E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Janson Die Tortenbäckerin
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0783-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0783-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und stammt ursprünglich aus Lübeck. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin in den italienischen Marken.
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1
Greta steckte eine Haarsträhne zurück in den Nackenknoten, hob den schweren, gusseisernen Topfdeckel an und schnupperte. Ein Lächeln erschien auf ihrem erhitzten Gesicht, während Dampfschwaden durch die große Küche im Souterrain waberten und den Duft der Nordsee mitten in die Großstadt brachten.
»Mhmm, sie ist genau richtig.« Die Hamburger Krabbensuppe durfte jetzt nur nicht mehr kochen, sonst würde der zarte Spargel darin zerfallen.
Spargel im November! Greta verzog das Gesicht. Welch eine Verschwendung! Aber die Dame des Hauses hatte darauf bestanden. »Für meine Abendgesellschaft nur das Beste«, hatte sie gesagt. Natürlich nicht zu ihr, Greta, sondern zu ihrer Tante Mathilde, die seit zwanzig Jahren für die Herrschaft in ihrer prachtvollen Villa am Harvestehuder Weg kochte. Greta Voss wurde von Freia Hansen bestenfalls übersehen, schlimmstenfalls mit einem ärgerlichen Blick und hochgezogenen Brauen bedacht. Das hatte einen ganz bestimmten Grund, über den Greta aber lieber nicht nachdachte.
Also war sie, ohne zu klagen, in die Vorratskammer gegangen und hatte vom hintersten Regal die letzten fünf Weckgläser mit Spargel geholt.
Jetzt rührte sie die Suppe noch einmal vorsichtig mit einem langen Holzlöffel um, gab ein paar Tropfen in ein Schälchen und probierte mit gespitzten Lippen. »Ein kleiner Schuss Weißwein fehlt noch.«
Mathilde Voss überhörte die Bemerkung. Es ließ sich mit ihrer Ehre als Küchenmamsell nicht vereinbaren, Ratschläge von ihrer Nichte anzunehmen. »Beeil dich«, sagte sie deshalb nur. »Der Rehrücken muss mit dem Pilzfond übergossen werden.«
»Ich mach ja schon.« Greta tupfte sich mit einer Ecke ihrer bodenlangen Schürze ein paar Schweißperlen von der Stirn und öffnete dann die Ofenklappe. Augenblicklich vermischte sich der Meeresduft mit dem erdigen Geruch des Waldes. Die junge Köchin schloss kurz die Augen und schwieg. Mit jedem Küchenduft flogen ihr neue Bilder zu. Schon sah sie ein Rudel Rehe über eine sonnenbeschienene Lichtung laufen. Wie ein Wald genau aussah, wusste sie allerdings nicht, denn die kümmerlichen Bäume, die zu Hause in Altona den Evangelischen Kirchhof nur unzureichend beschatteten, zählten nicht. Aber Oliver, ein Junge aus ihrer Mietskaserne, hatte Greta oft von den Wäldern in seiner Heimat erzählt. Er stammte aus einem Dorf in Holstein und war letztes Jahr mit seinen Eltern in die Nachbarwohnung an der Georgstraße gezogen. Wenn man ihm glauben durfte, gab es auf dieser Welt nichts Schöneres, als an einem kalten Herbstnachmittag durchs Unterholz zu kriechen und nach Champignons und Pfifferlingen zu suchen.
Leni würde das gefallen, dachte Greta und vergaß für einen kostbaren Moment, weshalb sie vor der offenen Ofenklappe hockte. Ihr Herz eilte zu einem kleinen Mädchen mit blonden Locken und hellen, wie verwaschen wirkenden Augen. Viel heller als Gretas Augen, die selbst im strahlenden Mittagslicht an die Farbe erinnerten, die die Nordsee annahm, wenn ein starker Sturm aus Nordwest heranzog.
Greta lächelte in sich hinein. Sie konnte geradezu sehen, wie Lenis schlanke, flinke Händchen sich tief in den Waldboden gruben, auf der Suche nach Käfern oder in dem Wunsch, die kalte, feuchte Erde zu begreifen. Greta musste sie dann schelten, wie es sich gehörte, obwohl sie sich viel lieber neben sie knien und Leni fasziniert dabei zuschauen würde, wie sie die Welt auf ihre ganz eigene Art entdeckte.
»Kind, du träumst schon wieder!« Mathildes energische Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ich möchte bloß wissen, wo du immer mit deinen Gedanken bist.«
Das willst du nicht, dachte Greta erschrocken. Das willst du ganz bestimmt nicht.
»Der Pilzfond gießt sich nicht von allein über den Rehrücken. Und dann schließ die Klappe, sonst müssen wir noch mehr Briketts nachlegen.«
Greta nickte nur. Der Wald und die kühle Erde verschwanden, einzig Leni sah sie noch eine Weile aus ihren himmelhellen Augen an. Ein wenig vorwurfsvoll, weil sie so gern noch länger in der Erde gegraben hätte.
Dann war auch sie fort. Greta fuhr sich über die Stirn, als könnte sie damit ihre Seelenpein fortwischen, schöpfte sodann mit einer großen Kelle den köchelnden Sud über das Fleisch, schloss endlich die Ofenklappe und starrte eine Weile blicklos vor sich hin.
»Willst du da bis morgen hocken bleiben, oder können wir weitermachen?« Die Stimme ihrer Tante war jetzt so schneidend wie das schärfste Messer in der Küche.
