E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Geisterhand
James Die Drehung der Schraube
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70111-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Geisterhand
ISBN: 978-3-311-70111-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Henry James (1843-1916) war ein Amerikaner, den es immer wieder nach Europa zog. Die meiste Zeit seines Lebens bereiste er deshalb die Alte Welt, wo er mit allen großen Schriftstellern befreundet war, etwa mit Maupassant, Stevenson oder Turgenjew. Und er wurde selbst einer der ganz Großen der Literatur, ein Meister des psychologischen Erzählens. 1915, ein Jahr vor seinem Tod, ließ er seine Heimat auch amtlich hinter sich, als er die britische Staatsangehörigkeit annahm. Während James im angelsächsischen Sprachraum, gleich ob dieseits oder jenseits des Atlantik, geradezu kultisch verehrt wird, dürfte sein Ruhm sich hierzulande noch mehren. Fängt man nämlich einmal an, seine Prosa zu lesen, ergeht es einem wie Alexander Cammann von der Zeit, der einmal schrieb: »Ein Leben ohne Henry James ist möglich, aber sinnlos.«
Weitere Infos & Material
Die Geschichte hatte uns, die wir um das Kaminfeuer versammelt waren, in einigermaßen atemloser Spannung gehalten, doch abgesehen von der naheliegenden Feststellung, sie sei gruselig gewesen, ganz so, wie es sich für eine am Weihnachtsabend in einem alten Haus erzählte merkwürdige Geschichte geziemte, kann ich mich an keinen Kommentar erinnern, der geäußert worden wäre, bis jemand bemerkte, dies sei der einzige ihm bekannte Fall, in dem ein Kind Opfer einer solchen Heimsuchung geworden sei. Dabei handelte es sich, wie ich erwähnen darf, um eine Erscheinung just in einem solch alten Haus wie dem, das uns damals beherbergte – eine Erscheinung grauenvoller Art, die sich einen kleinen Jungen aussuchte, der mit seiner Mutter in einem Zimmer schlief und sie in seinem grenzenlosen Entsetzen weckte – sie weckte, nicht damit sie seine Angst zerstreute und ihn wieder in den Schlaf wiegte, sondern damit sie, noch ehe ihr das gelungen war, selbst dem Anblick ausgesetzt wurde, der ihn so bestürzt hatte. Es war diese Bemerkung, die Douglas – nicht sofort, sondern im Verlauf des Abends – eine Erwiderung entlockte, welche dann die denkwürdige Folge zeitigte, auf die ich die Aufmerksamkeit lenken möchte. Jemand aus unserem Kreis erzählte eine nicht sonderlich fesselnde Geschichte, der Douglas, wie ich merkte, gar nicht zuhörte. Darin sah ich ein Zeichen, dass er selbst etwas zum Besten zu geben hatte und dass wir nur zu warten brauchten. Tatsächlich mussten wir bis zum übernächsten Abend warten; aber noch am selben Abend, bevor wir auseinandergingen, deutete er an, was ihn beschäftigte.
»Ich räume – im Hinblick auf Griffins Geist oder was immer es war – durchaus ein, dass die Tatsache, dass er zunächst dem kleinen Jungen erschien, einem Kind in so zartem Alter, der Geschichte einen besonderen Reiz verleiht. Aber es ist nicht die erste mir bekannte Begebenheit dieser übersinnlichen Art, von der ein Kind betroffen ist. Und wenn schon das eine Kind die Spannung in die Höhe schraubt, was sagen Sie dann erst zu Kindern …?«
»Selbstverständlich sagen wir«, rief jemand, »dass zwei Kinder die Spannung doppelt erhöhen! Und außerdem, dass wir Ihre Geschichte hören wollen.«
Ich sehe Douglas noch vor mir; er war aufgestanden, hatte sich mit dem Rücken zum Kamin gestellt und blickte, die Hände in den Taschen, auf den Sprecher hinunter. »Niemand außer mir hat sie bisher gehört. Sie ist einfach zu entsetzlich.« Natürlich erhoben sich sofort mehrere Stimmen, die erklärten, dass gerade das die Sache äußerst interessant mache, worauf unser Freund mit souveräner Gelassenheit seinen Triumph vorbereitete, indem er seinen Blick über uns hinweggleiten ließ und fortfuhr: »Sie übertrifft alles. Nichts, aber auch rein gar nichts, was ich kenne, reicht an sie heran.«
»Weil sie gar so schaurig ist?«, erinnere ich mich, gefragt zu haben.
