Jancar / Jancar | Nordlicht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Jancar / Jancar Nordlicht

Roman
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99037-136-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-136-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



'Diese Stadt ist seine Falle, und in die ist er geraten.' Ein unheimliches Nordlicht erglüht über Mitteleuropa. Was kann das Zeichen bedeuten? Eine Dienstreise führt Josef Erdmann am 1. Januar 1938 in seine Geburtsstadt Maribor. Das vergebliche Warten auf den Geschäftspartner, der nie ankommen wird, die heimliche Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau aus guter Gesellschaft und die Bekanntschaft mit zwielichtigen Gestalten ziehen Erdmann immer mehr in einen fatalen Abgrund. Sinnbild der heraufziehenden Katastrophe ist das unerklärliche Nordlicht über der Stadt, das jede Bewegung, jede Tätigkeit stillstehen lässt. Mit einem Nachwort von Claudio Magris Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur 2020

Drago Jan?ar, geboren 1948 in Maribor, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Sloweniens. 1974 wurde er wegen 'feindlicher Propaganda' inhaftiert. Zahlreiche Preise, u. a. Prix européen de littérature 2012. Seine Romane, Essays und Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt bei Folio: Der Baum ohne Namen (2010), Der Galeerensträfling (2015), Die Nacht, als ich sie sah (42020).

