Jacobs | Wolfskind | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Jacobs Wolfskind

Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0780-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0780-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ostpreußen 1945. Auf der Flucht vor der Roten Armee verliert die siebenjährige Liesabeth Otto ihre Mutter und Geschwister. Allein irrt sie durch die Wälder und gerät auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft ins benachbarte Baltikum. Unter unfassbaren Entbehrungen schlägt sie sich jahrelang durch, stets auf der Hut vor sowjetischen Häschern. Ein erschütterndes Schicksal, zugleich ein Panorama deutsch-sowjetischer Nachkriegsgeschichte.

Ingeborg Jacobs, geboren 1957 in Solingen. 1989 bis 1992 Aufenthalt in der Sowjetunion. Seit 1995 freie Autorin beim ZDF. Zahlreiche Dokumentarfilme, überwiegend zu zeitgeschichtlichen Themen. Sie wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Wirtschaftsfilmpreis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Mitarbeit an mehreren Büchern von Guido Knopp, darunter »Die große Flucht«.
Jacobs Wolfskind jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Statt einer Einleitung:
Reporterglück


Wäre der 1. Mai 1994 nicht auf einen Sonntag gefallen, wir hätten Liesabeth Otto, das »Wolfskind«, kaum kennengelernt. So aber hatten wir plötzlich Zeit, zu viel Zeit, ein Umstand, der bei Dreharbeiten äußerst selten eintritt. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin hatte – noch ganz in sowjetischer Tradition – kurzfristig angeordnet, nicht nur der Montag, sondern auch der Dienstag solle in ganz Russland arbeitsfrei sein.

Wir – mein Kameramann Hartmut Seifert, unser Videoingenieur Wladislaw Wassiljew aus Sankt Petersburg und ich – waren damals zum zweiten Mal für das Fernsehen der Deutschen Welle im Gebiet Kaliningrad unterwegs. Unsere Termine in der Papierfabrik und im Amt für Umweltschutz waren schnell verschoben, doch was tun mit der freien Zeit? Kurz entschlossen nahmen wir ein weiteres Thema in Angriff: die Situation der Russlanddeutschen, die seit 1993 verstärkt aus den mittelasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan in das frühere Nord-Ostpreußen zugezogen waren.

Von den Kollegen des Kaliningrader Fernsehsenders Jantar – Bernstein – bekamen wir Namen und Adresse von Nikolai Zwetzich. Der Russlanddeutsche sei ein Vierteljahr zuvor mit seiner ganzen Familie aus Kasachstan gekommen, um sich hier, in dem ehemaligen Militärsperrgebiet, eine neue Existenz aufzubauen. Er habe viel zu erzählen. An den Feiertagen würden wir ihn sicher zu Hause antreffen, zumal es höchste Zeit sei, Kartoffeln zu setzen. Wir machten uns auf den Weg, über die alte Landstraße von Königsberg nach Pillau, das seit 1947 Baltijsk heißt und Heimathafen der russischen Baltischen Flotte ist.

Nikolai Zwetzich trafen wir nicht an. Er sei mit seiner Familie zu Verwandten gefahren, erklärten uns seine Nachbarn, aber am Ortsausgang von Ijewskoje, im zweiten Haus rechts hinter dem Kiosk, wohnten auch Deutsche. Ohne große Hoffnung, interessante Gesprächspartner zu finden, fuhren wir dorthin. Ich stieg allein aus, öffnete das Gartentörchen und ging auf das Haus zu. Eine junge Russin kam mir entgegen.

»Sind Sie Deutsche?«, fragte ich sie auf Russisch.

»Nein, aber die Mutter meiner Freundin Elena ist Deutsche. Elena ist gerade hier bei mir zu Besuch.«

Wir gingen ins Haus, bereits im Vorraum kam uns eine junge Frau im roten Pullover entgegen. Sie war hochschwanger.

»Ihre Mutter ist Deutsche, hat mir Ihre Freundin gesagt …«

»Ja, sie ist eine echte Deutsche«, antwortete sie.

»Und was für eine Deutsche ist Ihre Mutter? Ist sie Russlanddeutsche oder aus Deutschland zu Besuch gekommen?«

»Meine Mutter ist nach dem Krieg hiergeblieben, sie hat viel zu erzählen.«

Mit dieser Antwort hatte ich zuletzt gerechnet. Sollte ihre Mutter etwa eine der wenigen Dutzend Ostpreußen sein, die verbotenerweise nach dem Zweiten Weltkrieg im damaligen Sperrgebiet geblieben sind?

