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E-Book

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Israel Flugobst


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-903081-63-5
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-903081-63-5
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



In Flugobst entführt uns Roman Israel nach Klarabach, in die frühen 1990er. Die Wende hat das verschlafene Bergkaff an der deutsch-tschechischen Grenze ganz schön mitgenommen: Für die Alten gibt es keine Arbeit, für die Jungen kaum Perspektive. Überall wimmelt es plötzlich von Nachwendefreaks - Techno-Omas, Raketenbastler und T-Rex-Punks. Einstige Jobmotoren sind dicht, indes schießen aber Autohändler und Spielbanken wie Pilze aus dem Boden. Abrissbagger fressen sich durch die Stadt. Altes weicht, Neues entsteht in rasantem Tempo und Existenzgründer reiben sich die Hände. Der jüdischstämmige Wolf Czeschlak nutzt die Gunst der Stunde, um sich mit einem Paradiesfrucht-Stand auf Rädern selbständig zu machen. Das Geschäft brummt, vor allem weil sein Partner Gert den Umsatz mit reißerischen Verkaufsperformances in die Höhe treibt - zumindest bis ein Todesfall die Kleinstadt gehörig durcheinanderbringt ... Mit viel Liebe zu seinen Figuren erzählt Israel eine unkonventionelle Vater-Sohn-Geschichte inmitten der Provinz: Humorvoll spürt er den kleinen Absurditäten des Alltags nach, ohne dabei seine Protagonisten jemals der Lächerlichkeit preiszugeben.

Roman Israel, *1979 in Löbau, studierte Physik, Germanistik und Philosophie in Dresden. Er veröffentlichte Lyrik und Prosa in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften und erhielt zwei Aufenthaltsstipendien in Polen. Seit 2010 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig.
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I


Business und Binsen


.

11. September 1990


Wolf zog den Hänger von der Kupplung und bockte ihn auf. Er sah die LKW am Transitübergang Schlange stehen. Nicht selten reihten sich hier fünfzig oder mehr Fahrzeuge hintereinander. Heute waren es aber deutlich weniger. Wolf baute über dem Anhänger das Gerüst für die rot-weißgestreifte Markise auf und befestigte das Schild, auf dem der Name seines Geschäftes, , geschrieben stand. Dann hob er die Kisten in den dreistufigen Rahmen, damit die Kunden später besser nach den Früchten greifen konnten. Davor stellte er einen Campingtisch. Für seine Bestseller – Bananen und Saisonobst. In der Sommersaison sind das Litschis, Ananas, Kiwis, Mangos und Melonen.

Als Wurst-Womatsch mit seinem Stand eintraf (eine rollende Fleischtheke mit Plastikwurst auf dem Dach), gingen bei Wolf schon die ersten Bananen über den Tisch.

„Moin, Wolf“, rief Womatsch. Er schien nicht gut geschlafen zu haben. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und er musste reichlich oft gähnen. „Schon gehört?“ Er wedelte mit der . Die Titelseite zierte das Seitenprofil eines weißhaarigen Typen. „Ist das Honecker?“, fragte Wolf. „Ist der endlich tot?“

„Quatsch“, sagte Womatsch. „Das ist Pichow.“

„Pichow? Ist der wenigstens tot?“

„Im Gegenteil. Der ist quicklebendig und will die Stadt verklagen.“

„Verklagen? Wegen was denn?“ Wolf gab einer Kundin das Wechselgeld heraus und packte die Ananas und die Kakis in eine Tüte. „Lassen Sie sich’s schmecken, schöne Frau!“

„Pichow macht gerade einen auf Opfer. Er behauptet, er sei enteignet worden. Damals. Irgendwann!“ Womatsch schüttelte den Kopf. „Fünfzigtausend DM Entschädigung fordert sein Anwalt. Was glaubst du? Ob er damit durchkommt?“

„Ach was, der kriegt keinen Pfennig.“

Wolf wandte sich einer beleibten Frau mit Kopftuch zu, die skeptisch auf einigen Kiwis herumdrückte und eine Auskunft bezüglich der Haltbarkeit dieser Früchte haben wollte. „Von Anfang an in den Kühlschrank legen, dann sind bis zu zwei Wochen drin“, erklärte ihr Wolf. „Zwei Wochen? In zwei Wochen bin ich vielleicht schon tot“, scherzte die Frau und kaufte zehn Stück.

Wolf spürte die Müdigkeit in seinen Knochen, die sich wie ein Muskelkater anfühlte. An jedem zweiten Tag quälte er sich nun um zwei Uhr morgens aus dem Bett, flößte sich einen Viertelliter Bohnenkaffee ein und fuhr zum hundert Kilometer entfernten Dresdner Großhandel für Obst und Gemüse. Vier Stunden dauerte so eine Fahrt, zwei hin, zwei zurück. Noch etwas flotter war man natürlich auf der Autobahn, aber die Landstraße sparte jede Menge Nerven. Das Obst schaffte er dann in seine Gartenlaube, die ihm als Zwischenlager diente. So sparte er sich dienstags und donnerstags eine Fahrt. Dass sein Trabi das nach all den Jahren noch mitmachte, grenzte fast an ein Wunder. Manchmal hatte er sich schon vorgestellt, wie bei ihm die Bremsen versagten und er sich mit all dem Obst spektakulär überschlagen würde. Das Obst würde dann mit ihm zusammen den Hang hinabrutschen und dabei zu Mus werden.

