Ist Shakespeare tot? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Ist Shakespeare tot?


16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97407-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

ISBN: 978-3-492-97407-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
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Ein Dichter ohne Bücher? Ein Autor, der nicht einen Brief schrieb? Ein gefeierter Dramatiker und Schauspieler, an den sich kurz nach seinem Tod schon niemand mehr erinnert? Das Leben eines gewissen William Shakespeare aus dem englischen Provinzort Stratford upon Avon gab dem amerikanischen Literaten und scharfzüngigem Beobachter Mark Twain zu denken. Er besah sich die Tatsachen und formulierte seine Antwort auf die drängendste Frage der englischen Literaturgeschichte: War William Shakespeare wirklich der Dichter, für den wir ihn halten? - Niemand hat sich seither diesem unerschöpflichen Thema amüsanter und pointierter genähert als Mark Twain. »Ist Shakespeare tot?« ist ein Glanzstück literarischer Satire.

Mark Twain, geboren als Samuel Langhorne Clemens 1835 in Florida, arbeitete als Reisejournalist und Lotse auf dem Mississippi und machte große Reisen, darunter nach Hawaii, Europa und Palästina. Berühmt wurde er vor allem durch seine Jugendbücher »Tom Sawyers Abenteuer« und »Huckleberry Finns Abenteuer«. Er starb 1910 in Redding, Connecticut.
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I


Hier und da verteilt in den Stapeln unveröffentlichter Manuskripte, aus denen sich meine eindrucksvollen Lebenserinnerungen und Tagebücher zusammensetzen, wird in ferner Zukunft manch ein Kapitel auftauchen, in dem es um anmaßende Leute geht – um historisch berühmt-berüchtigte Anmaßende: Satan, anmaßend; das Goldene Kalb, anmaßend; der verschleierte Prophet von Khorasan[1], anmaßend; Ludwig XVII.[2], anmaßend; William Shakespeare, anmaßend; Arthur Orton[3], anmaßend; Mary Baker G. Eddy[4], anmaßend – und all die anderen. Berühmte Anmaßende, erfolgreiche Anmaßende, unterlegene Anmaßende, fürstliche Anmaßende, plebejische Anmaßende, protzige Anmaßende, schäbige Anmaßende, geachtete Anmaßende, geächtete Anmaßende, sie alle blinzeln hier, da und dort sternengleich durch die Nebel der Geschichte und der Legende und der Tradition herab vom Firmament – und siehe da, die ganze geliebte Sippschaft ist gehüllt in Geheimnis und Romantik, und wir lesen mit größtem Interesse über sie und sprechen von ihnen, je nachdem, auf welche Seite wir uns schlagen, mit herzlicher Sympathie oder bitterem Groll. So war es schon immer mit dem Menschengeschlecht. Es gab niemals einen Anmaßenden, wie fadenscheinig oder offenkundig verlogen seine Sache auch gewesen sein mochte, der weder Gehör zu finden noch eine leidenschaftliche Gefolgschaft hinter sich zu versammeln in der Lage war. Arthur Ortons Anspruch, er sei der verschollene Baronet Tichborne und habe überlebt, war ebenso fadenscheinig wie Mrs Eddys Behauptung, ihr Hauptwerk sei ihr direkt von Gott in die Feder diktiert worden; doch verfügte Orton in England vor fast vierzig Jahren über eine gewaltige Gefolgschaft von unbeirrbaren Gläubigen, die auch dann noch stur auf ihrer Überzeugung beharrten, als ihr fettleibiger Gott längst des Betruges überführt war und wegen Meineids im Gefängnis saß, und die Anhängerschaft von Mrs Eddy ist bis heute nicht nur riesengroß, vielmehr wächst tagtäglich ihre Zahl und ihr Enthusiasmus. Unter Ortons Anhängern befanden sich zahlreiche kluge und gut ausgebildete Köpfe, und das Gleiche lässt sich von Anfang an über die Gefolgschaft von Mrs Eddy sagen. Ihre Kirche ist personell ebenso gut bestückt wie jede andere Kirche auch. Anmaßende können immer mit Gefolgschaft rechnen, ganz gleich, wer sie sind, was sie behaupten und ob sie irgendwelche Belege vorzuweisen haben oder nicht. Das war schon immer so. Wenn man genau hinhört, kann man da draußen, in den uralten Gefilden der tiefsten Vergangenheit, über den Abgründen der Jahrhunderte noch immer die Scharen der Gläubigen nach Perkin Warbeck und Lambert Simnel[5] rufen hören.

