Iwoleit | DER MOLOCH | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 348 Seiten

Iwoleit DER MOLOCH

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95765-703-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

E-Book, Deutsch, 348 Seiten

ISBN: 978-3-95765-703-9
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mitte des 21. Jahrhunderts: Die Region Rhein-Ruhr ist zu einer riesigen Megapolis verschmolzen. Aus den USA wurde ein neues Prinzip gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Organisation importiert. Die Stadt ist in unzählige Franchise-Viertel unterteilt, wo mächtige Konzerne und Betreiber-Konsortien die Lebensbedingungen bestimmen. Aus aller Welt strömen Klimaflüchtlinge in die Stadt, die sich auf den wenigen Flecken unbeanspruchten Landes zusammendrängen. Sina Anders, Veteranin einer Ärzteorganisation, steht mit dem Rücken zur Wand. Bei einem Krisenreferendum in Köln zerschlägt sich ihre Hoffnung, Sanierungsmaßnahmen für die Rheinuferslums durchzusetzen. Aus Verzweiflung läßt sich auf einen Deal mit ihrem zwielichtigen Ex-Mann ein, um wenigstens ihr sekundäres Ziel zu erreichen: die Finanzierung einer Expedition in eine Subville in Bochum, einer früheren Kohlezeche, wo die Ärmsten der Armen unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet werden. Nachdem sie wochenlang verschwunden ist, macht sich ihr Lebensgefährte auf die Suche und kommt auf die Spur einer Verschwörung von ungeheurem Ausmaß. Titelbild von Mario Franke

Michael K. Iwoleit (* 22. Februar 1962 in Düsseldorf) ist ein deutscher Autor, Kritiker, Übersetzer und Herausgeber auf dem Gebiet der Science-Fiction. Nach Abitur und Abschluss als staatlich geprüfter biologisch-technologischer Assistent studierte Iwoleit Philosophie, Germanistik und Sozialwissenschaften in Düsseldorf. Dabei begann er SF-Erzählungen zu schreiben, die teilweise auch in anderen Ländern veröffentlicht wurden. Seine Vorbilder sind Autoren wie J. G. Ballard, Philip K. Dick und Stanis?aw Lem. 1984 kam sein erster Roman Rubikon heraus, dem 1989 Hinter den Mauern der Zeit (mit Horst Pukallus) und 2003 Am Rande des Abgrunds folgten. Seine preisgekrönte Erzählung Psyhack erweiterte er 2007 zu einem Roman. Iwoleit ist insbesondere für seine Novellen bekannt, für die er fünfmal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis und zweimal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurde. Auch als Herausgeber, Übersetzer und Kritiker hat er sich einen Namen gemacht. Zusammen mit Ronald M. Hahn und Helmuth W. Mommers begründete er 2002 das Science-Fiction-Magazin Nova und ist seitdem der einzige durchgehende Mitherausgeber. Er übertrug unter anderem Romane von Iain Banks, David Wingrove und Cory Doctorow ins Deutsche.
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1


Das Scheitern des Krisenreferendums war schon am zweiten Tag abzusehen. Sina hatte nichts anderes erwartet. Es war nur eine Show, ein riesiges Theater, inszeniert für die achtzehn Millionen registrierten Bürger der Megapolis Rhein-Ruhr, deren Existenzängste angesichts eines unablässigen Flüchtlingszustroms aus der Mittelmeerregion und dem Nahen Osten beruhigt werden wollten; für eine Armada von Presseleuten und Kamerateams, die lieber über die neusten Affären und Skandälchen von Stadträten, Polizei- und Behördenvertretern berichteten als über den eigentlichen Gegenstand der Tagung: die dringende Sanierung der Rheinuferslums, die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen für die unüberschaubare Masse dahinvegetierender Habenichtse, die die achtzig Kilometer langen Säume aus Hütten, Zelten, Müllhalden und Kloaken zu beiden Seiten des schlickigen, zum Himmel stinkenden Stroms bevölkerten, nicht zuletzt Maßnahmen gegen die Schlepperbanden und ihre Komplizen in Wirtschaft und Verwaltung, die immer mehr Flüchtlinge aus den Hitzehöllen im Süden in die Riesenstädte Mitteleuropas schleusten und als billige Arbeitskräfte, Organspender und Versuchskaninchen für die pharmazeutische Industrie missbrauchten.

