Jamison Die Empathie-Tests
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25021-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Einfühlung und das Leiden anderer. Essays
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-446-25021-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leslie Jamison, geboren 1983 und aufgewachsen in Los Angeles, ist die Autorin von 'Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer' (2015), 'Die Klarheit' (2018) und dem Roman 'Der Gin-Trailer' (2019). Sie schreibt u. a. für die New York Times, The Atlantic und Harper's, leitet das Non-Fiction-Programm der Columbia University und lebt mit ihrer Familie in New York.
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Teufelsköder
Einleitung
Bei Paul fing alles mit einem Angelausflug an. Bei Lenny war es ein Drogenabhängiger mit offenen, entzündeten Stellen auf den Fingerknöcheln. Dawn entdeckte Pickel rings um den Rand ihrer Schwimmbrille. Kendra fielen eingewachsene Haare auf. Patricia wurde an einem Strand an der Golfküste von Sandfliegen attackiert. Die Krankheit kann mit Bläschen- oder Schorfbildung beginnen oder mit Juckreiz oder schlicht mit einem entsetzlichen Nebel, der sich über die Gedanken, ja über die ganze Welt legt.
Für mich war die Morgellons-Krankheit zunächst ein Kuriosum: Menschen, die von sich behaupteten, eine merkwürdige Krankheit zu haben, und denen niemand – oder so gut wie niemand – glaubte. Doch es waren viele, fast zwölftausend, und sie wurden mehr. Ihre Erkrankung äußerte sich auf viele verschiedene Arten: entzündliche Stellen, Juckreiz, Müdigkeit, Schmerzen und etwas, das man »Ameisenlaufen« nennt – das Gefühl, wimmelnde Insekten auf der Haut zu haben. Aber das entscheidende Symptom war immer das gleiche: eigenartige Fasern, die durch die Haut abgesondert werden.
Diese Menschen hatten also das Problem, dass ihre Körper nicht identifizierbare Materie ausschieden, neben Fasern auch Flaum, Krümel oder Kristalle. Sie wussten nicht, was es war, noch, woher es kam oder warum es da war, doch sie wussten – und das war das Entscheidende –, dass es real war.
Die Krankheitsbeschreibung geht auf eine Frau namens Mary Leitao zurück, die 2001 mit ihrem kleinen Sohn zum Arzt ging, weil er offene, nicht abheilende Stellen an den Lippen hatte und über Käfer unter seiner Haut klagte. Der erste Arzt wusste nicht, was er Mary Leitao sagen sollte, auch der zweite wusste es nicht und der dritte auch nicht. Irgendwann fingen die Ärzte an, ihr etwas zu sagen, was sie nicht hören wollte: Dass sie möglicherweise an einem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leide, denn sie fanden bei ihrem Sohn kein Anzeichen einer Erkrankung. Also stellte Leitao ihre eigene Diagnose, und Morgellons war geboren.
Den Namen entlehnte Leitao einer von dem Arzt Thomas Browne im 17. Jahrhundert verfassten Abhandlung:
Vor langer Zeit beobachtete ich bei kleinen Kindern im Languedoc ein endemisches Leiden namens Morgellons, wobei jene schließlich harte Haare auf dem Rücken bekommen, was wiederum die vernehmbaren Symptome der Krankheit abstellt und Erlösung von Husten und Krämpfen bringt.
Brownes »harte Haare« waren die frühen Vorläufer der heutigen Fasern – jener Fäden, die den Kern dieser Krankheit ausmachen. Auf mikroskopisch vergrößerten Fotos im Internet sieht man sie in Rot, Weiß und Blau (wie die US-Fahne), aber es gibt auch schwarze und durchsichtige. Diese Fasern werden unter Zuhilfenahme anderer Dinge wie Quallen oder Drähte, Tierfell, Karamellbonbons oder eine Wollfussel an Omas Pullover beschrieben. Manche heißen »Goldköpfchen«, weil sie ein goldfarbenes, birnenförmiges Ende aufweisen. Manche sehen aus wie Kobras, die sich aus der Haut heraus aufrichten, fadendünn, wie zum Angriff bereit. Andere wirken einfach nur unheimlich, technologisch, verschlungen. Die Vergrößerung macht es schwer, eindeutig zu erkennen, was auf diesen Fotos wirklich zu sehen ist – ob es sich überhaupt um Haut handelt.