Ein Freund hat mir ein eben erschienenes Buch aus England geschickt – [6] –, gut erzählt und scharfsinnig argumentiert; und mein seit fünfzig Jahren währendes Interesse an diesem Thema – das in den letzten drei Jahren ruhte – war umgehend neu entfacht. Geweckt worden war mein Interesse ursprünglich – vor Urzeiten – 1857, oder vielleicht 1856, von Delia Bacons Buch[7]. Ungefähr ein Jahr später vermittelte mich mein Lotsen-Lehrherr Bixby von seinem Dampfschiff auf die und damit unter die Befehlsgewalt und Obhut von George Ealer – der inzwischen seit vielen, vielen Jahren tot ist. Ich habe endlose Monate bei ihm gesteuert – das war die selbstverständliche Pflicht des Lotsen-Lehrlings: Ich ging die Tageswache und drehte das Steuerrad unter der strengen Aufsicht und gemäß den Anweisungen des Kapitäns. Er spielte hervorragend Schach und verehrte Shakespeare. Er spielte mit jedem Schach; sogar mit mir, und das war eine erhebliche Herausforderung für die Würde seines Amtes. Auch las er mir – ganz und gar unaufgefordert – Shakespeare vor; nicht nur ab und an, sondern stundenlang, wenn er die Wache und ich das Ruder übernahm. Er las gut, aber für mich nicht gewinnbringend, weil er ständig Befehle in den Text einfließen ließ. Damit zerstörte, vermischte, vermengte er alles – und zwar so sehr, dass ein uneingeweihter Beobachter bisweilen nicht mehr hätte sagen können, welche Beobachtungen Shakespeare und welche Ealer zuzuschreiben gewesen wären, wenn wir uns in einem schwierigen Flussabschnitt befanden. Zum Beispiel:

Was einer wagt, wag’ !

Komm du mir nah, bloß steuerst du die Enge an? Welch irre Idee! Als zott’ger, ein bisschen mehr Steuerbord, mehr Steuerbord! russ’scher Bär, geharn’scht Rhinozeros, oder den kommt er! Stützruder, Stützruder! war doch klar, dass sie das Riff förmlich riecht, wenn du ihm derart auf die Pelle rückst, hyr’kanscher Tiger; nimm jegliche Gestalt, nur diese nicht – nie werden meine festen Nerven beben, aber eh du dich’s versiehst, steckt sie im Ufergebüsch! Steuerbord stopp! Backbord volle Kraft voraus! Steuerbord zurück! … So, kommst du klar; Steuerbord langsame Kraft voraus; Schiff ausrichten und recht voraus, niemals beben. Oder sei lebend wieder; fordre mich in einer Wüst’ , kannst du dich nicht frei halten vom flachen Wasser? Zieh sie rüber! Reiß sie rüber! Fordre sie aufs Schwert; verkriech ich mich, dann zitternd, jetzt recht voraus auf die Enge zu! Nein, nur die Steuerbordmaschine, Finger weg von der anderen, ruf mich aus als Dirnenpuppe. Hinweg! gräßlicher Schatten! acht Glasen – der Wachgänger ist schon wieder eingepennt, schätze ich, geh hinab und weck Brown selbst, unkörperliches Blendwerk, fort!

Er war ohne jeden Zweifel ein guter Vorleser und großartig packend und stürmisch und tragisch, aber an mir hat er sich vergangen, denn ich war seither nie wieder in der Lage, Shakespeare ruhig und gelassen zu lesen. Ich vermag die Lektüre nicht mehr zu trennen von seinen explosiven Einwürfen, sie schieben sich überall dazwischen mit ihrem banalen »Was zum Teufel hast du vor! Reiß sie rüber! Mehr! – So ist gut, jetzt weiter recht voraus«, und von den anderen störenden Unterbrechungen, die in endloser Folge seinem Mund entströmten. Wenn ich heute Shakespeare lese, höre ich sie ebenso deutlich wie in jener Zeit, die lange zurückliegt – einundfünfzig Jahre. Ich habe Ealers Vorlesen nie als lehrreich empfunden. In Wahrheit war es zu meinem Schaden.

Seine Ergänzungen zum Text hatten kaum je verbessernde Wirkung, doch wenn ich diesen Umstand außer Acht lasse, war er ein guter Vorleser, so viel kann ich zu seiner Ehrenrettung sagen. Er benutzte kein Buch als Vorlage, und das brauchte er auch nicht; er kannte seinen Shakespeare so gut wie Euklid seine Multiplikationstabellen.