Das Verwaltungszentrum, ein fächerförmiger, über acht Hektar ausgebreiteter Bau, der sich unweit des Doms an eine Rheinbiegung schmiegte, war bis an die Grenzen seiner Kapazität ausgelastet. Ab neun Uhr morgens war die Lobby vor dem großen Sitzungssaal so mit Menschen vollgepfropft, dass ständig jemand Atemnot oder eine Panikattacke erlitt und hinausgetragen werden musste. Eine Hundertschaft der Polizei hielt vor dem Haupteingang einen Korridor für die Limousinen frei, die den ganzen Tag über eintrafen und wieder davonfuhren. Umstrittene, mit Betrugs- und Korruptionsvorwürfen belastete Gestalten aus allen Hierarchiestufen der Stadtverwaltung kämpften sich, von Leibwächtern umringt, durch die Lobby, von Journalisten bestürmt, die allerlei idiotische, politisch völlig irrelevante Fragen stellten, von Initiativen und Einzelkämpfern um ihre Unterschriften für Anträge und Petitionen, von Bürgerverbänden um letzte Gesprächstermine vor den Abstimmungen gebeten, aber all das prallte von ihnen ab. Diese Männer und Frauen, die offiziell für den Restbestand öffentlichen Bodens und gemeinnütziger Infrastruktur verantwortlich waren, den die Franchise-Konsortien übrig gelassen hatten, bewiesen wieder einmal nur auf einem Gebiet Kompetenz: sich geschmeidig um ihre Verantwortung herumzudrücken. Mit jedem Redebeitrag lockte das große Auditorium, das über vierhundert Sitzungsteilnehmer fassen konnte, weniger Zuhörer an, und am Ende waren die handverlesenen Vertreter von Sozialverbänden, NGOs, Ärzteorganisationen und Hilfsdiensten fast unter sich. Wenn es doch einmal zu Debatten mit den Verantwortlichen kam, zerfransten sie schnell in Abschweifungen, Abwiegelungen, Detaildiskussionen und gegenseitigen Vorwürfen, die zu nichts führten. Die Fraktionsspitzen, Stadträte und Verwaltungschefs erbrachten ihre Tätigkeitsnachweise lieber in den VIP-Loungen, wo das übliche Schaulaufen der Politsponsoren stattfand, einer Messe ähnlicher als einer politischen Tagung, und man sich an Dutzenden Info-Ständen den Bauch mit Köstlichkeiten vollschlagen konnte, für die jeder der armen Teufel, über deren Schicksal an diesem Wochenende beraten werden sollte, Morde begangen hätte.

Als Sina am Samstagnachmittag, zwei Stunden vor ihrem Redetermin, im Verwaltungszentrum eintraf, an einem der Nebeneingänge, die für ihresgleichen vorgesehen waren und wo sie von bulligen, in chitinartige Panzer gehüllte und bis unter die Zähne bewaffneten Polizisten gefilzt wurde und sich erneut dieselben kleinlichen Fragen nach ihrer Person, ihrem Anliegen und ihrer Genehmigung gefallen lassen musste, war sie geschlaucht von der dritten schlaflosen Nacht hintereinander und konnte sich nur noch mithilfe der Muntermacher, die sie alle halbe Stunde schluckte, auf den Beinen halten. Sie hatte vergeblich auf ein Lebenszeichen von Gunther gewartet, ihn immer wieder angepingt und sich nebenher die Finger wund getippt, etliche ihrer Kontaktleute in Deutschland und den Nachbarländern angeschrieben, noch einmal alles getan, um ein wenig öffentlichen, auch internationalen Druck auf das Referendum aufzubauen. Sie hatte die Links zu den Online-Petitionen, die heute Nachmittag an die Bürgermeister übergeben werden sollten, erneut in allen sozialen Netzwerken gepostet, denen sie angehörte, und um jede Unterschrift gebuhlt, vor allem aber ihre Medics-for-Men-Kollegen, die in halbwegs erreichbarer Nähe lebten, noch einmal um ihr persönliches Erscheinen gebeten. Wieder einmal hatte sie, während sie in einem nüchternen Winkel ihres Gehirns abwog, ob es nicht sinnvoller wäre, hier heute möglichst konzentriert und ausgeruht zu erscheinen, kein Ende gefunden, sich zwingen müssen, etwas zu essen, das sie in der Badnische ihres ebenso engen wie teuren Containerhotel-Zimmers gleich wieder erbrach, die ganze Zeit angetrieben von dem Gefühl, dass sie nichts unversucht lassen durfte, auch wenn sie ahnte, dass es sinnlos war.

