James | Wie alles kam | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

James Wie alles kam

Erzählungen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-10103-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-641-10103-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach »Benvolio« ein weiterer Henry-James-Fund

Henry James ist der Meister psychologisch-realistischen Schreibens, sein Werk ein Gaumenschmaus erlesener Erzählkunst. Unverwechselbar geschmeidig im Stil, aber mit messerscharfem Blick enthüllt er die Beweggründe menschlichen Handelns. Dieser Band präsentiert fünf Kabinettstücke aus seinem erzählerischen Werk in deutscher Erstübersetzung.
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M. BRISEUX’ LIEBCHEN

Die kleine Gemäldegalerie in M*** ist ein typisches musée de province1 – kalt, muffig, wenig besucht und hauptsächlich mit kleinen Arbeiten von Malern bestückt, deren reifes Werk sich als nicht besonders eindrucksvoll erweisen sollte. Die Böden sind mit Backsteinen ausgelegt und die Fenster von ausgeblichenen Moirévorhängen umrahmt; sogar das Licht scheint fahl und diffus, als wäre die bedrückende, glanzlose Atmosphäre der Gemälde ansteckend. Die Themen der ausgestellten Bilder sind natürlich vertraut und eher konventionell – die Weisheit Salomos und Orest, von den Furien verfolgt; dazu einige anmutige Landschaften, die die Einstellung des letzten Jahrhunderts zur Natur vor Augen führen, und ein halbes Dutzend gefälliger Porträts vornehmer Franzosen aus jener Epoche, die gleichsam in die Betrachtung der entsprechenden Szenerie versunken sind. Ich gestehe, für mich strahlte der Ort einen melancholischen Zauber aus, und mir war keines der abgeschmackten alten Gemälde zu abgeschmackt, um nicht Gefallen daran zu finden. Wie die Franzosen es doch schaffen, den Bildern stets einen so angenehmen Schliff zu geben, selbst dann, wenn diese nicht von der Hand eines Meisters stammen! Der Katalog war ebenfalls außerordentlich kurios; ein Stück äußerst altmodischer Literatur mit Kommentaren nach Art des gefeierten M. La Harpe2. Während ich darin blätterte, fragte ich mich, in welchem Maße Gemälde wie auch Katalog von jenem einzigen Sohn M***s bestimmt worden waren, der in der Kunst mehr als lokale Berühmtheit erlangt hatte. Mutmaßungen waren angebracht, denn hier, in diesen dämmrigen Hallen, musste dieser überaus originelle Künstler die ersten frühen Rufe erwachenden Genies vernommen haben: Zunächst, etwas ungläubig noch, wie wir annehmen dürfen, an festlichen Sonntagen an der Hand seines Vaters, als er mit rosigem Gesicht und großen Augen auf den klassischen Zorn des Achill und das blässliche Fleisch der Dido starrte, und später dann, die Hände in den Hosentaschen, mit einem ersten kritischen Stirnrunzeln und der Vision eines irgendwie ernsthafteren Achill und einer begehrenswerteren Dido. Mutmaßungen waren in der Tat angebracht, denn das kleine musée war nach langem Beobachten, Abwarten und Verhandeln zu guter Letzt in den Besitz eines von Briseux’ Gemälden gelangt. Über diesen Umstand wurde ich ohne Umschweife durch den Concierge3 unterrichtet, einen von den Jahren und einem chronischen Katarrh stark ausgezehrten Mann, der indes immer noch rüstig genug war, um seine ästhetische Bildung einem – vermutlich vornehmen – Fremden gegenüber unter Beweis zu stellen. Er führte mich feierlich vor das großartige Kunstwerk und stellte mir einen Stuhl so hin, dass ich es im richtigen Licht betrachten konnte. Der berühmte Maler hatte seine Heimatstadt in jungen Jahren verlassen, noch ehe er sich einen Namen gemacht hatte, und eine wenig Verständnis zeigende Familie – sein Vater war ein kleiner Apotheker, der zwar für die Künste durchaus Bewunderung empfand, dem Künstler aber ein Gräuel waren – hatte es nicht der Mühe für wert erachtet, seine kindlichen Zeichnungen aufzubewahren. Rechte Narren waren sie! Eine bloße Kritzelei mit seinem Namenszug brachte inzwischen mehrere hundert Francs ein, und in der Stadt gab es noch Blutsverwandte von ihm, denen es an Francs mehr als mangelte. Ein Gemälde von Belang zu erwerben war natürlich nicht einfach gewesen, und das kleine M*** besaß zwar das sehnsuchtsvolle Herz einer Mutter, aber keinerlei mütterliche Ersparnisse. Dennoch hatte man es dank einer Geldsammlung geschafft, und das Bild war bezahlt. Um den Triumph vollkommen zu machen, erliegt M. Briseux, vierzehn Tage nachdem es an seinem Nagel aufgehängt worden ist, in Rom einem Fieber, und die Preise für seine Gemälde steigen in geradezu phantastische Höhen! Es handelte sich just um das Werk, das den Maler einst berühmt gemacht hatte. Das «Bildnis einer Dame in gelber Stola» hatte im Salon von 1836 fait époque.4 Jeder hatte von der «Gelben Stola» gehört; die Leute sprachen davon, wie sie von Rubens’ «Paillettenhut» oder dem «Zerrissenen Handschuh» von Tizian5 sprachen; und wenn sie es nicht taten, würde es die Nachwelt tun! Solcherart war das weitschweifige Gemurmel des Concierge, während ich dieses Paradebeispiel für Briseux’ frühen Stil begutachtete; und jene letzte Beteuerung wurde in einem wehmütigen Ton vorgebracht, in dem sich eine äußerst lebhafte Vision zusätzlicher Francs auszudrücken schien, die seine Amtsnachfolger dereinst einstreichen würden. Es wäre ein armseliges Lob zu behaupten, schon ein flüchtiger Blick auf das Bild sei Ihren Franc wert. Es ist eine hervorragende Arbeit, und ich betrachtete sie eine halbe Stunde lang mit so ungetrübtem Genuss, dass ich darüber ganz vergaß, was für ein langweiliger Geselle der Concierge war.