Er schien sagen zu wollen, dass es so einfach nicht sei, schien wirklich nicht zu wissen, wie er sie charakterisieren sollte. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, verzog eine Sekunde lang das Gesicht zu einer zuckenden Grimasse. »Weil sie so grauen… so grauenvoll ist.«
»Ach wie köstlich!«, rief eine der Frauen.
Douglas schenkte ihr keine Beachtung; er blickte mich an, allerdings so, als sehe er nicht , sondern das, wovon er sprach. »Weil sie durch und durch unheimlich, abstoßend, entsetzlich und erschütternd ist.«
»Nun, dann setzen Sie sich, und fangen Sie an zu erzählen«, forderte ich ihn auf.
Er drehte sich zum Feuer, trat mit dem Fuß nach einem Holzscheit und betrachtete es einen Augenblick. Dann wandte er sich wieder uns zu. »Das kann ich nicht. Ich muss dazu erst jemanden nach London schicken.« Dies wurde mit allgemeinem Aufstöhnen und großem Gemurre aufgenommen, worauf er in seiner gedankenverlorenen Art erklärte: »Die Geschichte ist niedergeschrieben. Sie liegt in einer verschlossenen Schublade – seit Jahren habe ich sie nicht herausgenommen. Ich könnte meinem Diener ein paar Zeilen schreiben und ihm den Schlüssel beilegen; er könnte das Päckchen herschicken, sowie er es gefunden hat.« Er schien sich mit diesem Vorschlag insbesondere an mich zu wenden – schien fast darum zu bitten, ich möge ihn darin bestärken, mit der Ausführung nicht zu zögern. Er hatte eine dicke Eisschicht durchbrochen, die über viele Winter hinweg entstanden war, hatte seine Gründe für sein langes Schweigen gehabt. Die anderen nahmen ihm den Aufschub übel, mich hingegen reizten gerade seine Skrupel. Ich beschwor ihn, gleich mit der ersten Post einen Brief abzuschicken und mit uns einen baldigen Termin für die Lesung zu verabreden; dann fragte ich ihn, ob er die betreffende Begebenheit selbst erlebt hätte. Seine Antwort kam prompt. »Nein, gottlob nicht!«
»Aber der Bericht, der stammt von Ihnen? Sie haben die Sache festgehalten?«
»Nur den Eindruck. Den halte ich fest« – er schlug sich an die Brust. »Ich bin ihn nie mehr losgeworden.«
»Dann ist Ihr Manuskript …?«
»… in alter, ausgeblichener Tinte und in der schönsten Handschrift geschrieben.« Er stockte kurz. »In der einer Frau. Sie ist seit zwanzig Jahren tot. Sie übersandte mir die fraglichen Seiten, bevor sie starb.« Nun hörten ihm alle zu, und natürlich fand sich jemand, der eine stichelnde Bemerkung oder wenigstens eine zweideutige Anspielung machen musste. Douglas überging die Anspielung ohne ein Lächeln, aber auch ohne jede Verärgerung. »Sie war eine äußerst bezaubernde Person, doch sie war zehn Jahre älter als ich. Sie war die Gouvernante meiner Schwester«, sagte er ruhig. »Sie war die liebenswürdigste Vertreterin ihres Standes, die ich je kennengelernt habe; sie wäre jeder gesellschaftlichen Stellung würdig gewesen. Doch das ist lange her, und diese Ereignisse fanden noch früher statt. Ich besuchte damals das Trinity College; als ich den zweiten Sommer nach Hause kam, traf ich sie dort an. Ich war in jenem Jahr oft zu Hause – es war ein herrliches Jahr; und in ihren freien Stunden unternahmen wir zuweilen Spaziergänge im Garten und führten