Jacquet | Scham | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Jacquet Scham

Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-402392-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-10-402392-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



+++ Schämt euch - und verändert die Welt! +++ Wieder mit Plastiktüten nach Hause gekommen? Das Billig-T-Shirt aus dem Discounter war einfach zu günstig? Schon wieder Essensreste weggeworfen? - Es gibt viele Gründe, sich zu schämen. Und ebenso viele Gründe, endlich etwas zu ändern. Die Umweltwissenschaftlerin Jennifer Jacquet untersucht, inwiefern das Schamgefühl unser gesellschaftliches Miteinander bestimmt. Spannend und leicht verständlich erklärt sie die Ursprünge und die Evolution dieses für uns alle prägenden Gefühls. Sie macht deutlich, wie wichtig es ist, dass wir uns schämen - denn mit der Scham kommt die Erkenntnis. So entsteht ein brillanter Gegenentwurf zu allen bisherigen Einschätzungen dieses uralten Begleiters: Jacquet zeigt, wie wir über das Schamgefühl gesteuert werden und es als politisches Werkzeug für eine bessere Welt benutzen können. Ein äußerst kluges und provozierendes Buch einer der interessantesten jungen Wissenschaftlerinnen unserer Zeit.

Jennifer Jacquet ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Umweltwissenschaften der New York University, wo sie über die Evolution, die Funktion und die Zukunft des Schamgefühls forscht. Sie promovierte an der renommierten University of British Columbia über Ressourcenmanagement und ist Expertin auf dem Feld menschlicher Kooperation. Von 2009 bis 2012 schrieb sie den »Guilty Planet Blog« auf der Website des »Scientific American« und verfasst regelmäßig Beiträge für edge.org.
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1 Was ist Scham?


Das moralische Gewissen des Menschen ist der Fluch, den er von den Göttern anzunehmen hatte, damit er von ihnen das Recht bekam, zu träumen.

William Faulkner, Interview im Paris Review

Im Jahr 1987 betrat der damals 30 Jahre alte Sam LaBudde das Büro des Earth Island Institute in San Francisco, weil er etwas gegen die Abholzung der Regenwälder unternehmen wollte. Als er wieder herauskam, machte er sich auf den Weg nach Mexiko, um Spion zu werden. Im Vorzimmer des Earth Island Institute hatte er einen Artikel über den Thunfischfang gelesen, dem jährlich Abermillionen Delphine zum Opfer fallen. Thunfische werden mit sogenannten Ringwadennetzen gefangen, die um einen Schwarm herum ausgelegt und dann zugezogen werden; beim Einholen des Netzes ertrinken gleichzeitig viele Delphine oder werden erdrückt. Es war ein aufrüttelnder Artikel, doch er war nicht mit Bildern dokumentiert. Statt den Regenwald zu retten, überredete LaBudde daher die Mitarbeiter des Earth Island Institute, ihm eine Videokamera zu leihen. Dann heuerte er auf einem Fischerboot an, um Aufnahmen von der Delphinschlächterei zu sammeln.

LaBudde wurde erst Matrose, dann Koch an Bord eines Fischerboots, das im mexikanischen Hafen Ensenada stationiert war und unter der Flagge von Panama operierte. Unter großem persönlichen Risiko füllte er mehrere Videokassetten mit Aufnahmen von sterbenden und verendeten Delphinen in Thunfischnetzen. Mit diesem Material startete das Institut in den Vereinigten Staaten eine Fernsehkampagne. Tageszeitungen und Zeitschriften griffen das Thema auf, und Kenneth Brower schrieb eine dreiteilige Artikelserie in der Zeitschrift . Die Kampagne sollte die Täter beschämen und in der Öffentlichkeit bloßstellen. Ziel war die Thunfischindustrie, insbesondere die drei größten Unternehmen StarKist, Bumble Bee und Chicken of the Sea.

Damals schenkte mir meine Mutter ein Buch mit dem Titel . Wie in dem Buch empfohlen, schrieb ich einen Brief an das Earth Island Institute, und einige Wochen später fand ich in unserem Briefkasten in Ohio Post aus San Francisco. Im Umschlag steckte unter anderem ein erschütterndes Schwarzweißfoto eines toten Delphins, das LaBudde auf einem Fischerboot aufgenommen hatte. Das Material des Earth Island Institute beschämte die Thunfischindustrie, doch in mir weckte es Schuldgefühle. Mein Gewissen sagte mir, dass das, was da mit den Delphinen passierte, falsch sein musste (das Schicksal der Thunfische übersah ich dabei geflissentlich). Schuld ist ein Gefühl, dessen Auslöser und Publikum wir selbst sind, es ist ein Gefühl des Unbehagens, das nach einem Ausgleich strebt. Als ich das Bild sah, spürte ich zum ersten Mal im Leben Mitgefühl mit einem Lebewesen, dem ich nie begegnet war und das ich nur aus Tierbüchern kannte, und zum ersten und nicht zum letzten Mal fühlte ich mich schuldig für etwas, das ich gegessen hatte.