Patienten fingen an, diese Fädchen, Krümel und Fläumchen ihren Ärzten zu zeigen und sie in Tupperware oder Streichholzschachteln aufzubewahren. Dermatologen haben dafür sogar einen Begriff geprägt: »das Streichholzschachtel-Zeichen«, also ein Signal dafür, dass ein Patient derart wild entschlossen seine Erkrankung unter Beweis stellen will, dass man ihm nicht länger über den Weg trauen kann.
Mitte der nuller Jahre hatte sich um Morgellons eine ernsthafte Kontroverse entwickelt. Selbstdiagnostizierte Patienten begannen, sich »Morgies« zu nennen und gegen Ärzte auf die Barrikaden zu gehen, die ihnen ein Krankheitsbild namens »Dermatozoenwahn« bescheinigten. Die US-Gesundheitsbehörde CDC gab 2006 die umfassende Erforschung des Phänomens in Auftrag. Die großen Zeitungen veröffentlichten Artikel zum Thema mit Schlagzeilen wie »Krankheit oder Wahn?« (New York Times), »Gesundheitsbehörde lässt bizarre Erkrankung untersuchen« (Boston Globe), »Merkwürdige, vieldiskutierte Krankheit verwirrt Patienten und Ärzte gleichermaßen« (Los Angeles Times).
In der Zwischenzeit organisierte eine Morgellons-Interessenvertretung namens Charles E. Holman Foundation eine jährliche Konferenz für Erkrankte, Forscher und medizinische Dienstleister, im Grunde also alle, denen das Thema nicht völlig schnuppe ist. Ihren Namen hat diese Stiftung von einem Mann, der die letzten Jahre seines Lebens mit dem Versuch zugebracht hat, Licht in die Ursachen der Erkrankung seiner Frau zu bringen. Seine Witwe leitet die Zusammenkunft bis heute. Sie ist immer noch krank. Die Konferenz, die in Austin stattfindet, bietet ihr und vielen anderen einen Zufluchtsort in einer Welt, die ihnen die Ursache ihres Leidens schlicht nicht abnimmt. Ein Vortragender hat das in einer E-Mail an mich folgendermaßen formuliert:
Es ist schon schlimm genug, dass die Leute so schrecklich leiden. Aber für einen kranken Menschen ist es einfach unerträglich, zum Thema des offenkundig größten Witzes der Weltgeschichte gemacht zu werden. Ich wundere mich, dass nicht mehr Menschen mit dieser grauenvollen Krankheit Selbstmord begehen. […] Die Geschichte ist noch bizarrer, als Sie vielleicht denken mögen. Bei Morgellons kommt wirklich alles zusammen – es ist eine Krankheit voller Helden, Bösewichter und überaus komplexer Menschen, die versuchen, das zu tun, was sie für richtig halten.
Im Januar 2012 veröffentlichte die Gesundheitsbehörde CDC schließlich die Ergebnisse ihrer Studie. Der Bericht unter dem Titel »Klinische, epidemiologische, histopathologische und molekulare Merkmale einer ungeklärten Hauterkrankung« ist zwar sauber in Abschnitte unterteilt – Einleitung, Methodik, Ergebnisse, Diskussion, Danksagung –, liefert aber keine einfachen Erklärungen. Seine Autorinnen und Autoren untersuchten 115 erkrankte Menschen und arbeiteten mit Hautproben, Bluttests und neurokognitiven Untersuchungsmethoden. Die Studie bietet nach Bestätigung hungernden »Morgies« nur wenig Trost: »Anhand der Ergebnisse unserer Studie lässt sich nicht eindeutig belegen, ob diese noch ungeklärte Dermopathie ein neues Krankheitsbild darstellt […] oder eine größere Verbreitung eines bekannten Krankheitsbildes wie Dermatozoenwahn.«
Unterm Strich: Wahrscheinlich ist da nichts.
