E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Janeczek Das Mädchen mit der Leica
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8270-8002-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8270-8002-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helena Janeczek wurde 1964 in München als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie geboren und ging 1983 nach Italien. Sie lebt in Gallarate, wo sie auch ein Literaturfestival kuratiert. 1989 publizierte sie im Suhrkamp-Verlag einen Lyrikband (Ins Freie). Fortan schrieb sie auf Italienisch: 1997 erschien bei Mondadori ihr Buch, Lezioni di tenebra, (Lektionen des Verborgenen, Kiepenheuer und Witsch 1999). Darin verhandelt sie Autobiografisches, die Übertragung der tabuisierten Erinnerung der Mutter an ihre Deportation nach Auschwitz auf die Tochter. 2002 folgte der Roman Cibo (Essen, Kiepenheuer und Witsch 2002), ein Romanmosaik in dem es um das komplizierte Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Lebensgrundlage geht. Es folgten Essays und Erzählungen und zwei weitere Romane. 2017 erschien ihr Roman, La ragazza con la Leica (Das Mädchen mit der Leica) der es auf die Shortlist des Premio Campiello schaffte und mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde.
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Prolog
Paare, Fotografien,
Koinzidenzen #1
Seit du dieses Foto gesehen hast, hat dich ihr Anblick verzaubert. Sie scheinen glücklich, sehr glücklich, und sie sind jung, wie es sich für Helden gehört. Ob sie schön sind oder nicht, kannst du nicht sagen, heldenhaft sehen sie jedenfalls nicht aus. Das liegt an dem Lachen, das ihre Augen verschließt und die Zähne entblößt, nicht fotogen, aber so unverstellt, dass es sie hinreißend macht. Er hat ein Pferdegebiss, das er bis zum Zahnfleisch zeigt. Bei ihr hebt sich der Eckzahn von der Zahnlücke dahinter ab, wenn auch mit der Anmut charmanter kleiner Schönheitsfehler. Das Licht schmiegt sich an das Weiß des gestreiften Hemdes und rinnt über den Hals der Frau. Ihre strahlende Haut, die Diagonale der Sehnen, die das auf die Rückenlehne gelegte Profil hervortreten lässt, und selbst die geschwungenen Armstützen verstärken die fröhliche Energie, die ihr einmütiges Lachen freisetzt.
Sie könnten auf einem Platz sein, doch die bequemen Armstühle lassen eher einen Park vermuten, der sich als Hintergrund in einem dichten Laubvorhang verliert. Du fragst dich, ob dieser Ausschnitt, den sie ganz für sich haben, dem Garten einer großbürgerlichen Villa entstammt, deren Bewohner über die Grenze geflohen sind, seit in Barcelona die Revolution gärt. Jetzt gehört dieses schattige Plätzchen unter Bäumen dem Volk: diesen beiden, die sich mit geschlossenen Augen anlachen.
Die Revolution ist ein Tag wie jeder andere, an dem man loszieht, um den Putsch aufzuhalten, der sie ersticken will, doch eine ausgelassene Waffenruhe lässt man sich nicht nehmen. Den mono azul wie ein Sommerkleid tragen, eine Krawatte unter die Latzhose binden, um für den anderen schön auszusehen. Da braucht es das klobige Gewehr nicht, das durch die Hände wer weiß wie vieler unglücklicher Soldaten gegangen ist, ehe es bei dem anarchistischen Milizionär landete, der den strahlenden Hals seiner Frau jetzt nicht streicheln darf.
Von dieser Einschränkung abgesehen, sind sie im Hier und Jetzt gänzlich frei. Sie haben bereits gewonnen. Wenn sie sich ihr Lachen bewahren und weiterhin so glücklich sind, scheint man nicht unbedingt wissen zu müssen, wie man diesem alten Schießprügel einen Schuss entlockt. Siegen wird, wer auf der richtigen Seite steht. Jetzt können sie die vom Laub gedämpfte Sonne genießen, die Gesellschaft des geliebten Menschen.
Die Welt muss es erfahren. Sie soll auf einen Blick sehen, dass es auf der einen Seite den jahrhundertealten Krieg gibt, die aus Marokko angelandeten Generäle mit den grausamen Söldnertruppen, und auf der anderen Seite Menschen, die das, was sie leben, verteidigen wollen und einander begehren.
