E-Book, Deutsch, Band 2785, 144 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Jansen / Osterhammel Dekolonisation
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-82700-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Ende der Imperien
E-Book, Deutsch, Band 2785, 144 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-82700-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kaum ein Vorgang veränderte die Welt im 20. Jahrhundert so sehr wie das Ende kolonialer Herrschaft in Asien und Afrika. In systematischen und chronologischen Kapiteln beschreibt das Buch diesen Prozess mit seinen weiten Ausläufern im gesamten Jahrhundert und bietet lokale, imperiale und globale Erklärungen an. Es fragt nach den Auswirkungen der Dekolonisation auf Weltwirtschaft, internationales System und Ideengeschichte sowie nach den vielfältigen langfristigen Folgen für die ehemaligen Kolonien und Metropolen.
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I. Dekolonisation als Moment und Prozess
«Dekolonisation» ist ein technischer und undramatischer Begriff für einen der dramatischsten Vorgänge der neueren Geschichte: den Niedergang des Imperiums als politischer Organisationsform und das Ende von Rassenhierarchie als weithin akzeptierter politischer Ideologie und Strukturprinzip der Weltordnung. Man kann diesen historischen Prozess mit einer zweiteiligen Definition fassen, die ihn eindeutig in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verankert: Dekolonisation ist demnach erstens die gleichzeitige Auflösung der multikontinentalen Imperien innerhalb des kurzen Zeitraums von drei Jahrzehnten (1945–75) und deren Ersetzung durch formal souveräne Staaten im Globalen Süden[1], verbunden mit, zweitens, einer weltweit anerkannten Delegitimierung jeglicher Herrschaft, die als ein Untertanenverhältnis zu Fremden empfunden wird.[2] Alternative Definitionsversuche setzen andere Akzente. Prasenjit Duara betont weniger den Zerfall von Imperien als den lokalen Machtwechsel in spezifischen Kolonien, wenn er Dekolonisation bestimmt als «den Prozess, durch den Kolonialmächte die institutionelle und rechtliche Herrschaft über ihre Territorien und abhängigen Gebiete an formal souveräne Nationalstaaten übertrugen, deren Regierungen aus den jeweiligen Ländern heraus gebildet wurden». Auch er fügt einen normativen Aspekt hinzu: Die Ablösung politischer Ordnungen sei eingebettet in einen globalen Wertewandel. Sie bedeute einen Gegenentwurf zum Imperialismus im Namen von «sozialer Gerechtigkeit und politischer Solidarität».[3] Es ist ebenso möglich, konkret danach zu fragen, wann die formale Dekolonisation eines Gebietes erreicht war. Dies war der Fall, sobald eine lokal gebildete Regierung die Amtsgeschäfte übernommen hatte, die völkerrechtlichen und symbolischen Formalitäten des Souveränitätswechsels vollzogen waren und der neue Staat – meist schon in kurzer Zeit – in die Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Ein solcher «transfer of power» war eingebettet in umfassendere Prozesse der Ausweitung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Souveränität. Dekolonisation kann also auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden, und ihre zeitliche Erstreckung variiert je nach thematischem oder regionalem Schwerpunkt. Diese Unschärfe ist Teil des historischen Vorgangs selbst und kann nicht einfach wegdefiniert werden. Aus globaler Sicht hatte die Dekolonisation ihre entscheidende Phase in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Kernphase muss jedoch in eine längere Geschichte mit weniger scharf umrissenen Konturen eingebettet werden. Jene längere Geschichte der Dekolonisation reicht von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zu den zahlreichen Nachbeben, die bis in die Gegenwart spürbar sind. Den Begriff «Dekolonisation» – «Dekolonisierung» und «Entkolonialisierung» sind schwerlich bessere Alternativen[4] –findet man vereinzelt schon vor 1950, in signifikanter Häufigkeit aber erst seit Mitte der 1950er Jahre.