. Es sei denn, sie war in den letzten paar Minuten taub geworden. Jetzt begann sie, sich gegen den Kopf zu klopfen. Es half nichts. Keine Silbe erreichte sie.
»Geht es Ihnen gut, Frau Konrad?«
Na endlich!
Sein irritierter Blick lag auf ihren Fingerknöcheln, die immer noch gegen ihren Schädel pochten, und sein Oberkörper neigte sich in ihre Richtung, bis die Schreibtischkante sich in seine Schlüsselbeine bohrte.
Prima, dachte Claudia, jetzt werde ich meinem Chef schon unheimlich. Nicht bloß zu alt und faltig für den Job.
Beinahe hätte sie gelacht. Sollte der kleine dicke Bernhard Beeks ruhig ein bisschen Angst vor ihr haben. Sie war schließlich auch einer Panik nahe. Das Rauschen schien noch zuzunehmen, aber drei Worte gingen ihr klar und deutlich durch den Kopf: Verjüngung, Konkurrenz und neue Perspektiven. Die hatten in der kurzen E-Mail gestanden, die Beeks ihr am frühen Morgen geschrieben hatte, zusammen mit der Bitte, im Laufe des Vormittags in seinem Büro zu erscheinen.
»Verjüngung! Ha!«, rief Claudia mit schriller Stimme.
Ihr Chef zuckte zurück.
»Konkurrenz! So ein Blödsinn! Neue Perspektiven! Dass ich nicht lache!«
»Frau Konrad …«
Wut war besser als Verzweiflung. Neue Energie durchströmte sie, verdrängte endlich das unheimliche Rauschen und ließ sie aufspringen. Nun stand sie weit über ihm. Immerhin.
»Sie können mich doch nicht für dumm verkaufen! Ich soll ins Büro abgeschoben werden, oder gleich ins Warenlager. Als Beraterin für die Kunden bin ich Ihnen zu alt und schrumpelig!«
Schrumpelig? Hatte sie wirklich schrumpelig gesagt? Claudia spürte, wie sie dunkelrot anlief.
»Ich muss doch bitten.«
Der kurze Moment der Scham verging, und sie blickte ihn fest von oben herab an. »Seien Sie doch wenigstens ehrlich zu mir. Ich finde, nach dreißig Jahren habe ich mir das verdient.«
Beeks fiel in sich zusammen, woraufhin er kaum noch über die Schreibtischplatte schauen konnte, und nickte.
»Ich bedauere es wirklich sehr, Frau Konrad, doch der Befehl kommt von oberster Stelle. Direkt aus der Konzerndirektion. Ich kann da nichts machen.«
Claudias Wut verpuffte ebenso schnell, wie sie aufgekommen war. Beeks war genau wie sie selbst nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Parfümerie Schwan. Ganz oben saßen Menschen, die sie noch nie persönlich kennengelernt hatte. Zu dem Konzern gehörten nicht nur rund fünfzig Filialen in Deutschland und ganz Europa, sondern auch Kosmetikstudios und Fabriken, in denen eigene Pflegeprodukte hergestellt wurden. Begonnen hatte die Firmengeschichte vor einem halben Jahrhundert mit der ersten Parfümerie in bester Lage unter den Hamburger Alsterarkaden. Das Logo war schnell gefunden. Ein goldumrandeter Schwan zierte nicht nur den Eingang, sondern bald auch Feuchtigkeitscremes, Lippenstifte, Körperpuder, Parfums und zahlreiche Artikel mehr, die allesamt der Verschönerung dienten. Die berühmten Alsterschwäne erwiesen sich bald als glückbringende Namensgeber.
Claudia kannte die Erfolgsgeschichte auswendig, und als junge Kosmetikerin war sie stolz gewesen, eine Anstellung in der Parfümerie Schwan zu bekommen. Noch dazu im Hauptgeschäft.
Jetzt war sie nur noch tief verletzt.
»Im letzten Quartal hab ich wieder am besten verkauft«, sagte sie. »Und Sie wissen das. Unsere Stammkundinnen verlassen sich auf meinen Rat.«
Das stimmte, aber Claudia war auch klar, dass sie nicht unersetzlich war. Es gab Kolleginnen, die genauso viel Sachkenntnis wie sie selbst besaßen – und die zehn Jahre jünger waren. Oder fünfzehn.
Bernhard Beeks setzte eine unglückliche Miene auf. »Sehr wohl, liebe Frau Konrad. Und genau diesen Einwand habe ich der Direktion gegenüber auch mit Vehemenz vorgebracht.«
Claudia unterdrückte ein Stöhnen. Wenn der Chef so gedrechselt daherredete, war alles verloren. Sie kannte ihn lange genug. Hinter solch komplizierten Sätzen verbarg er seine eigene Hilflosigkeit. Er war genauso machtlos wie sie selbst.
»Verflucht«, sagte sie laut. Dann musste sie grinsen. Claudia Konrad, gepflegt, elegant und ein vornehmes Beispiel für alle anderen Verkäuferinnen, wurde gewöhnlich. Wie befreiend doch ein einziges Schimpfwort wirken konnte!
Vielleicht sollte sie sich das Vokabular eines Bierkutschers zulegen, genau wie Jule. Endlich verstand sie, warum ihre Tochter neuerdings so gern Zoten riss. Kerzengerade stand sie da, kampfbereit.