In diesem frühen August des Jahres 1936 kommen sie in Scharen nach Barcelona, um sich dem ersten Volk Europas anzuschließen, das sich, ohne zu zögern, gegen den Faschismus bewaffnet hat. In der universellen Sprache der Bilder, die in der halben Welt an den Kiosken prangen, in den Partei- und Gewerkschaftsbüros hängen, von Zeitungsverkäufern geschwenkt und wiederverwendet werden, um Eier und Marktwaren darin einzuwickeln, und die selbst denen ins Auge springen, die Zeitungen weder kaufen noch lesen, erzählen sie von der Stadt in Aufruhr.
Brüderlich heißen die Barceloner die Fremden willkommen. Die herbeigeströmt sind, um an ihrer Seite zu kämpfen. Die sich an das allgegenwärtige Babel gewöhnen und Gefallen daran finden, mit compañero und compañera zu grüßen und sich mit Gesten, Lautmalereien und Taschenwörterbüchern zu behelfen. Zum steten Strom zur Freiwilligenmiliz gehören auch die Fotografen, die nicht auf Waffen und Training aus sind. Sie kommen für uns, sie sind wie wir, Genossen. Wer sie bei der Arbeit sieht, begreift und lässt sie gewähren.
Doch die beiden Milizionäre auf dem Foto sind von ihrem Lachen so überwältigt, dass sie nichts bemerken. Ihr Porträtist tritt ein Stück zur Seite, drückt abermals auf den Auslöser und droht sich mit der noch größeren Nahaufnahme des von seinem strahlenden, innigen Lächeln geeinten Paares zu verraten.
Das Foto scheint mit dem ersten fast identisch zu sein, doch nun wird sichtbar, dass es den Mann und die Frau vor lauter Verliebtheit nicht kümmert, was um sie herum geschieht. Der scherenhafte Schritt eines Passanten, der das Straßenpflaster im Hintergrund zerteilt, verrät, dass sie nicht in einem Park, sondern womöglich auf den Ramblas sind, wo sich die mobilmachende Stadt versammelt. Im Armstuhl neben ihnen sitzt eine weitere Frau.
Von ihr ist nicht mehr als eine Strähne krausen Haars und ein bekleideter Arm zu sehen. Wie gern wärst du an ihrer Stelle, um das, was die Bilder zwar erahnen lassen, sich aber deinem Blick entzieht, mit eigenen Augen zu sehen.
Der Fotograf, der die beiden Kameraden festgehalten hat, ist nicht allein. Es sind ein Mann und eine Frau, Seite an Seite stehen sie am rechten Straßenrand.
Dann stößt du auf das Foto einer Frau, die in genau so einem Armsessel sitzt, und hältst ein so unverschämtes Glück für kaum möglich. Bis du ganz oben rechts im Bild ein schmales Stück Profil des jungen Milizionärs entdeckst, der auf den anderen Bildern seine blonde Freundin anstrahlt.
Diese Arbeiterin mit einer Modezeitschrift in den dazu nicht passen wollenden Händen und einem Gewehr zwischen den Knien scheint wahrlich nicht der Typ zu sein, der sich vom Auftauchen eines Fotografenpaares, das um das schallende Lachen ihrer verliebten Kameraden wetteifert und anschließend auch sie verewigt, zu klatschhafter Neugier hinreißen lässt. Nein, sagst du dir, über Dinge, die sie nichts angehen, sieht eine wie sie hinweg. Zwar bleibt sie wachsam, denn immerhin hat man ihr eine Waffe gegeben, aber vor allem will sie den kurzen Moment des Friedens genießen.
Doch ein paar Tage später – so stellst du dir vor – kommt diese Milizionärin zum Exerzieren an den Strand und trifft die beiden Fotografen wieder. Er mit dieser zigeunerhaften Hemdsärmeligkeit, sie fast wie ein Mannequin, das der auf den Ramblas gelesenen Zeitschrift entstiegen sein könnte, allerdings mit einem klobigen Fotoapparat um den Hals, der ihr gegen die Hüften schlägt.
