E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Jacobi Schwiegermutter all’arrabbiata
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1060-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1060-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brigitte Jacobi wurde in Lübeck geboren und hat nach ihrem Abitur viele Jahre als Redakteurin für Zeitungen und Zeitschriften in Norddeutschland gearbeitet. Inzwischen lebt sie mit ihren Zwillingstöchtern in Italien und hat bereits unter verschiedenen Pseudonymen viele erfolgreiche Romane veröffentlicht. Oft unternimmt sie ausgedehnte Reisen durch ihre Wahlheimat. Besonders der Süden des Landes, und dort ganz besonders Kalabrien, haben es ihr angetan.
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1
Verflixte Barbie!
Kaputt. Schon wieder. Nummer sieben. Oder acht? Ich ließ meinen Blick über den mehligen Arbeitstisch gleiten und zählte zerbrochene Gliedmaßen und durchtrennte Taillen zusammen. Nummer acht, kein Zweifel. Der Duft nach gemahlenen Mandeln und Rosenwasser stieg mir schwer und süß in die Nase. Leichte Übelkeit machte sich in mir breit. Normalerweise liebte ich diesen Duft, aber jetzt rannte ich zum Fenster und riss es auf. Ein kräftiger Ostwind blies frische salzige Frühlingsluft von der Ostsee bis in meine kleine Backstube in der Lübecker Altstadt, und ich atmete ein paarmal tief durch. Dann drehte ich mich wieder zu dem Schlachtfeld um und beschloss, den Beruf zu wechseln.
Zumindest war ich kurz davor. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie schön es sein musste, stets gleich geformte Hackklopse zu braten oder tiefgefrorene Teiglinge zum Fertigbacken in einen Ofen zu schieben. Alles erschien mir besser, als unmögliche Kundenwünsche zu erfüllen.
Eine Marzipantorte für die Tochter des Lübecker Reeders Thorwald Feddersen? Kein Problem für mich. Ich bin schließlich Konditormeisterin.
Die dreistöckige Torte soll mit vielen winzigen Maikäfern und Glücksschweinchen aus Marzipan dekoriert werden? Aber gern – nichts leichter als das. Ich betreibe eine kleine Marzipanmanufaktur, außerdem wird mir eine gewisse Kunstfertigkeit nachgesagt, besonders bei Figuren, die zu klein für jede Form sind und frei von Hand gestaltet werden müssen.
Mein Blick löste sich vom Schlachtfeld und verweilte stolz auf dem Nebentisch, wo zwanzig daumennagelgroße Käfer und ebenso viele Schweinchen in Reih und Glied neben der Torte darauf warteten, mit Zuckerguss angeklebt zu werden. Diesen Arbeitsschritt hatte ich mir für zuletzt aufheben wollen. Sobald die Dekoration für die Tortenspitze geschafft war. Bloß dass ich genau daran seit zwei Stunden scheiterte und mittlerweile von Hackklopsen und Brötchen träumte.
»Welcher Idiot hat Barbie diese Maße verpasst?«, fragte ich laut die Torte. Die antwortete natürlich nicht, sondern stand bloß dreistöckig und irgendwie nackt da. Die Maikäfer und Schweinchen hockten auch nur stumm und süß auf dem Tisch.
Eine Barbiepuppe aus Marzipan im Maßstab eins zu eins.
»Das können Sie doch, Frau Burmester, oder?«, hatte mich Reeder Feddersen knapp am Telefon gefragt.
»Selbstverständlich.«
Was hätte ich sonst sagen soll? Dass seine kleine Tochter lieber mit einer dicken Käthe-Kruse-Puppe spielen sollte, weil die sich leichter formen ließ? So ein weicher molliger Körper wäre ein Klacks für mich gewesen. Ausgeschlossen!