Die Seitenflügel des Verwaltungszentrums, von wo die Antragsteller aus dem gemeinen Volk auf verschlungenen Umwegen und an weiteren Kontrollposten vorbei zum Sitzungssaal geführt wurden, waren die einzigen Teile des Gebäudes, wo während des Referendums kein höllisches Gedränge herrschte, zwei kirchturmhohe geschwungene Korridore, zur einen Seite ganz aus Stahl und Glas, durch das eine trügerisch friedliche, von der Smogglocke über der Kölner Innenstadt kaum getrübte Frühjahrssonne hereinschien und Schraffuren aus Licht und Schatten über das polierte Rotholzparkett warf. Sina betrachtete flüchtig ihr Spiegelbild, als sie zu der Sitzgruppe marschierte, wo ihre Mitarbeiter ein provisorisches Büro eingerichtet hatten, und war mehr als sonst über ihren eigenen Anblick erschrocken: eine schmächtige Person mit dünnem, fransigem Blondschopf, deren Körper auch mit Ende dreißig einfach kein Fett ansetzen wollte, kaum einssechzig groß, heute mit einem geisterhaft blassen Gesicht, ein Herd von Nervosität, auch wenn sie, so wie jetzt, bemüht war, den Korridor mit ruhigen, entschlossenen Schritten zu durchmessen, die doch unstet und arrhythmisch wie die eines untalentierten Tänzers ausfielen. Während sie ihre Aktenmappe von einer Hand in die andere wechseln ließ, warf sie immer wieder Blicke auf ihr Smartphone und scrollte durch die Textnachrichten, aus Angst, den einen Moment zu verpassen, wenn von irgendwem eine erlösende Nachricht einträfe, vielleicht von Gunther, der ihr weiteres Material schicken und ihr Gewissen damit beruhigen würde, dass ihm nichts zugestoßen war.

Aber natürlich wusste sie, dass alles gegen sie lief. Schon gestern, als sich nach den salbungsvollen Begrüßungsworten der Sitzungsleitung die übliche Behäbigkeit unter den Amts- und Würdenträgern im Saal ausbreitete, hatte sie sich vom Verstand, wenn auch noch nicht vom Gefühl her damit abgefunden, dass es für die Rheinuferslums keine Lösung geben, dass alles weitergehen würde wie bisher und Sinas Arbeitsgruppe besser daran tat, sich auf ihr sekundäres Ziel zu konzentrieren und wenigstens etwas für die Subville in Bochum herauszuholen, ein paar Zuschüsse für die geplante Expedition in das frühere Bergwerk und ein letzter Aufschub für die Menschen, die dort lebten. Parallel zu ihren übrigen Vorbereitungen auf das Krisenreferendum hatte sie mit der Redaktion eines Rhein-Ruhr-Webmagazins eine Undercover-Reportage arrangiert, von der sie sich einiges Aufsehen erhoffte, und die Sache hatte sich auch gut angelassen. Nach ein paar verwackelten Aufnahmen aus der Subville war Gunther jedoch verstummt, und nun befürchtete sie das Schlimmste.

Konrad, ein MfM-Veteran wie Sina, lang, knochig, mit lichtem grauen Haar und hohlwangigem Gesicht, sowie die beiden Studenten Antonia und Martin sahen kaum frischer aus als sie. Konrad hatte sich in eine Ecke des schwarzen Ledersofas hingefläzt, schlaff und in verkrümmter Haltung wie eine weggeworfene Puppe, einen Daumen auf dem Touchscreen des Notepads, das auf seinen Knien lag, ein Smartphone am Ohr, an dem er mit einer rauen, brummigen Baritonstimme vorbei sprach, matt und lustlos, als sollten sich seine Worte in derselben Leere verlieren, in die seine glasig trüben Augen hinaus starrten. Antonia, ein schlankes Mädchen mit blondem Pferdeschwanz, und Martin, groß und breitschultrig wie ein Boxer, doch mit bübchenhaft zartem Gesicht, hantierten mit einem Sammelsurium von Notepads und Dokumentviewern, die farbige Muster auf ihre Gesichter warfen, scrollten durch Websites und Newsfeeds, redeten dabei leise und stockend miteinander und verstummten bisweilen, um sich mit gehobenen Brauen anzusehen, nicht so gelöst und strahlend, wie es sonst ihre Art war.

Als sie Sina bemerkten, lächelte Antonia flüchtig, Martin hob eine Hand, und Konrad beendete mit knappen Worten sein Gespräch, schien aber auch, als sie den dreien gegenüber Platz genommen, ihre Aktenmappe weggelegt und ihre Jacke ausgezogen hatte, mindestens zur Hälfte seines Wesens in einer anderen Welt zu verharren, einem Nirwana schweren, düsteren Stumpfsinns, der es ihm so eben erlaubte, Sina mit der Andeutung eines Nickens zur Kenntnis zu nehmen. Sie fingerte den Pharmadispenser aus ihrer Brusttasche und witterte dabei wieder den süßlichen Schweißgeruch, der an ihrem Körper hochstieg wie die Aura ihres Scheiterns, ungewöhnlich stark für eine Frau, eins der vielen Warnsignale ihres Körpers, die zu ignorieren sie sich angewöhnt hatte, ebenso wie die Schwächeanfälle, ihre Konzentrationsstörungen und ihre Schlaf- und Appetitlosigkeit.

»Was macht ihr für Gesichter?«, fragte sie und spürte einen...



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