[5] Es handelte sich zunächst um ein Wort aus dem Sprachschatz von Praktikern und Zeitzeugen. Das, was heute als sein kühler und technischer Charakter erscheint, spiegelt eine damals verbreitete Vorstellung. Die politischen Eliten in Großbritannien und Frankreich, den letzten verbliebenen Kolonialmächten von Rang, glaubten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Übergabe der Regierungsgewalt an «vertrauenswürdige» einheimische Politiker in den bis dahin beherrschten Gebieten steuern, nach eigenen Vorstellungen gestalten oder hinauszögern zu können. Sie hofften, dass solche Übergänge sich eher in Jahrzehnten als in wenigen Jahren und unter friedlichen Umständen vollziehen würden. Ebenso bestand die Erwartung, dass die neuen unabhängigen Staaten – nicht ohne Dankbarkeit für langjährige koloniale «Partnerschaft» – harmonische Beziehungen zu ihren früheren Kolonialmächten pflegen würden. In diesem Sinne wurde Dekolonisation als Strategie und politisches Ziel der Europäer verstanden, das mit Geschick und Entschlossenheit zu erreichen sei. Der tatsächliche Verlauf der Dekolonisation ähnelte selten einem solch geordneten und steuerbaren Vorgang. Die Machbarkeit des Prozesses wurde von der historischen Wirklichkeit, von Eigendynamiken, Beschleunigungen, unbeabsichtigten Nebenwirkungen und historischen Zufällen infrage gestellt. Während beispielsweise viele Kolonialexperten nach 1945 in Asien das Ende kolonialer Herrschaft ins Auge fassten, waren sich fast alle in dem Glauben an eine dauerhafte koloniale Zukunft in Afrika einig – ein Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte. Dekolonisation bedeutete somit auch die fortwährende Enttäuschung einer imperialen Illusion der Permanenz. Sie markiert einen dynamischen historischen Moment, dessen Ausgang nicht von vornherein feststand. Konkurrierende Optionen wurden durchdacht, verhandelt, gewaltsam ausgekämpft, von den Ereignissen überholt und manchmal auch wieder vergessen. Es ist im Rückblick eine große Herausforderung, diese Offenheit der Zukunft in den Augen der Erlebenden und Handelnden Jahrzehnte später nicht zu dem oberflächlichen Eindruck zu verflachen, es hätte alles so kommen müssen, wie es tatsächlich kam.[6] Auch wenn sie im Einzelfall friedlich ablief, war Dekolonisation als Gesamtprozess eine gewaltsame Angelegenheit. Die Teilung Indiens 1947 (mit circa 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen die größte zeitlich komprimierte Zwangsmigration des 20. Jahrhunderts), der Algerienkrieg (1954–62) und der Indochinakrieg (1946–54) gehören zu den schlimmsten Gewaltereignissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf den indonesischen Inseln herrschte zwischen 1945 und 1949 ein blutiges Chaos.[7] In all diesen Fällen ist es unmöglich, genaue Opferzahlen zu nennen. Das Bild wird noch düsterer, wenn man den Koreakrieg (1950–53) und den Krieg zwischen den USA und dem vietnamesischen Nationalkommunismus (1964–73) als Folgekriege von Dekolonisationen betrachtet und auch Bürgerkriege einbezieht, die kurz nach der Dekolonisation stattfanden (Kongo, Nigeria, Angola, Mosambik usw.). Aufständische und Kolonialmächte trugen ihre Konfrontation teilweise mit großer Brutalität aus. In manchen Fällen, zum Beispiel Kenia, ist deren Ausmaß erst ein halbes Jahrhundert später bekannt geworden.[8] Einige andere Ereignisse, zum Beispiel die grausame Unterdrückung des Aufstandes im französischen Madagaskar 1947–49, sind aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu völlig verschwunden. Inzwischen ist die Dekolonisation als Nationalstaatsbildung abgeschlossen. Lebten noch 1938 schätzungsweise 644 Millionen Menschen in Ländern, die als Kolonien, Protektorate oder «abhängige Gebiete» (dependencies) deklariert wurden (die britischen Dominions nicht mitgerechnet), so registrieren die Vereinten Nationen heute nur noch 17 «Territorien ohne Selbstregierung» mit insgesamt weniger als 2 Millionen Einwohnern als «remaining to be decolonized».[9] Nicht alle dieser letzten kolonialen Untertanen, zum Beispiel die 34.000 Bewohner Gibraltars, verspüren einen starken Drang zu self-government. Der Begriff der Dekolonisation hat sich noch während der großen Veränderung von den Illusionen der damaligen europäischen Akteure gelöst und die weiter gefasste Bedeutung einer umfassenden Abkehr von Fremdbestimmung angenommen. Als knappes Etikett bezeichnet er, was der Historiker Dietmar Rothermund «vielleicht den wichtigsten historischen Prozess des 20. Jahrhunderts» genannt hat.[10] Souveränität und Normenwandel
Der Untergang des Kolonialismus stellt sich aus anderer Perspektive als das Ende der europäischen Übersee-Imperien dar. «The end(s) of Empire» ist deshalb ein in der englischsprachigen Literatur gebräuchliches Synonym für «Dekolonisation». Diese Redeweise macht deutlich, dass Dekolonisation nicht nur einen tiefen Einschnitt in der Geschichte ehemals kolonisierter Länder bedeutete, sondern auch mehr als eine Fußnote in der Geschichte Europas ist. Sie führte als «Europäisierung Europas» dazu, «dass Europa auf sich selbst zurückgeworfen ...