Jetzt ist die Frau neugierig: Wer sind die beiden? Wo kommen sie her? Haben sie eine Affäre, wie sie in diesem Klima aus Mobilisierung, Hochsommer und Freiheit zahlreich gedeihen, oder sind sie Mann und Frau?
Wohl etwas in der Art, denn eingespielt und routiniert werfen sie sich ein paar Worte in einer harten Sprache zu. Sie ist heiter und flink wie eine Katze, doch sehr bedacht, wenn sie die Kameradinnen anweist, wie sie ihre Waffen halten sollen. Die beiden legen sich mächtig ins Zeug, sind euphorisch und gut gelaunt und verteilen aus Dank und als Zeichen der Brüderlichkeit sogar Gauloises.
»Die habe ich schon mal gesehen«, bemerkt die Milizionärin, als die Fotografen davongehen und sich erregtes Getuschel erhebt, doch niemand beachtet sie. Alles Interessante weiß der Genosse Journalist, der die beiden hergebracht hat. Sie sind frisch aus Paris eingetroffen und haben bereits ihren Hals riskiert, als das zweimotorige Flugzeug in der Sierra notlanden musste. Ein hohes Tier von der französischen Presse hat sich dabei den Arm gebrochen, doch die beiden haben nicht einen Kratzer abbekommen, dem Himmel sei Dank. Er heißt Robert Capa und sagt, Barcelona sei wunderbar und erinnere ihn an seine Geburtsstadt Budapest, doch solange dort Admiral Horthy und sein reaktionäres Regime am Ruder seien, könne er nicht dorthin zurück. Seine Gefährtin Gerda Taro muss wohl alemana sein, eine von diesen jungen Emanzen, die nicht einmal vor Hitler kuschen.
»Weiß man schon, wann die Fotos erscheinen?«, bedrängen ihn die Milizionärinnen.
Der Journalist verspricht, sich zu erkundigen, allerdings nicht bei den Fotografen, die demnächst in die Kampfgebiete aufbrechen: Zuerst fahren sie an die Front von Aragón und dann runter nach Andalusien.
Ein Jahr nach diesen Aufnahmen hat es in Barcelona unter den vom Kreuzer Eugenio di Savoia zerbombten Häusern die ersten achtzehn Toten gegeben. Die Milizen wurden aufgelöst, die Milizionärin ist in die Fabrik zurückgekehrt. Vielleicht näht sie Uniformen für das Ejército Popular, in dem die Anarchisten widerspruchslos gehorchen müssen und Frauen keinen Platz mehr haben. Doch in den Werkshallen hört man auch weiterhin Radio, kommentiert die Nachrichten und macht sich Mut.
Du stellst dir vor, wie jemand aus einer Zeitung vom 27. Juli 1937 vorliest. Darin steht, Madrid leiste heldenhaft Widerstand, wenngleich der Feind mithilfe der deutschen und italienischen Luftwaffe auf Brunete vorgerückt sei, wo sich ein tragisches Unglück ereignet habe. Eine Fotografin habe ihr Leben gelassen, sie sei von weither gekommen, um den Kampf des spanischen Volkes zu verewigen, und ein solches Vorbild an Tapferkeit, dass General Enrique Líster an ihrem Sarg niedergekniet sei und der Dichter Rafael Alberti der Genossin Gerda Taro die feierlichsten Worte gewidmet habe.
»Ist das nicht die, die uns am Strand fotografiert hat?«, ruft eine Arbeiterin und lässt die Mädchen aufhorchen, die schwatzend am Eingang der Werkshalle stehen. Ja, genau die: In dem Artikel wird auch der ilustre fotógrafo húngaro Robert Capa que recibió en París la trágica noticia erwähnt.
Die Arbeiterinnen der Uniformfabrik sind betroffen, die Erinnerungen holen sie ein.
Die Sonne auf den Schultern, der Sand in den Schuhen, das Gelächter, wenn eine von ihnen unter dem Rückstoß der Waffe über die Strandlinie taumelte, der begeisterte Jubel, kaum traf eine andere das Ziel. Und dann diese Fremde, eine...