Ich musste etwas unternehmen. Mit meinen damals neun Jahren lernte ich etwas kennen, das in den achtziger Jahren zum neuen Initiationsritual werden sollte: Ich wollte meine Schuld als Verbraucher sühnen. Ich forderte meine Mutter auf, keinen Thunfisch mehr zu kaufen, und damit war ich nicht die Einzige. Die Bilder der verendeten Delphine hatten Menschen in aller Welt schockiert und empört; sie provozierten einen großen Thunfischboykott und zwangen die Thunfischunternehmen, ihr Fangprotokoll zu ändern. Anthony O’Reilly, Vorstandsvorsitzender der Heinz Company, zu der auch StarKist gehört, sagte: »Ich wäre ein schlechter Chef, wenn ich unseren Kunden nicht zuhören würde.« Aufgrund der großen Sympathie, die Kinder damals für Flipper hegten, und aufgrund der schrecklichen Szenen in dem LaBudde-Film begann ein gut organisiertes Trommelfeuer der Kritik, die das zunehmende Gefühl der Schulkinder vermittelte, dass die bisherigen Fischereimethoden nicht mehr hinnehmbar waren.

Diese Kinder und ihre Eltern waren erleichtert, als das Umweltsiegel »delphinfrei« eingeführt wurde. Wir fühlten uns besser und aßen wieder Thunfisch. Ein Jahrzehnt lang dachte ich nicht mehr an das Thunfischproblem oder das Umweltsiegel. Aber als ich mich wieder damit beschäftigte, musste ich feststellen, dass wir hereingelegt worden waren.

Das Etikett »delphinfrei«, das im Jahr 1990 vorgestellt wurde, war nur eines von vielen neuen Marktinstrumenten zur Rettung der Welt. Im gleichen Jahr verabschiedete die amerikanische Regierung Gesetze zur Zertifizierung von biologischer Ernährung (obwohl das erste Biosiegel bereits 1973 im kalifornischen Santa Cruz aufgelegt worden war). Im Jahr 1993 wurde nach jahrelangen Diskussionen um die Zertifizierung der nachhaltigen Forstwirtschaft der internationale Forest Stewardship Council (FSC) gegründet. Der Marine Stewardship Council begann 1997 mit der Zertifizierung nachhaltiger Fischereipraktiken, und im selben Jahr wurde Fairtrade International gegründet. Weitere Umweltsiegel folgten.

Vor dieser Zertifizierungswelle war es den Enthüllungskampagnen und Boykotten immer darum gegangen, Unternehmen oder ganze Branchen zu umfassenden Änderungen zu zwingen. Aktivisten wie César Chávez, der den Landarbeiterstreik und den Traubenboykott der sechziger Jahre organisierte, hätten sich nicht damit zufriedengegeben, wenn die Hersteller ein Etikett mit der Aufschrift »Gepflückt von Landarbeitern, die einen Mindestlohn verdienen« auf ihre Weintrauben geklebt hätten. Ihnen ging es nicht darum, das Gewissen einiger besorgter Verbraucher zu beschwichtigen, sondern um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und eines einklagbaren Arbeitsschutzes für sämtliche Landarbeiter. Auch bei der Aufdeckung der Hygieneskandale in der Fleischindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts ging es nicht um die Entwicklung eines Gütesiegels, das verunsicherten Verbrauchern den Kauf von unbedenklichen Fleischprodukten zusichern sollte, sondern um die Verbesserung der Hygienestandards im ganzen Land.

Aber spätestens seit den achtziger Jahren zielten Initiativen immer weniger auf eine Veränderung der Produktionsbedingungen und immer mehr auf eine Veränderung des Konsumverhaltens. Auf den ersten Blick wirkt diese Strategie durchaus sinnvoll, vor allem in einer Marktwirtschaft: Wenn sich die Nachfrage verändert, dann muss das Angebot darauf reagieren. Während der sechs Jahre, in denen ich Wirtschaftswissenschaften studierte, wurde ich immer wieder daran erinnert, dass sich die beiden Größen in der Bilanz die Waage halten. In der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan, in der sich das politische Klima immer entschiedener gegen staatliche Regulierung wandte, sahen selbst Umweltschützer den Geldbeutel der Verbraucher als den besten Hebel, um Unternehmen zu einer Änderung ihres Verhaltens zu zwingen. Damit behielten die Verbraucher ihre »Entscheidungsfreiheit« (der Schlachtruf des neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlers und kapitalistischen Vordenkers Milton Friedman) und konnten gegebenenfalls ihr Gewissen durch eine Änderung ihres Konsumverhaltens beruhigen.

