E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Istrati Kyra Kyralina
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8031-4296-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4296-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das literarische Hauptwerk des Rumänen Panait Istrati, einfühlsam übersetzt von Oskar Pastior und mit einem Nachwort von Mircea Cartarescu. Voller orientalischer Fabulierlust verleiht Panait Istrati den kleinen Leuten seiner Zeit auf dem Balkan und im Nahen Osten seine kraftvolle Stimme.
Mit Kyra Kyralina avancierte der Rumäne Panait Istrati aus dem Nichts zu einem der großen Bestsellerautoren der 1920er Jahre und wurde zum Lieblingsautor von Geistesgrößen wie Romain Rolland und Georges Bataille.Istrati nimmt den Leser mit auf eine Reise durch Rumänien und den Orient der Jahrhundertwende: Stavru, der Limonadenverkäufer, einst reich und verheiratet, erzählt, wie ihn das Leben zum Bettler machte. Auf seinem Leidensweg, der ihn über Konstantinopel, Damaskus, Beirut und Kairo schließlich wieder zurück nach Brasila an die Donau führt, erinnert er sich an seine schöne Schwester Kyra. Ebenso betörend wie die Mutter, die ihre ausschweifende Sinneslust teuer bezahlte, ist auch Kyras Schicksal unendlich traurig: Wird Stavru die in einen Harem verschleppte Schwester wiederfinden? Dem rumänischen Erfolgsautor Istrati verlieh der Lyriker und Büchner-Preisträger Oskar Pastior seine unvergleichliche Stimme. Seine deutsche Übersetzung darf durchaus als ebenso große Wiederentdeckung bezeichnet werden wie der außerordentliche Roman von Panait Istrati selbst. Das sehr persönliche Nachwort von Mircea Cartarescu zeigt, welche große Rolle dieses Buch heute noch in Rumänien spielt.
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Stavru
Adrian ging wie benommen über den kurzen Maica-Domnului-Boulevard in Braila, welcher von der gleichnamigen Kirche bis zum Stadtpark führt. Verwirrt und ärgerlich blieb er am Eingang des Gartens stehen. »Hol’s der Teufel!« sagte er laut vor sich hin, »ich bin doch kein Kind mehr! Und ich glaube, ich habe das Recht, so übers Leben zu denken, wie ich es fühle.« Es war sechs Uhr abends und ein Arbeitstag. Die Parkwege nach den beiden Haupteingängen hin lagen wie ausgestorben da; die untergehende Sonne vergoldete den Sand, und die Fliederbüsche tauchten in die Schatten des Abends. Fledermäuse flatterten aufgescheucht hin und her. Fast alle Bänke längs der Wege standen leer, nur in den versteckten Winkeln des Gartens saßen junge Paare zärtlich umschlungen und taten ganz harmlos, wenn unvermittelt Spaziergänger vorüberkamen. Adrian beachtete niemanden von den Leuten, die ihm begegneten. Gierig sog er die reine Luft ein, die aus dem frisch gesprengten Sand aufstieg und sich mit dem Wohlgeruch der Blumen vermischte. Er dachte über manches nach, was er nicht begreifen konnte. Vor allem verstand er nicht, was seine Mutter gegen seine Freundschaften hatte, begriff nicht ihren Widerstand, der nun zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem einzigen Sohn geführt hatte. Adrian sagte sich: Für sie ist Mihail ein Zugewanderter, ein verdächtiger Strolch, der »Bedienstete« des Krapfensieders Kyr Nikola. Und wenn schon? Was bin ich denn? Ein Häuseranstreicher, und überdies ein ehemaliger Gehilfe des gleichen Krapfensieders! Und wenn es mir morgen einfällt und ich zieh in ein anderes Land, soll ich deshalb dort als Strolch gelten? Wütend stampfte er mit dem Fuß auf: Hol’s der Teufel! Eine haarsträubende Ungerechtigkeit ist das gegen den armen Mihail! Ich habe diesen Menschen gern, weil er gescheiter und gebildeter ist als ich und weil er sein Elend ohne zu klagen trägt. Was? Wenn er nicht auf offenem Markt in alle Welt