Thorwald Feddersen ist mein bester Kunde. Jedes Jahr zu Ostern und zu Weihnachten ordert er bei mir hundertfünfzig handgemachte Osterhasen und Weihnachtsmänner für seine Mitarbeiter. Zwischendurch nimmt er mir auch dutzendweise meine beliebten Glücksschweinchen in verschiedenen Größen ab. Nein, Feddersen musste zufriedengestellt werden. Besonders gut lief meine Manufaktur seit einiger Zeit ohnehin nicht. Zu klein mein Angebot, zu groß die berühmte Konkurrenz mit dem Holstentor in ihrem Logo. Ohne diesen Stammkunden müsste ich vermutlich demnächst schließen.
Na ja. Mit ihm auch. Gestern erst hatte ich erfahren, dass die Pacht für meine bescheidenen Räumlichkeiten zum ersten Juni erhöht werden sollte. Um das Doppelte. Der erste Juni war nur sechs Wochen entfernt, und ich hatte keine Ahnung, wovon ich diese horrende Summe in Zukunft aufbringen sollte. Ob sich das Problem von selbst löste, wenn ich den bösen Brief tief in einer Küchenschublade vergrub und dort über Nacht vergaß? Einen Versuch war es wert. Lieber das angehen, was ich gut beherrschte, zum Beispiel ein süßes Kunstwerk erschaffen plus Barbie. Irgendwie, dachte ich, würde ich das schon hinkriegen. Sooo dünn und zerbrechlich konnte eine Marzipan-Barbie doch nicht sein.
Konnte sie.
Und inzwischen war es ein Uhr Mittag. Um vier Uhr sollte ich die Torte liefern. Was bedeutete, dass mir die Zeit davonlief. Das Zuckerpüppchen musste nämlich noch mindestens zwei Stunden in meinem speziellen Ofen langsam vor sich hin trocknen. Erst danach kam es auf die Torte, und wenn alles fertig war, musste ich die Lübecker Altstadt durchqueren, von der Dankwartsgrube bis in die Gegend um die Marienkirche, wo die Feddersens in einem vornehmen Palais residierten, auf das jeder literarische Nachfahre der Buddenbrooks stolz gewesen wäre. Echte Nachfahren der Familie Mann sowieso.
Was tun? Essen oder hüpfen? Mache ich beides gern in Stressmomenten, wobei auf und ab hüpfen vorteilhafter ist, da es ein paar Kalorien verbrennt. Andererseits lagen da viele kaputte Marzipanteile verführerisch vor meiner Nase, und prompt war mir nicht mehr schlecht vor Angst.
Hm, lecker, so ein langes Beinchen! Und arbeiten konnte ich dank Zuckerschub auch wieder. Ich nahm mir einen weiteren Klumpen Rohmasse und verknetete ihn so lange mit Puderzucker, bis er nicht mehr klebte.
Die Tür zu meiner kleinen Backstube ging auf.
»Keine Zeit!«, rief ich, ohne hochzusehen. Barbies Köpfchen nahm unter meinen Fingern Gestalt an. Rasch schluckte ich den Marzipanklumpen in meinem Mund hinunter.
»Bist du noch nicht fertig?«, fragte mein Vater und schickte einen bellenden Husten hinterher. Wäre seine Bronchitis nicht schon seit Wochen chronisch gewesen, so hätten seine Bazillen auf der Torte nachher eine gesamte Kindergesellschaft angesteckt. Wäre mal was anderes gewesen. Mein Vater, der sich sonst vor Ansteckung durch fremde Leute regelrecht fürchtete, wäre einmal selbst der Übeltäter.
»Das siehst du doch«, erklärte ich. Meine Stimme klang nicht sonderlich freundlich, und augenblicklich meldete sich mein schlechtes Gewissen.