»Frau Konrad! Ich muss doch bitten!«, wiederholte Beeks.
»Verflucht!«, rief sie.
Eine Sekunde lang sah er aus, als wollte er laut herauslachen. Aber er tat es nicht. Schade, dachte Claudia. Bernhard Beeks hätte sie nach den vielen gemeinsamen Arbeitsjahren wenigstens ein Mal überraschen können.
»Nehmen Sie es bitte nicht so schwer. Schauen Sie, ich arbeite doch auch nur hinter den Kulissen und bin sehr zufrieden.«
Aber ich bin weder klein noch fett, noch glatzköpfig, dachte sie böse.
Ihr Chef öffnete eine dünne Akte.
»Ich habe den neuen Vertrag bereits aufsetzen lassen. So verlieren wir keine Zeit, nicht wahr? Heute ist Montag, der elfte August. Zum ersten September können Sie Ihre neue Stellung antreten. Sie werden verstehen, dass Ihr Gehalt ein wenig reduziert werden muss. Es handelt sich ja um keine gleichwertige Arbeit. Im Warenlager …«
Kein Wort mehr! Das Rauschen in ihrem Kopf setzte wieder ein, und sie war dankbar dafür.
Sie würde nicht auf den Stuhl zurücksinken. Sie würde ihn nicht um Gnade anflehen. Sie würde einfach gehen. Genau!
»Ich pfeife auf Ihr Warenlager!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Ich kündige!«
Gut so. Nun noch umdrehen und mit drei Schritten die Tür erreichen. Den Kopf dabei hoch erhoben halten, den Rücken durchdrücken, keine Träne vergießen!
Dreißig Jahre lang eine der besten Fachverkäuferinnen der Parfümerie Schwan? Geschenkt!
Zig Prämien und Auszeichnungen bekommen? Egal!
Ihr zweites Zuhause inmitten edler Düfte und Wundercremes? Abgehakt!
Beeks rief ihr etwas nach, sie verstand nichts, lief durch den Flur, erreichte die Hintertür des Verkaufsraumes, betrat die Parfümerie und lächelte eine Kundin an, die ratlos vor einem Regal mit Anti-Falten-Cremes stand.
»Darf ich Ihnen helfen?«
Die Kundin, eine elegante Erscheinung um die sechzig, musterte Claudia von oben bis unten und nickte dann gnädig.
»Ich denke schon. Ich habe etwas über dieses neue Serum von La Pastie gelesen. Mit Hyaluronsäure und Coenzym Q10. Es soll wahre Wunder wirken.«
»Oh, gewiss.«
Ihre Mundwinkel schmerzten, ihr Lächeln fühlte sich an wie einbetoniert. Die letzten paar Minuten ihres Lebens hatte es nie gegeben. Alles war wie immer. Sie musste nur fest daran glauben. Rasch griff Claudia nach dem gewünschten Produkt, einem schmalen dunkelblauen Probefläschchen mit silbernem Verschluss. Sie schraubte ihn auf und ließ eine winzige Menge auf den Handrücken der Kundin tröpfeln.
»Bitte schön, fühlen Sie nur die samtige und zugleich kraftvolle Konsistenz. Ein paar wenige Tropfen am Tag rund um die Augen reichen schon. Das Serum wirkt tatsächlich Wunder, besonders in den Bilanzen des Herstellers.«
Sie bemerkte, wie ihre junge Kollegin Nadine näher kam, in den Augen ein Ausdruck der Verwunderung. Claudia achtete nicht weiter auf sie, sondern konzentrierte sich ganz auf die Kundin.
»Was sagen Sie da?« Die Dame hob zwei perfekt gezupfte Brauen. Ihre Stirn blieb dabei unnatürlich glatt.
»Schmieren Sie sich das Zeug aber lieber nicht da oben hin. Wenn die Substanz auf das viele Botox unter der Haut trifft, können sich kleine Knubbel bilden. Ungefähr erbsengroß, verstehen Sie? Und Erbsen auf der Stirn sehen nicht so hübsch aus.«
Claudia grinste jetzt, und ihre Mundwinkel entspannten sich.
Die Kundin machte vorsichtig zwei Schritte rückwärts. Dann krallte sie sich an Nadines goldfarbenem Kittel fest und stieß einen hellen spitzen Schrei aus, bei dem sämtliche Anwesende im Geschäft herumfuhren.
»Die da!«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf Claudia. »Die ist verrückt! Rufen Sie die Polizei!«
Nadine schaute verwirrt von einer zur anderen. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung zur Parfümeriefachverkäuferin abgeschlossen und sah in Claudia Konrad ihr großes Vorbild.
»Was ist denn los?«
»Die hat gesagt, mir wachsen so verdammte Erbsen auf der Stirn.«
Claudias Grinsen wurde noch breiter. Ganz so vornehm, wie ihre Erscheinung suggerierte, war die Dame wohl doch nicht.
»Erbsen?« Nadine befreite sich aus dem Klammergriff. »Wo denn? Sieht doch alles superglatt aus.«
Weitere Kundinnen und Verkäuferinnen kamen näher und bildeten einen Halbkreis aus goldenen Kitteln und sommerlichen Outfits von Escada,...