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19
Im Traum war ich in einer Straße in Wien, aber die Häuser waren so klein, als wäre es in Lienz. Ich hörte die Stimme meines Vaters, er sagte etwas, ich sprach ihm nach, aber ich verstand nichts, weder seine noch meine Worte. Daran erinnere ich mich. Und als ich aufgewacht war, kam mir auch das, was um mich herum war, plötzlich ganz unwirklich vor. Und das, was geschehen war. Ich musste hinunter in die Kärntner Straße, um mir Gewissheit zu verschaffen. Ich ging unter den Fenstern der leeren Wohnung auf und ab, ich ging durch die feuchte Toreinfahrt und stand lange im Hof. Alles war da und obwohl sie nicht da war, war alles so sehr da, dass es wirklich war. Dann ging ich ohne Gedanken, aber voll ihres stillen Gesichts und ihres abwesenden Blicks, am Fluss entlang. Ich ging über eine kleine Brücke und sah hoch über dem Ufer einen Kirchturm. Mein Herz schlug schneller. Fast lief ich den breiten Weg zwischen den Bäumen die Uferböschung hinauf und kam ganz außer Atem vor einer Kirchentür zu stehen. Einen Augenblick stand ich dort, dann stieß ich die Tür mit einem Ruck auf, dass vor mir das leere hohle Schiff gähnte. Ich trat ein und hörte in dem großen Raum mein lautes Atmen. Im selben Moment war mir klar, dass es nicht sie war. Es war nicht die Kirche. Trotzdem ging ich zum Altar. Andere Heilige und andere Götter standen dort oben und andere Bilder vom Kreuzweg hingen überall an den Wänden. Draußen kühlte ich mir mit einer Handvoll Schnee die heiße Stirn und die Schläfen. Ich kehrte auf einem anderen Weg in die Stadt zurück. In der Trafik an der großen Brücke, wo oben an der Fassade ein Türke mit gekreuzten Beinen aufgemalt ist, kaufte ich eine Zeitung. Ich wollte ins Hotel und in mein Zimmer, aber dort drinnen waren das undeutliche Gerede meines Vaters und meine undeutlichen Worte. Ich ging vorbei und weiter in den Park und machte vor der Eislaufbahn halt. Ich beobachtete ein Paar, er in Pumphosen und sie in einem weiten schwarzen Rock, wie es sich ausdauernd drehte. Als wären sie aufgezogen, drehten sie sich um eine unsichtbare Achse. Die Achse war unsichtbar und die Musik unhörbar. Ganz sicher summte unter dem ausdauernden Drehen der Tänzer eine Melodie vor sich hin oder sagte den unaufhörlichen Walzerrhythmus an: eins-zwei-drei, zwei-zwei-drei. Eine Melodie mussten sie im Ohr haben, so aufgezogen wie sie waren, sodass sie jetzt nur noch den Takt und das Brausen hinzufügten, und in ihren Ohren erklang ein mächtiges Wiener Orchester und vor ihren Augen wogten die Wellen der blauen Donau, die überhaupt nicht blau ist, sondern ganz schmutzig, grünbraun. Die beiden sahen die Welt anders als ich, dem sie recht sonderbar vorkamen mit ihrem unaufhörlichen, aufgezogenen Drehen und dem Knirschen des Eises unter ihren Schlittschuhen. Und genau so musste der Mann, der plötzlich zu mir getreten war, von einer völlig anderen Welt wissen. Diese Welt kenne ich nicht, aber er ist zutiefst davon überzeugt, dass ich in ihr bin, dass ich ihr Bestandteil bin. Ich muss sagen, dass ich ihn sehr überrascht ansah, als er einfach so zu mir trat und mich plötzlich fragte: „Sind Sie nach dem Essen im Hotel?“ Ja, er fragte einfach so, sind Sie nach dem Essen im Hotel, genau genommen sagte er sogar, bist du nach dem Essen im Hotel, und ich wusste überhaupt nicht, ob es sich um eine Verwechslung handelte oder ob mich vielleicht ein geistig Verwirrter angesprochen hatte, der sich mitten am Vormittag im Park und in der Nähe der Eislaufbahn herumtrieb. Er war ohne Hut oder Mütze auf dem Kopf, er hatte kurz geschorenes Haar und unter dem dunklen Mantel war eine helle Seidenkrawatte zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich mir gerade diese Krawatte gemerkt habe, aber es war eine weiße Seidenkrawatte, übersät mit irgendwelchen Mustern, so eine Krawatte eben, die man sich vermutlich unwillkürlich merkt. Wahrscheinlich hatte ich in meiner augenblicklichen Verwirrung zustimmend geantwortet, denn nach dem Essen klopfte es wirklich an der Tür meines Zimmers. Als ich öffnete, sah ich zuerst diese helle Krawatte. In der Tür stand der vormittägliche Unbekannte von der Eislaufbahn. „Darf ich?“, fragte er und war auch schon eingetreten. Einen Augenblick blieb er mitten im Zimmer stehen und sah sich um, dann setzte er sich gleich im Mantel auf mein Bett. Er setzte sich aufs Bett, ganz wie zu Hause, obwohl er sich auch auf den Stuhl hätte setzen können. Er sah mir direkt in die Augen und mir schien, dass ihm mein Gesicht auf eine bestimmte Art nicht gefiel. Wirklich, er zögerte, bevor er rätselhaft begann. „Hast du Verbindung mit Gašper?