Mit einem leisen Ächzen richtete Greta sich wieder auf. Sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, und trotz ihrer Jugend spürte sie nach einem langen, harten Arbeitstag jeden Knochen in ihrem schmalen Körper.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie, »warum die Herrschaft nicht schon lange einen Gasherd angeschafft hat. Oben im Haus haben sie in allen Räumen Gaslicht. Nur wir hier unten müssen uns noch mit Kohle plagen. Aber in der Beletage wollen sie bald sogar diese neumodische Sache, die Elektrizität, anschaffen.« Sie war stolz darauf, das schwierige Wort einwandfrei herausgebracht zu haben, und merkte zu spät, dass sie einen viel schlimmeren Fehler begangen hatte.
Mathilde, die fünfzig Pfund mehr wog als ihre Nichte und einen ganzen Kopf größer war, stemmte die Fäuste in ihre nur unzureichend geschnürte Taille. »Soso. Und woher willst du so etwas wissen?«
»Habe ich halt gehört.« Greta wandte sich ab und sah, wie die beiden Küchenmädchen Marie und Paula tuschelnd am anderen Ende der Küche die Köpfe zusammensteckten. Sie waren beide blond, und mit ihren runden Gesichtern und rosigen Wangen hätten sie Geschwister sein können, stammten aber aus entgegengesetzten Orten des Kaiserreiches. Marie war vor vielen Jahren mit ihrer Familie aus München nach Hamburg gezogen, Paula stammte aus Königsberg und hatte polnische Vorfahren. Trotzdem verstanden sich die beiden prächtig, vor allem, wenn es darum ging, über die Herrschaft oder wenigstens über die höhergestellten Bediensteten zu tratschen. Im Augenblick waren sie damit beschäftigt, auf dem riesigen Eichenholztisch einen Eisblock in kleine Stücke zu hacken. Marie, die etwas kräftiger war, machte die grobe Arbeit, Paula schaufelte mit rotgefrorenen Händen die Eissplitter in eine Kristallschüssel. Auf die kalte Unterlage kamen später die Dessertschälchen mit roter Grütze und Vanillesoße. Sie waren fleißige Mädchen, aber manchmal bekamen sie das Nudelholz der Mamsell zu spüren, weil sie ihren Mund nicht halten konnten.
Am meisten Gesprächsstoff lieferte ihnen Greta. Die war nur ein paar Jahre älter als sie selbst, tat aber immer furchtbar eingebildet und erfahren. Pah! Nur weil sie die Nichte der Mamsell war, war sie noch lange keine feine Dame. Und sie würde auch nie eine werden! Jeder hier im Souterrain wusste, dass Greta es auf den schönen Christoph Hansen, den Sohn des Hauses, abgesehen hatte. Aber wenn sie wirklich darauf hoffte, eines Tages in die oberen Stockwerke zu wechseln – nun, da hatten die beiden Küchenmädchen eine böse Überraschung für sie parat. Marie warf Paula einen wissenden Blick zu. Sie warteten schon den ganzen Tag auf die passende Gelegenheit, ihre große Neuigkeit loszuwerden. Auf Gretas Gesicht waren sie beide gespannt. Paula blies ihre Wangen auf und vergrub die gefühllosen Finger im Eis. Geduld war nicht ihre Stärke.
Hätte nur eine von ihnen etwas von Gretas großem, ungeheuerlichem Geheimnis geahnt, wären sie alle beide bis ans Ende ihrer Tage mit Gesprächsstoff versorgt gewesen.
Greta wusste nicht, was in den Köpfen von Marie und Paula im Moment vorging, sie ahnte nur, es war nichts Freundliches. Mit einem leisen Seufzen drehte sie sich wieder ihrer Tante zu. »Als Köchin bekommt man so einiges mit«, meinte sie vage und hoffte, die Tante würde es dabei bewenden lassen.
Sie hätte sie besser kennen müssen.
»Erstens«, sagte Mathilde noch eine Spur strenger, »bin ich hier die Köchin und du bloß meine Gehilfin. Und zweitens, mein liebes Kind …«
Greta ließ ihre Tante nicht ausreden. »Ich bin kein Kind mehr, sondern zweiundzwanzig Jahre alt.«
Eines der beiden Küchenmädchen flüsterte kichernd etwas von einer alten Jungfer, aber Greta tat, als hörte sie es nicht. Sollten die beiden doch über sie herziehen! Lieber galt sie als spätes Mädchen, als dass irgendjemand die Wahrheit kannte. Greta begegnete furchtlos Mathildes Blick. »Du hast selbst oft genug gesagt, dass ich inzwischen genauso gut kochen kann wie du. Schließlich hast du mir alles beigebracht.«
Die beiden Frauen standen sich gegenüber wie Faustkämpfer in einem Zirkuszelt auf St. Pauli, dem verrufenen Vergnügungsviertel nahe des Hamburger Hafens. Niemand, der die zwei zum ersten Mal sah, hätte sie für Tante und Nichte gehalten. Mathildes graues Haar wies noch Spuren seiner einstigen feuerroten Farbe auf, die ihr in jungen Jahren den Ruf einer heißblütigen Frau eingetragen hatte. Ihre Gesichtszüge waren eher grobknochig und schlicht, während Gretas herzförmiges Antlitz an die Tuschebildchen der Madonna erinnerte, wie sie die wenigen Katholiken in der Georgstraße manchmal bei sich trugen. Ihr rotbraunes Haar ließ sich nie schicklich in einem Knoten bändigen. Immer wieder lösten sich einzelne Strähnen und umspielten frech ihr hübsches Gesicht. So viel Schönheit konnte einer Deern nur Unglück bringen – genau dasselbe hatte Mathilde schon damals gedacht, als ihr Bruder Fritz ihr seine junge Frau Viola vorgestellt hatte. Ein Mädchen aus dem Rheinischen, hübsch anzusehen, aber von schwacher Konstitution und mit keinerlei praktischer Begabung.
»Die passt nicht zu uns«, hatte Mathilde gesagt. »Sie ist zu...