Es handelt sich um das Porträt einer jungen Frau in Halbfigur, die nicht unbedingt schön, aber dennoch alles andere als unscheinbar ist und um deren Schultern in einzigartig schlichter Eleganz eine mit phantasievollen Arabesken bestickte gelbe Seidenstola drapiert ist. Die Frau ist dunkelhaarig und ernst, ihr Kleid von dunkler Farbe, der Hintergrund in gedeckten Tönen gehalten, und diese leuchtend gelbe Stola erstrahlt in wunderbarem Kontrast dazu. Sie scheint in der Tat Lichterglanz auszusenden und verleiht dem Bild trotz seiner düsteren Accessoires Leuchtkraft, schränkt aber dennoch die Wirkung der zart schimmernden Hautpartien in keinster Weise ein. Das Bild lässt noch einen gewissen harmonischen Abschluss vermissen, jene meisterhafte Verschmelzung einzelner Partien, auf die der Maler später Wert legte; der Pinsel ist hastig geführt, der Strich da und dort ein wenig wuchtig; doch die wunderbare Lebendigkeit und Kraft und die fast kindliche Zuversicht in einigen seiner kühneren Pinselstriche machen es zu einem großartigen Beispiel für jenen bedeutsamen Augenblick in der Entwicklung von Genialität, wenn die noch zarte Verheißung– gleichsam über Nacht– zur Vollkommenheit erblüht. Es war nicht verwunderlich, dass das Bild Aufsehen erregt hatte: Leute, die es besser beurteilen konnten, müssen gespürt haben, dass es jenes Etwas von unschätzbarem Wert enthielt, das ein Künstler nur einmal gibt– die Krönung seiner Bemühungen, die Blüte seiner Originalität. Während ich es weiter betrachtete, begann ich mich indes zu fragen, ob es nicht etwas noch Besseres barg– nämlich den Abglanz eines Anlitzes, das beinahe so tiefgründig und faszinierend war wie das Talent des Künstlers. Ungeachtet der Ruhe, welche die Gestalt unübersehbar ausstrahlte, zeigten Stirn und Mund einen Anflug unterdrückter Erregung, die dunkelgrauen Augen funkelten beinahe, und auf den Wangen loderte unheilvolle Röte. Ganz offenkundig ging es in diesem Bild um mehr als eine gelbe Stola. Für das geschulte Auge war es das Bild einer Geisteshaltung oder zumindest einer Stimmung. «Wer ist die Dame?», fragte ich meinen Begleiter.