“ „Mit welchem Gašper?“ „Und mit Ondra?“ „Mit dem tschechischen Ingenieur?“ „Mit dem, ja.“ „Er ist abgereist …“ Ich verstand nichts, nicht einmal mich selbst, warum ich ihm auf diese völlig unverständlichen und unsinnigen Fragen antwortete. Ich fühlte aber, dass auch das hier zu Komplikationen führte, dass auch hier ein Missverständnis wucherte. „Hören Sie“, sagte ich etwas verwirrt, „Sie und Ihr Ondra Gašper …“ „Gašper ist das eine, Ondra das andere.“ Ich sah, dass er mit der Hand ungeduldig in der Hosentasche herumfuhr, als wollte er etwas herausholen. Er fuhr in der Tasche herum, als spielte er darin mit Murmeln, er setzte sich um und starrte mich wieder an. Ich stand mitten im Zimmer einfach so da, im Hemd und mit Pantoffeln an den Füßen, und sah auf diesen Menschen hinunter, der im Wintermantel auf meinem Bett saß und mir etwas von irgendwelchen Verbindungen erzählte, die weder Hand noch Fuß hatten, noch einen Sinn ergaben. „Ist schon gut“, sagte er, „Konspiration steht an erster Stelle. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen …“ Ich wollte sagen, ich mache mir keine Sorgen, natürlich habe ich Sorgen, aber ganz andere, was ihn hingegen betreffe, so mache mir nur Sorgen, dass er so selbstverständlich auf meinem Bett sitze und mit diesen Murmeln in der Tasche spiele und mir irgendwelche unsinnigen Fragen stelle. „Verzeihen Sie, unbekannter Herr“, sagte ich und nichts anderes sagte ich als das, denn das Wort stockte mir. Ich wollte sagen, dass ich mit keinem Gašper etwas zu tun und dass ich einen Ondra hier nur flüchtig kennengelernt hätte, wenn er an diesen Tschechen denke, der den Morast seines Dörfchens in Mähren liebt, ich wollte sagen, dass ich schließlich auch mit ihm nichts habe, mit ihm, der hier in mein Zimmer eindringt, in dem er nichts zu suchen hat, und einfach im Mantel auf meinem Bett sitzt. Das Wort stockte mir, weil er mit einer neuen Frage dazwischenfuhr: „Wie ist es im Nest?“ … In welchem Nest, um Gottes willen, dieser Mensch begann mir auf die Nerven zu gehen … „Was liegt an im Sokol-Nest, was machen unsere Falken?“ … Ich gab keine Antwort und mir schien, dass er etwas unschlüssig zu werden begann. Er wurde ungeduldig und leicht nervös. Auch ich wurde ungeduldig und leicht nervös. Die Hand fuhrwerkte in seiner Tasche herum, ich sah am Stoff der Hose, wie sich die Glieder der Hand bewegten, in der er irgendwelche Murmeln oder einen Rosenkranz hin und her schob. Er holte tief Luft und sagte geduldig und langsam, so als redete er zu einem Schwachsinnigen, der zuletzt doch verstehen wird, denn schließlich muss es ihm ja mal klar werden: „Wie steht es in Prag, sind unsere Leute alle in Sicherheit?“ … Im Kopf berührten sich irgendwelche Zusammenhänge und stießen aufeinander. Ondra ist Tscheche, das Falkennest ist Prag, das Zentrum der Sokol-Bewegung, dort haben sie etwas, irgendwer ist dort, der in Verbindung steht mit Ondra, und jetzt glauben sie, dass auch ich … Nein, das war alles zusammen zu dumm. Ich musste einen Entschluss fassen. Ich ging zur Tür und öffnete sie. „Mein Herr, Sie haben sich geirrt“, sagte ich. Er lehnte sich auf dem Bett zurück, als wollte er den ganzen Nachmittag dort sitzen bleiben, mit seinen Murmeln in der Tasche spielen und mir Fragen stellen. Ich schloss die Tür. Ich war irgendwie kraftlos angesichts dieser Selbstverständlichkeit. Einen Moment überlegte ich, hinunterzugehen und den Hotelportier zu rufen. Aber da müsste ich zuerst die Schuhe anziehen, ich kann ja nicht in Pantoffeln zur Rezeption laufen und um Hilfe rufen, wenn doch alles so aussieht, dass dieser Mensch mir absolut nichts Böses will, nur gern einige Antworten hätte. Und wenn ich mir die Schuhe anziehe, soll ich, mein Gott noch mal, aus meinem eigenen Zimmer flüchten? Und wenn ich ihn am Jackett packe, dass die Knöpfe fliegen und sich diese weiße Seidenkrawatte um seinen Hals schlingt? Wozu denn? Er zeigt nicht das geringste Anzeichen von Gewalttätigkeit, wenn natürlich das nicht schon Aggression genug ist, dass er hier auf meinem Bett sitzt, im Mantel. Alles war so sinnlos, dass ich mich ergab und die Tür wieder schloss. Ich setzte mich auf den Stuhl und sagte...


Drago Jancar, geboren 1948 in Maribor, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Sloweniens. 1974 wurde er wegen "feindlicher Propaganda" inhaftiert. Zahlreiche Preise, u. a. Prix européen de littérature 2012. Seine Romane, Essays und Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt bei Folio: Der Baum ohne Namen (2010), Der Galeerensträfling (2015), Die Nacht, als ich sie sah (42020).



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