hinausposaunt, wie er heißt, woher er stammt, wie viele Zähne ihm fehlen, ist er dann gleich ein Taugenichts? Wie auch immer, ich will der Freund dieses Strolches sein! Und ich bin überaus glücklich dabei. Mechanisch setzte Adrian seinen Spaziergang fort und prüfte noch einmal mit kritischem Sinn, was seine Mutter ihm gesagt hatte; alles erschien ihm widersinnig. Und diese Geschichte mit dem Verheiraten? Ich bin erst achtzehn, und schon denkt sie daran, mir irgendeine dumme Pute an den Hals zu hängen oder so eine Häsin, die mich mit ihrer Zärtlichkeit überhäuft und aus meiner Stube ein Nest macht! Mein Gott! Man sollte glauben, es gebe nichts Gescheiteres auf dieser Erde, als Dummköpfe in die Welt zu setzen, diese mit Sklaven zu bevölkern und dabei selber der erste Sklave dieser Brut zu werden! Nein, nein! Dann schon lieber einen Freund wie Mihail, auch wenn er zehnmal verdächtig ist! Und zu dem Vorwurf, ich würde »den Leuten die Würmer aus der Nase ziehen«, muß ich sagen, daß ich bei Gott nicht weiß, warum ich die Leute so gerne ausfrage und zum Reden bringe. Wohl weil das Licht aus den Worten der Starken kommt; selbst Gott mußte sprechen, damit es Licht wurde. Die Stille dieses Frühlingsabends wurde plötzlich vom schrillen Pfiff einer Schiffssirene zerschnitten; der Junge schreckte aus seinen Gedanken auf. Ein Duft von Rosen und Nelken wehte ihn an. Adrian bog auf die große Allee ein, die sich am Steilufer hinzieht, das den Hafen und die Donau beherrscht. Einen Augenblick blieb er stehen, um all die tausend elektrischen Lichter zu betrachten, die auf den hier verankerten Schiffen aufblinkten; und seine Brust weitete sich vor unwiderstehlicher Sehnsucht nach der Ferne. Mein Gott! Wie herrlich muß das sein, auf einem dieser Frachter über die Meere zu gleiten und neue Küsten, neue Welten zu entdecken! Weil dieser Wunsch für ihn unerfüllbar war, ging er mit gesenktem Kopf weiter; da hörte er hinter sich seinen Namen rufen: »Adrian!« Er drehte sich um. Auf einer Bank, an der er soeben vorbeigegangen war, saß ein Mann mit übergeschlagenen Beinen und rauchte. Da Adrian kurzsichtig war und es schon dunkelte, konnte er ihn nicht erkennen. Der Mann blieb sitzen, und Adrian näherte sich ihm mit gemischten Gefühlen. Doch plötzlich rief er freudig aus: »Stavru!« Sie schüttelten sich die Hände, und Adrian setzte sich neben ihn. Stavru, ein umherziehender Händler – wegen seiner Ware, die er auf den Märkten feilbot, Limonadenmann genannt –, war ein Vetter zweiten Grades von Adrians Mutter und eine ehemals sehr bekannte Erscheinung unter den leichtlebigen Burschen der Mahala. Jetzt kannte ihn dort in den Vorstadtgassen niemand mehr; denn dreißig Jahre schweigender Verachtung sind vergangen seit jenem schandbaren Zwischenfall, den sein Temperament verursacht hatte. Er war etwas mehr als mittelgroß, aschblond, sehr mager und verwittert; seine großen blauen Augen, bald offen und ehrlich, bald verschlagen und hinterlistig, je nach den Umständen, spiegelten das ganze Leben Stavrus wider: das Leben eines durch sein absonderliches und unstetes Wesen hin und her Getriebenen, ein Leben, das ihn mit fünfundzwanzig Jahren in das erbarmungslose Räderwerk der Gesellschaft getrieben hatte (seine Ehe mit einem reichen, schönen und empfindsamen Mädchen) und das ihn ein Jahr darauf mit gebrochenem Herzen und lädiertem Charakter, mit Schande bedeckt, entließ. Adrian kannte die Geschichte nur ungenau. Ohne auf nähere Einzelheiten einzugehen, hatte seine Mutter sie ihm als Beispiel eines abstoßenden Lebenswandels vorgehalten, aber Adrian hatte gerade die entgegengesetzten Schlüsse daraus gezogen; und mehr als einmal hatte er sich mit dem Instinkt, der aus dem Innersten seiner Seele kam, Stavru zugewandt, wie