»Mutter ist zu Hause«, fuhr Elena fort, »gehen Sie doch hin, sie freut sich immer über Besuch aus Deutschland. Wir wohnen auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber im Haus Nummer 12. Sie erkennen es an den blau gestrichenen Fensterrahmen. Meine Mutter heißt Liesabeth Otto, sie arbeitet im Garten.«

Kamera und Mikrophon unter dem Arm gingen Hartmut Seifert und ich hinüber. Nummer 12 machte einen gepflegteren Eindruck als die Nachbarhäuser. Im Vorgarten blühten die ersten Narzissen und Tulpen, eine kleine rehbraune Lajka lief uns böse bellend entgegen. Hartmut hatte die Kamera auf der Schulter, bereit, sie sofort einzuschalten.

»Frau Otto?«

Keine Antwort.

Wir gingen weiter, rechter Hand öffnete sich eine Tür, eine ältere Frau mit kurzen dunkelbraunen Locken kam auf uns zu.

»Sind Sie Frau Otto und nach dem Zweiten Weltkrieg hiergeblieben?«, fragte ich auf Deutsch.

Liesabeth Otto sah nur die Kamera. »Ja, das bin ich. Aber nun mal langsam, junger Mann …«

Unser Beinahe-Überfall war uns unangenehm. Wir entschuldigten uns, stellten uns kurz vor und fragten Frau Otto, ob sie ein wenig von sich erzählen wolle. Sie fasste sofort Vertrauen, weil wir Deutsche waren. »Den Russen hätte ich nichts erzählt«, erklärte sie uns später. Dann folgten ein paar Stichworte: geboren in Ostpreußen, Eltern verloren, Lager in Sibirien. »Das ist eine gute Geschichte«, raunte Hartmut mir zu. »Lass uns das machen!« Er ging kurz entschlossen in Richtung der Kaninchenställe. Liesabeth Otto und ich folgten ihm. Ohne weitere Absprachen begannen wir mit den Dreharbeiten.

»Sie sind also nach dem Zweiten Weltkrieg hiergeblieben, erzählen Sie doch mal …« Ganz ohne Scheu vor der Kamera begann Liesabeth Otto auf Deutsch mit leicht ostpreußischem Akzent zu sprechen. Manche Wendungen klangen fremd, besonders dann, wenn Frau Otto wortwörtlich aus dem Russischen oder Litauischen in ihre Muttersprache übersetzte: »Ich bin in Wehlau geboren, irgendwo in der Nähe von Wehlau. Und in 1945, am 24. April 1945, ist meine Mutter verhungert, und ich hatte damals noch einen Bruder und eine Schwester, die Schwester ist dann auch verhungert. Ich bin nach Litauen. Ich war klein. Gott, wie viel war ich da? So sieben mit etwas. Tja, und dann bin ich rumgelaufen bis 1953 … Ich habe gehört, heute werden die Kinder ›Wolfskinder‹ genannt. Irgendwo gebettelt, irgendwo geklaut… Ja, das gab’s auch. Und 1953 kam ich für die Klauerei, das war was zum Essen und von der Leine was zum Anziehen und so, Kleider – da kam ich dann in ein Kinderstraflager, ich hatte ja keine Familie. Das interessiert Sie, ja?«

Ja, das interessierte uns sehr. Liesabeth Otto hatte uns in ihren Bann geschlagen: »Wo waren Sie denn da?«

»Zwei Jahre war ich in der Stadt Kineschma, das ist Mittelrussland … Noch vier Jahre lang war ich in Archangelsk, in Nord-Archangelsk, dann aber in einem Erwachsenenstraflager.«

»Und wie sind Sie dann da weggekommen?«

»Ja, ich wurde freigelassen, ich war groß genug, die haben gemeint, ja, die wird ja nie wieder klauen … Ich habe gut gearbeitet … Und tja, dann wurde ich freigelassen.«

»Und wo sind Sie anschließend hingegangen?«

»Ich bin dort geblieben, ich habe dort geheiratet, hier, meine Tochter, die ist in Sibirien geboren. Na ja, was habe ich noch zu erzählen? Ach ja, 1967, da habe ich mich getrennt von meinem Mann, der hat mich immer geschlagen und mir immer Vorwürfe gemacht, wegen des Krieges. Ich konnte das nicht ertragen … Elena war gerade ein Jahr alt, ja, so wie Alexander jetzt …«