Er zuckte mit den Achseln und schaute eine Sekunde lang verwirrt drein. Als Franzose wartete er dann jedoch mit folgender Vermutung auf: «Mon Dieu! Ein Liebchen von Monsieur Briseux!– Ces artistes!6»

Ich verließ meinen Platz und begab mich in die Nachbarräume, wo ich, wie schon gesagt, eine halbe Stunde Zerstreuung fand. Bei meiner Rückkehr war mein Stuhl von einer Dame mit Beschlag belegt, die anscheinend außer mir der einzige Besucher war. Ich schenkte ihr weiter keine Beachtung, bemerkte nur, dass sie, obschon attraktiv, nicht mehr jung war, dass sie schwarz gekleidet und in die Betrachtung des Bildes versunken war. Ja es war ihre Versunkenheit, die schließlich mein Interesse weckte, und während ich stehen blieb, um mir einen abschließenden Eindruck zu verschaffen, musterte ich sie verstohlen. Sie war wirklich nicht mehr jung, ihr Haar schon weiß, allerdings von diesem bezaubernden und häufig frühzeitigen leuchtenden Weiß, das schönen Brünetten eigen ist. Der Concierge hielt sich in ihrer Nähe auf, erzählte und erläuterte, und ich bildete mir ein, ihre kurzen Erwiderungen (denn Fragen stellte sie keine) verrieten einen englischen Akzent. Aber ich hatte zweifellos kein Recht, mir irgendetwas einzubilden, denn als würde ihr plötzlich bewusst, dass sie beobachtet wurde, zog meine Mitbesucherin unangenehm berührt ihre Stola enger um sich, stand auf und machte Anstalten zu gehen. Ich hätte mich unverzüglich zurückgezogen, hätten sich in diesem Moment nicht unsere Blicke getroffen, und in ihrem flüchtigen, nur ein klein wenig tadelnden Blick las ich etwas, was meine Neugier die Oberhand über die Höflichkeit gewinnen ließ. Sie entfernte sich, und ich stand da und starrte ihr nach; als sie den Kopf abwandte, schien mir, dass meine etwas zu deutlich gezeigte Überraschung sie hatte erröten lassen. Ich beobachtete, wie sie langsam in den nächsten Raum hinüberging und dabei die Bilder nur sehr oberflächlich betrachtete; dann warf ich einen forschenden Blick auf die «Dame mit der Gelben Stola». Ihre verblüffend lebhaften Augen beantworteten meine Frage unmissverständlich. Ich war zufrieden und verließ das musée.

Vielleicht wäre es richtiger zu sagen, dass ich ganz und gar unzufrieden war. Ich schlenderte ziellos durch die kleine Stadt und kam, wie nicht anders zu erwarten, an der örtlichen Promenade heraus. Die Promenade von M*** ist ein äußerst angenehmer Ort. Sie verläuft auf der alten Stadtmauer, über...


James, Henry
Henry James (1843–1916), in New York City geborener Sohn aus wohlhabender Familie, genoss eine kosmopolitische Erziehung. Er studierte Jura in Harvard und ging 1875 als Korrespondent nach Paris, wo er Bekanntschaft mit Flaubert und Turgenev schloss. Später zog er nach England und wurde 1915 unter dem Eindruck des Weltkrieges britischer Staatsbürger. Er schrieb zwanzig Romane, Theaterstücke, Reiseberichte, Essays und über hundert Erzählungen, die ihm zu Lebzeiten Ruhm und Anerkennung eintrugen. Die Begegnung von Amerikanern mit Europa war Henry James' Lebensthema. Mit seiner scharfen Beobachtungsgabe und seinen kunstvollen Bewusstseinsschilderungen gilt er als Meister des psychologischen Romans.



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