Papa leidet unter Langeweile. Angeblich schreibt er ja an einem Sachbuch über die Kindheit von Thomas Mann in Lübeck, aber wenn ich mal in seinen altersschwachen Computer linse, ist bis auf das Titelblatt noch nichts fertig. Statt zu schreiben, sucht er lieber meine Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Situation, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Mein Leben lang habe ich meinen Vater bewundert, und ich war glücklich, wenn er mir einen Zipfel seiner kostbaren Zeit opferte. Meistens jedoch war ich allein, und hätte ich nicht meine Freunde gehabt, wäre ich wahrscheinlich vor lauter Einsamkeit ein entsetzlich unglücklicher Mensch geworden. Bis heute sind meine Freunde für mich meine wahre Familie.
Neuerdings jedoch tut Papa mir beinahe leid.
Merkwürdig. Er sollte wie immer auf mich mit leisem Mitleid und leiser Verachtung herabblicken, weil ich keine Akademikerin geworden bin. So gehört sich das. Verkehrte Welt.
»Ich dachte, wir können zusammen zu Mittag essen«, sagte er zwischen zwei neuen Hustenanfällen.
»Werde ich wohl nicht schaffen«, gab ich zurück.
»Schade.«
Obwohl ich den Blick auf Barbies Schwanenhals gesenkt hielt, sah ich Papa deutlich vor mir. Knapp eins neunzig groß, hager, graues schütteres Haar, randlose Lesebrille tief auf der Nase, kluger Blick. Kurz, der Inbegriff eines distinguierten Literaturprofessors, sofern er nicht gerade husten musste oder einen seiner peinlichen Ticks offenbarte.
Nein!
Nicht an Papa denken!
Meine Wadenmuskeln kribbelten bereits …
Himmel!
Dieser Tick wurde echt schlimmer. Ich war damit sogar schon mal zum Arzt gegangen und hatte ihm zum Beweis eine Runde vorgehüpft, aber der hatte nur weise gelächelt und gemeint, ich sollte mich endlich abnabeln. In meinem Alter wäre das höchste Zeit.
Ha! Leicht gesagt. Wie lässt man einen Vater allein, der mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß? Und wie bezahlt man eine zweite Miete, wenn man sowieso pleite ist? Außerdem, was sollte das überhaupt heißen, in meinem Alter? Frechheit! Ich schwöre, neulich bin ich noch achtzehn gewesen. Die letzten zwanzig Jahre sind irgendwie an mir vorbeigeflogen.
»Ich muss arbeiten«, murmelte ich und rammte meine Hacken in den Boden.
»Das sehe ich. Aber hör auf, so viel Marzipan zu essen, wenn du Probleme hast. Das ist ungesund.«
Mist! Er hatte mich doch noch beim Kauen und Schlucken erwischt. Papa machte sich nicht nur um seine eigene, sondern auch um meine Gesundheit große Sorgen. Seit einiger Zeit fand ich überall in unserer gemeinsamen Wohnung wie zufällig hingelegte Zeitungsartikel über Cholesterinwerte, hohen Blutdruck und neue Wunderdiäten. Das waren so Momente, in denen ich mir fest vornahm, endlich auszuziehen. Nur brachte ich es nie übers Herz. Ein Teil von mir freute sich sogar über seine Fürsorge. Fast konnte ich mir einbilden, dass Papa mich aus ganzem Herzen liebte. Daran hatte ich immer so meine Zweifel gehabt. Er war nie der Typ Vater gewesen, der mit seiner Tochter kuschelte, selbst wenn er sich mal Zeit für mich genommen hatte. Eher der Typ, der mit intellektueller Distanz mehr schulische Leistung einforderte und seine Enttäuschung kaum verbergen konnte, als ich nach dem Realschulabschluss ein Handwerk erlernte. Damals warf er mir vor, ich würde aus reinem Trotz so handeln. Zum Teil stimmte das sogar. Der Gedanke, mich noch auf Jahre hinaus mit ihm messen zu müssen, ohne jemals an ihn heranzureichen, war mir verhasst gewesen. Aber ich träumte auch schon lange davon, Konditorin zu werden. Vielleicht weil mich der Duft nach frisch gebackenem Kuchen durch die ersten glücklichen Jahre meiner Kindheit begleitet hatte.
Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen und wünschte mir nicht zum...