Mit dieser Verschiebung von den Produktionsbedingungen zum Verbraucherverhalten ging es bei der Lösung von Gesellschafts- und Umweltproblemen immer weniger darum, das Fehlverhalten von Unternehmen zu enthüllen und diese an den Pranger zu stellen, und immer mehr darum, die Schuldgefühle der Verbraucher zu wecken. Umweltsiegel wurden immer beliebter, und dahinter verbarg sich die unausgesprochene Behauptung, dass die Verantwortung in erster Linie bei jedem einzelnen Verbraucher selbst liegt und nicht bei der Politik und der Gesellschaft. Das Zertifikat wusch außerdem von jeder Scham rein und zielte auf das Schuldgefühl als wichtigsten Motor für Veränderung. Über das Schuldgefühl ließen sich Einzelpersonen motivieren, und nur diese, denn Unternehmen oder Branchen wie die Thunfischindustrie haben kein Gewissen und können sich nicht schuldig fühlen. Es ging also nicht mehr um die Reform ganzer Branchen, sondern um das gute Gewissen eines bestimmten Kundensegments.

Bedauerlicherweise lassen sich jedoch Probleme wie der Einsatz von Insektenvernichtungsmitteln, die Ausbeutung von Arbeitnehmern und die Verwendung von Schleppnetzen nicht durch die Konsumentscheidungen einzelner Verbraucher lösen. Wenn mein Obst nicht mit Insektiziden behandelt wurde, das der anderen aber schon, dann gelangen diese Gifte trotzdem ins Grundwasser. Wenn ich delphinfreien Thunfisch verzehre und die anderen nicht, dann müssen nach wie vor Delphine verenden. Wenn ich nicht mehr ins Flugzeug steige und alle anderen weiterfliegen, dann nimmt der Ausstoß von Kohlendioxid trotzdem weiter zu.

Probleme, die kollektives Handeln erfordern, lassen sich nicht lösen, indem man auf die Psyche und damit das Verhalten von Einzelnen einwirkt. Die Lösung dieser Probleme erfordert große und oftmals strukturelle Veränderungen. Im Falle des Ozonlochs hätte es nicht ausgereicht, wenn einzelne Verbraucher die Auswirkungen von FCKW verstanden, sich schuldig gefühlt und deshalb keine FCKW-haltigen Produkte mehr gekauft hätten, denn sie wären eine kleine Minderheit geblieben. Um das Ozonloch zu bekämpfen, musste die Produktion von FCKW vollständig eingestellt werden.

Heute wird bei vielen aktuellen gesellschaftlichen Problemen, vor allem auf den Gebieten Arbeit und Umweltschutz, an unser Schuldgefühl appelliert. Wir werden aufgefordert, als Verbraucher zu handeln (und nicht als Bürger oder Aktivisten) – dies aber nicht einmal als organisierte Verbrauchergruppen, die großflächige Boykotte organisieren, sondern als...


Neubauer, Jürgen
Dr. Jürgen Neubauer studierte Anglistik und Germanistik und war als Lektor für das Sachbuchprogramm des Campus Verlags verantwortlich. Heute ist er als freiberuflicher Übersetzer und Buchautor tätig und hat u.a. Yuval Noah Harari, Anne Applebaum, den Dalai Lama und Malcolm Gladwell übersetzt.

Jacquet, Jennifer
Jennifer Jacquet ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Umweltwissenschaften der New York University, wo sie über die Evolution, die Funktion und die Zukunft des Schamgefühls forscht. Sie promovierte an der renommierten University of British Columbia über Ressourcenmanagement und ist Expertin auf dem Feld menschlicher Kooperation.
Von 2009 bis 2012 schrieb sie den 'Guilty Planet Blog' auf der Website des 'Scientific American' und verfasst regelmäßig Beiträge für edge.org.

Jennifer JacquetJennifer Jacquet ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Umweltwissenschaften der New York University, wo sie über die Evolution, die Funktion und die Zukunft des Schamgefühls forscht. Sie promovierte an der renommierten University of British Columbia über Ressourcenmanagement und ist Expertin auf dem Feld menschlicher Kooperation.
Von 2009 bis 2012 schrieb sie den 'Guilty Planet Blog' auf der Website des 'Scientific American' und verfasst regelmäßig Beiträge für edge.org.

Jennifer Jacquet ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Umweltwissenschaften der New York University, wo sie über die Evolution, die Funktion und die Zukunft des Schamgefühls forscht. Sie promovierte an der renommierten University of British Columbia über Ressourcenmanagement und ist Expertin auf dem Feld menschlicher Kooperation.
Von 2009 bis 2012 schrieb sie den »Guilty Planet Blog« auf der Website des »Scientific American« und verfasst regelmäßig Beiträge für edge.org.  Dr. Jürgen Neubauer studierte Anglistik und Germanistik und war als Lektor für das Sachbuchprogramm des Campus Verlags verantwortlich. Heute ist er als freiberuflicher Übersetzer und Buchautor tätig und hat u.a. Yuval Noah Harari, Anne Applebaum, den Dalai Lama und Malcolm Gladwell übersetzt.



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