man sich über ein Musikinstrument beugt, um einen Widerhall zu erlauschen; das Instrument hatte sich ihm versagt. Übrigens waren sie sich kaum drei- oder viermal begegnet, und immer auf der Straße. Das Haus seiner Mutter war wie alle ehrbaren Häuser für Stavru verschlossen. Und was hätte der Strolch aller Jahrmärkte dem verwöhnten und kurzgehaltenen Söhnchen auch sagen können? Stavru galt allgemein als ein Aufschneider – und das war er auch wirklich und wollte es sein. In seinem armseligen und, selbst wenn er neu war, zerknitterten Anzug, mit dem Aussehen eines verstädterten Bauern, im ungebügelten, kragenlosen Hemd und mit der Miene eines abgefeimten Roßtäuschers stellte er sich mit Reden und Gebärden zur Schau, die alle Welt belustigten, ihm selbst aber nur Demütigungen und Verachtung eintrugen. Auf offener Straße rief er seinen Bekannten komische, treffende, aber niemals verletzende Spitznamen nach. Manche hafteten den Betreffenden für immer an. Gefiel ihm jemand, so nahm er ihn mit ins Wirtshaus, bestellte einen halben Liter Wein, und nachdem er ein Glas mit ihm getrunken hatte, ging er nach hinten auf den Hof, um »ein kleines Bedürfnis« zu verrichten, kam nicht mehr zurück und überließ es dem Gast, zu zahlen! Traf er aber einen, der ihn anödete, dann flüsterte er ihm zu: »Der und der Freund erwartet dich in dem und dem Kaffeehaus. Lauf schnell hin!« Geradezu in Begeisterung versetzten Adrian die Scherze, die Stavru mit den Heringsköpfen und den Tabaksdosen trieb. Während eines Gespräches zog der Limonadenmann einen getrockneten Fischkopf aus der Tasche und hängte ihn seinem geschwätzigen Partner heimlich an den Rockschoß. Ging der gute Mann dann seines Weges, so führte er, zum größten Jux der Leute, den Heringskopf an seinem Rock spazieren. Die Sache mit dem Tabak aber war das beste. Wer immer von seinen Bekannten vorbeikam, Stavru ging ihn um eine Prise Tabak an, um sich eine Zigarette zu drehen. Wenn er sich bedient hatte, ließ er die Tabaksdose, anstatt sie zurückzugeben, ohne ein Wort des Dankes in seine eigene Tasche gleiten; diese aber war zerrissen, so daß die Dose alsbald herausfiel und auf den Boden kollerte. Dann sprang er hinzu, hob sie auf, wischte sie ab, entschuldigte sich, und indem er vortäuschte, sie in die Tasche des Besitzers stecken zu wollen, ließ er sie danebengleiten, und die arme Dose, ob sie nun aus vernickeltem Metall oder aus gepreßtem Karton war, fiel abermals aufs Pflaster. »Ach, was bin ich doch ungeschickt!« »Oh, das tut nichts«, antwortete der Gefoppte meistens darauf und betrachtete prüfend das verbeulte Ding, während die Zuschauer sich vor Lachen bogen. Die Tabaksdosen jedoch, denen Stavru so arg mitgespielt hatte, bekam dieser nie wieder zu Gesicht. So hatte Adrian diesen Menschen seiner Possen wegen zu lieben begonnen. Doch trugen sich sonderbare Dinge zu, die ihn beunruhigten und verwirrten. Manchmal mitten in Scherz und Spaß wurde Stavru ernst, wandte sich ihm zu und bohrte seinen klaren, ruhigen und zwingenden Blick in Adrians Augen, so wie man in die guten, einfältigen Augen eines Kälbchens schaut. Dann fühlte sich Adrian ganz klein vor diesem Limonadenmann, diesem Analphabeten. Das mutet ihn seltsam an, und er begann ihn zu beobachten. Aber selten bot sich Gelegenheit dazu. Der sonderbare und beunruhigende Blick, den er im geheimen »den anderen Stavru« nannte, leuchtete selten auf, und dann nur für Adrian. Eines Tages indessen – es war einige Monate vor dem Zusammentreffen im Park, und zwar als er den Limonadenmann zu dessen Spezereihändler, einem alten und wortkargen Griechen, begleitete, von dem er den Zucker und die Zitronen kaufte –, da sah er plötzlich den »anderen Stavru« auftauchen. Adrians Blicke blieben an...