Liesabeth Otto zeigte zu ihrem Enkel, der in seinem Kinderwagen lautstark auf sich aufmerksam machte. »Ja, ich komme, mein Schatz …« beruhigte sie den Kleinen auf Deutsch und fuhr fort. »Und dann, 1980 … Ja, inzwischen war es noch ganz interessant, ich hatte meinen Vater gefunden. Und meinen Bruder. Aber leider ist alles schiefgelaufen. Und 1980 bin ich mit meiner Tochter hier rübergekommen. Hier, das ist meine Heimat! Sascha, Sascha, na, was ist mit dir, du?«

Frau Otto drehte sich um, ging zu ihrem Enkel und hob das Fläschchen auf, das der Junge heruntergeworfen hatte. Ihre Tochter Elena kam dazu, Liesabeth Otto drückte ihr das Kind in den Arm und sprach weiter:

»Elena wurde immer Faschistin genannt, und auch unsere Kuh wurde immer Faschistin genannt … Aber 1985, als der Gorbatschow zur Macht kam, da konnten wir schon so ein bisschen aufatmen. Plötzlich ist da was passiert, dass die Menschen ein bisschen höflicher wurden, vielleicht, weil viel im Fernsehen gesprochen wurde, im Radio und so, dass endlich einmal Schluss sein muss mit den Vorwürfen … Wir haben ja keine Schuld, dass der Krieg war …«

Liesabeth Otto war Deutsche, das stand für mich fest. Aber warum tat sie sich dieses Leben dort an? Wo doch mehr und mehr Deutschstämmige seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Bundesrepublik gekommen waren.

»Sie haben so viel Schlimmes hier in Nord-Ostpreußen erlebt, aber trotzdem wollen Sie nicht weg?«, fragte ich sie provozierend.

Die ältere Frau stand an der Regentonne, spülte das Fläschchen aus. Brüsk richtete sie sich auf: »Wohin denn? Ich habe doch eine gemischte Familie! Wohin? Das geht nicht. Hier, das ist meine Heimat, hier, das ist meine Erde. Verstehen Sie das? Ich habe gesagt, hier werde ich sterben … Wissen Sie, ich muss noch die Abfälle für das Schweinchen kochen …«

Mit dieser klaren Antwort ließ Liesabeth Otto uns stehen. Sie ging ein paar Schritte weiter in ihr kleines Gartenhäuschen. Dort hantierte sie mit Rübenschnitzen und Kartoffelschalen und erzählte dabei, welche Gemüse sie im Garten anbaute, dass sie Schweine, Hühner, Kaninchen und eine Kuh hielt. Das brauche man, um in diesen schweren Umbruchzeiten zurechtzukommen. Denn seitdem es die Sowjetunion nicht mehr gab, war auch das Gebiet Kaliningrad arm. Die meisten Felder lagen brach, und die Fabriken standen still. Ein Aufschwung war im Frühjahr 1994 noch lange nicht in Sicht.

Elena lud uns ins Haus ein, sie machte Tee. Während sich Liesabeth Otto um die Tiere kümmerte, unterhielten wir uns mit ihrer Tochter. Wir saßen, wie es in Russland üblich ist, in der kleinen Küche zusammen. Dann und wann legte Elena Holz nach in dem gemauerten Herd. Im Haus gab es keine Heizung, kein fließendes Wasser, die Wäsche wurde mit der Hand gewaschen. In einer Ecke des Gartens stand ein Plumpsklo.

Die junge Frau wollte mit uns Deutsch sprechen, sie habe nur selten Gelegenheit dazu, obwohl seit 1991, seitdem das Gebiet Kaliningrad nicht mehr Sperrgebiet war, hin und wieder auch »echte Deutsche« bei ihnen vorbeikämen, Heimattouristen, die ihre alten Häuser und Erinnerungen suchten. Elena erzählte leise von den schweren Seiten im Leben ihrer Mutter, davon, dass sie,...


Jacobs, Ingeborg
Ingeborg Jacobs, geboren 1957 in Solingen. 1989 bis 1992 Aufenthalt in der Sowjetunion. Seit 1995 freie Autorin beim ZDF. Zahlreiche Dokumentarfilme, überwiegend zu zeitgeschichtlichen Themen. Sie wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Wirtschaftsfilmpreis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Mitarbeit an mehreren Büchern von Guido Knopp, darunter 'Die große Flucht'.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.