Methodik
Die Baptistenkirche im Stadtteil Westoak befindet sich auf der Slaughter Lane, ein paar Kilometer südlich jenes Austin, das ich im Kopf hatte: eine Stadt voller silberglänzender Wohnwagen, aus denen Gourmet-Donuts verkauft werden, Secondhand-Läden, berstend vor präparierten Tierköpfen und Spitzenkleidern, und ironischer Cowboy-Bars, aus denen melancholische Gitarrenriffs schallen. Slaughter Lane liegt fernab von Retrospitzen, Hipster-Donuts und Ironie jeglicher Art: stattdessen Walgreens und Denny’s und irgendwann ein Parkplatz, der vom spillrigen Schatten eines sechs Meter hohen Kreuzes durchschnitten wird.
Die Kirche selbst ist ein von Wohnmobilen umstelltes, niedriges blaues Gebäude. Auf dem Banner zur Tagung steht: Searching for the Uncommon Thread. Ein Wortspiel: uncommon thread kann auf die Fasern bezogen werden, um die sich alles dreht, und zugleich auf den Gesprächsfaden, der hier aufgenommen werden soll. Ich besuche die Konferenz kurz nach Veröffentlichung der CDC-Studie, und die Morgellons-Community kommt zusammen, um sich zu formieren, um zu reagieren und zu insistieren.
Die Neueintreffenden werden am Eingang von einer Traube freundlicher Damen begrüßt. Alle tragen das gleiche T-Shirt, auf dem die Buchstaben DOP (für delusions of parasitosis oder Dermatozoenwahn) mit einer roten Linie durchgestrichen sind. Ich werde feststellen, dass die meisten Konferenzteilnehmerinnen die einladend solide Ausstrahlung wackerer Hausfrauen aus dem Mittleren Westen haben. Ich erfahre, dass siebzig Prozent der Morgellons-Patienten weiblich sind – und dass sich Frauen von den äußeren Entstellungen und der Herablassung, mit der ihrer Krankheit begegnet wird, im besonderen Maße gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen.
Das Begrüßungskomitee weist mir den Weg an einem opulent mit verpackten Backwaren beladenen Buffet vorbei in den Altarraum der Kirche, der als Austragungsort der Tagung dient. Die Vortragenden stehen an der Kanzel (einem Lesepult) und werfen ihre PowerPoint-Folien hinter sich an die Wand. Auf der Bühne liegen Musikinstrumente. Auf jeder mit einem Leinentuch abgehängten Kirchenbank steht eine Schachtel Kleenex. Hinten im Raum sind Tische mit benutzten Kaffeetassen, fettigem Plastikgeschirr und skelettierten Weintraubenstängeln. Der Kirchenraum hat ein einziges, farbiges Glasfenster: ein dunkelblauer Kreis, der eine milchig trübe Taube umschließt. Durch das Fenster dringt kein Licht. Es ist so klein, dass es aussieht, als säße die Taube in der Falle; sie fliegt nicht, sondern sitzt fest.
Die Veranstaltung ähnelt einem Treffen der Anonymen Alkoholiker oder einem Quäkergottesdienst: Zwischen den einzelnen Vorträgen gehen Menschen einfach vor zum Podium und erzählen ihre Geschichte. Manche tun das auch von ihrem Stuhl aus, und dann sitzen alle weit vornübergebeugt, um eine bessere Sicht auf Arme und Beine der anderen zu haben. Man tauscht Handyfotos. Ich höre einen Mann zu einer Frau sagen: »Ich wohne in einer leeren Wohnung ganz nah bei meiner...