Hatte er etwas zu sagen – dieser Shakespeare verehrende Mississippi-Lotse –, was über Delia Bacons Buch hinausging? Ja. Und er sagte es auch; brabbelte es die ganze Zeit vor sich hin, über Monate hinweg – auf der Morgenwache, der Mitternachtswache, der Hundewache; und brabbelte es wohl noch im Schlaf. Er kaufte die Bücher über den Disput, sobald sie erschienen, und wir redeten über nichts anderes während der gesamten eintausenddreihundert Meilen, die wir in jeweils fünfunddreißig Tagen viermal abfuhren – so lange benötigte jenes schnelle Schiff für zwei volle Rundreisen. Wir diskutierten und diskutierten und diskutierten, und wir stritten und stritten und stritten; jedenfalls tat es, und ich konnte ab und an einen Satz dazwischenschieben, wenn er einen Fehler machte und eine Lücke entstand. Er argumentierte hitzig, energisch, heftig; und ich argumentierte zurückhaltend, moderat als Untergebener, der nicht aus einem Ruderhaus geworfen werden möchte, das sich zwölf Meter über der Wasseroberfläche befindet. Er stand in unverbrüchlicher Loyalität zu Shakespeare und empfand nichts als Verachtung für Bacon und alle Anmaßungen der Baconianer. Und ich ebenso – zunächst. Und zunächst freute er sich über diese meine Haltung. Es gab sogar Anzeichen dafür, dass er sie bewunderte; die Anzeichen schwanden, das ist wahr, mit dem Abstand zwischen den erhabenen Höhen des Lotsen-Herrn und meinen weitaus bescheideneren, aber sie waren spürbar für mich; spürbar und übersetzbar in ein Kompliment – ein Kompliment, das von oberhalb der Schneegrenze herabkam und auf dem Weg nach unten nicht so recht auftaute und kaum geeignet war, irgendetwas zu befeuern, nicht einmal den Dünkel eines Lotsen-Novizen; trotzdem ein wahrnehmbares – und wertvolles – Kompliment.

Natürlich veranlasste es mich, Shakespeare gegenüber noch loyaler zu sein, als ich es ohnehin schon war – sofern möglich –; und voreingenommener gegenüber Bacon, als ich es ohnehin schon war – sofern möglich. Und so diskutierten und diskutierten wir, beide auf derselben Seite stehend, und waren glücklich. Für eine Weile. Nur für eine Weile. Nur für eine sehr kurze Weile, eine sehr, sehr, sehr kurze Weile. Dann änderte sich die Stimmung; sie kühlte merklich ab.

Ein klügerer Mensch hätte vielleicht früher als ich begriffen, worin das Problem bestand, aber ich begriff es früh genug, um die nötigen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Man muss wissen, dass er ein streitbares Wesen besaß. Weshalb es ihn nach kürzester Zeit langweilte, mit einem Menschen zu debattieren, der mit allem einverstanden war, was er sagte, und ihn folglich nie dazu reizte, aufzubrausen und zu zeigen, was in ihm steckte, wenn es ums klare, eiskalte, harte, geschliffene, vielschichtige, blitzgescheite ging. Der Begriff stammte von ihm. Er hat seither, in selbstgefälligem Sinne, im Bacon-Shakespeare-Zwist weit mehr als einmal Verwendung...


Hansen, Nikolaus
Nikolaus Hansen, 1951 in Hamburg geboren, umsegelte von 1973 bis 1975 die Welt. Er arbeitete als Übersetzer und Lektor und war viele Jahre Verleger, u.a. von Rowohlt und marebuch. Er ist Mitinitiator und künstlerischer Leiter des »Harbour Front Literaturfestivals« in Hamburg und übersetzt seit vielen Jahren u.a. Edward St Aubyn und Joseph Conrad aus dem Englischen.Vita 2 (für Übersetzungen) Nikolaus Hansen, geboren in Hamburg, war Verleger u.a. von Rogner & Bernhard, Rowohlt, marebuchverlag und Arche/Atrium. Er ist Autor, Mitveranstalter des »Harbour Front Literaturfestivals« in Hamburg und Übersetzer, u.a. von Joseph Conrad, Robert Stone, William Kotzwinkle, Deborah Eisenberg, Wallace Shawn, James Salter, Kamila Shamsie und Edward St Aubyn. Zusammen mit Bettina Abarbanell übersetzte Hansen John Freeman Gill, ‚Die Fassadendiebe‘.

Mark Twain, geboren als Samuel Langhorne Clemens 1835 in Florida, arbeitete als Schriftsetzer, Reisejournalist und Lotse auf dem Mississippi, bevor ihm seine literarischen Werke weltweite Berühmtheit eintrugen. In seinem breiten Werk zeigt er sich als kompromissloser Moralist und Spötter, der weder in seinem politischen noch literarischen Urteil ein Blatt vor den Mund nahm. William Shakespeare lernte er früh auf dem Mississippidampfer aus dem Mund seines rezitierenden Kapitäns kennen. Mark Twain starb 1910 in Redding, Connecticut.



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