Gespräche – Gespräche, in denen sie einen furchtbar klugen und netten Eindruck auf mich machte. Ja, ja, Sie brauchen gar nicht zu schmunzeln: Ich hatte sie ausnehmend gern, und bis auf den heutigen Tag stimmt mich der Gedanke froh, dass sie mich ebenfalls mochte. Andernfalls hätte sie mir ihre Geschichte nicht anvertraut. Sie hatte niemandem je davon erzählt. Nicht, dass sie das behauptet hätte; ich wusste ganz einfach, dass sie mit niemandem darüber gesprochen hatte. Ich war mir dessen sicher; ich konnte es sehen. Sie werden den Grund dafür mühelos erkennen, wenn Sie die Geschichte hören.«
»Weil die Sache gar so schrecklich war?«
Douglas hielt den Blick weiterhin auf mich gerichtet. »Sie werden es mühelos erkennen«, wiederholte er. » ganz gewiss.«
Ich erwiderte seinen Blick. »Ich verstehe. Sie war verliebt.«
Er lachte zum ersten Mal. »Sie sind in der Tat scharfsinnig. Ja, sie war verliebt. Das heißt, sie war es . Das kam an den Tag – sie konnte ihre Geschichte nicht erzählen, ohne dass es an den Tag kam. Ich sah es, und sie sah, dass ich es sah; aber keiner von uns beiden sprach darüber. Ich erinnere mich an die Stunde und den Schauplatz – an den Winkel des Gartens, den Schatten der großen Buchen und den langen, heißen Sommernachmittag. Es war kein Ort, der einen schaudern ließ; aber ach …!« Er trat vom Kamin zurück und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
»Sie werden das Päckchen am Donnerstagvormittag erhalten?«, fragte ich.
»Vermutlich erst mit der zweiten Post.«
»Nun dann, nach dem Abendessen …«
»Sie werden alle hier sein?« Er blickte erneut in die Runde. »Reist denn niemand ab?« Fast klang es, als hoffe er darauf.
»Alle werden bleiben!«
» bleibe – bleibe auch!«, riefen die Damen, deren Abreise bereits festgelegt gewesen war. Mrs Griffin indes äußerte das Bedürfnis nach etwas mehr Aufklärung. »In wen war sie denn verliebt?«
»Das wird die Geschichte enthüllen«, übernahm ich es, zu antworten.
»Aber ich kann nicht auf die Geschichte warten!«
»Die Geschichte wird es enthüllen«, sagte Douglas, »jedenfalls nicht platt und unverblümt.«
»Jammerschade. Das ist das Einzige, das ich verstehe.«
»Wollen es uns nicht verraten, Douglas?«, fragte ein anderer.
Douglas sprang erneut auf. »Ja – morgen. Jetzt muss ich zu Bett. Gute Nacht.« Schnell ergriff er einen Kerzenleuchter und ließ uns ein wenig verwirrt zurück. An dem Ende der großen, eichengetäfelten Eingangshalle, an dem wir saßen, hörten wir seine Schritte auf der Treppe, woraufhin Mrs Griffin erklärte: »Nun, ich weiß zwar nicht, in wen sie verliebt war, aber ich weiß, in wen er verliebt war.«
»Sie war zehn Jahre älter«, entgegnete ihr Gatte.
» – in Alter! Aber seine lange Verschwiegenheit, die finde ich wirklich nett.«
»Vierzig Jahre!«, warf Griffin ein.
»Und nun endlich dieser Ausbruch.«
»Der Ausbruch«, erwiderte ich, »wird den Donnerstagabend zu einem außerordentlichen Ereignis machen.« Alle stimmten mir vorbehaltlos zu, sodass wir angesichts dieser Erwartung jegliches Interesse an allen anderen Dingen verloren. Die letzte Geschichte, obgleich unvollständig und bloßer Auftakt zu weiteren Fortsetzungen, war erzählt. Wir wünschten...