Ein Mann verlangte Zwetschken. Exakt einundvierzig Stück. Nein, ein paar mehr dürften es keinesfalls sein, schon zwei mehr seien zu viel. Exakt einundvierzig bräuchte er, um seinen Blechkuchen zu backen. Er habe beim letzten Mal genau mitgezählt. Wolf zählte ihm die Früchte in eine Plastiktüte und beschwerte seine Balkenwaage mit Gewichten. Mit dem Taschenrechner rechnete er den Preis aus. „Macht drei fünfundfünfzig, bitte.“

„Was? So teuer? Da schau ich lieber erstmal bei der Konkurrenz.“

Wolf sah wieder zu Womatsch hinüber. Er war immer der Meinung, dass der etwas von einem Neandertaler hatte. Diese breiten Schultern und der brachial-anarchische Gang. Womatsch half Blumen-Karla beim Aufspannen des Sonnenschirms. Wolf starrte Karla aufs Hinterteil, das in einer engen Leggins steckte. Es war eine regelrechte Wucht. Maximale Erotik! Er leckte sich über die Lippen. Wäre Karla bloß nicht so ekelhaft intelligent. Er konnte sich nicht helfen, aber das war sie tatsächlich. Diese versnobten Späße, die nur Akademiker verstanden, diese grotesken Pointen, der rabenschwarze Humor! Was zum Teufel war eigentlich los mit dieser Frau? Aber genau das machte sie so begehrenswert. Er ging zu den beiden hinüber und ging Womatsch zur Hand, obwohl der Schirm längst aufgespannt war.

„Pfoten weg“, röhrte Womatsch, der gerade dabei war, den Schirm nach der Sonne auszurichten. „Ich kriege das selber hin!“

„Dankeschön“, sagte Karla, als es vollbracht war, und dehnte dabei das extrem in die Länge. „Das ist sehr nett von dir.“ Sie lächelte charmant und nahm die silberne Brille von der Nase, um sie an ihrer Schürze abzuputzen. Ihr Mann würde ihr daheim auch immer helfen, sagte sie. Sie sei wirklich sehr glücklich mit ihm. Eigentlich sogar sehr, sehr glücklich. Eigentlich? Wieso nur ? überlegte Wolf. Wenn Frauen ‚eigentlich‘ sagten, da war doch was im Busch. Wolf ließ seinen Blick über ihren Unterkörper wandern. Alles dran! Alles fest! Kein Makel! Doch plötzlich war Kundschaft da. Wolf musste an seinen Stand zurück.

Während einer seiner Kunden die spanischen Bergpfirsiche in Augenschein nahm, begann Wolf die Nektarinen nach Farbschattierungen zu ordnen.

Etwas später hatte sich der Himmel eingetrübt. Eine Böe hob Karlas Sonnenschirm aus dem Betonfuß und wehte ihn ein Stück davon. Diesmal war Wolf als Erster zur Stelle und half ihr ihn zusammenzufalten. Womatsch drohte ihm mit der Faust. Karla streifte Wolfs Arm und sie sahen sich für einen Moment in die Augen. Aus der Ferne war leises Donnern zu hören. Von Westen her zogen dunkel gefärbte Gewitterwolken heran, was zur Folge hatte, dass es auf dem Marktplatz schnell einsam wurde. Die Kunden zerstreuten sich in alle Winde, um sich vor dem Regenschauer in Sicherheit zu bringen.

Wolf deckte seinen Stand mit einer wasserdichten Armeeplane ab und schlug zur Sicherheit noch ein paar Heringe in den Boden, damit sie nicht weggeweht wurde. Karla hatte sich schon in ihren Bus zurückgezogen und versteckte ihr Gesicht hinter einer . Der Wind fuhr in die Kronen der Kastanien, die um den Marktplatz gruppiert waren. Die Äste bogen sich und warfen Babykastanien ab. Vögel hatten vorsorglich das Zwitschern eingestellt. Im Westen hatte sich eine gewaltige grauschwarze Wolkenfront aufgebaut, vor der ein paar weiße Nebelschleier hingen. Plötzlich ging der Regen los. Wolf spannte schnell seinen Schirm auf. Wasser suppte durch seine Sandalen, und seine Strümpfe wurden nass. Es blitzte. Einige Sekunden später setzte der Donner ein. Der Regen wurde heftiger, das anfängliche leise Brausen ging nun in ein Prasseln über.

Wolf rannte zu Karlas Bus und stieg auf der Beifahrerseite ein, während er den Schirm zusammenfaltete. Aus dem Radio tönte klassische Klaviermusik. Wasser tropfte von seiner Stirn und lief über seine Wange bis zum Hals. Karla ließ sich viel Zeit, um die Zeitung zusammenzufalten und ihren Blick auf Wolf zu richten. „Du nimmst dir ganz schön was raus“, sagte sie, als hätte sie etwas anderes erwartet.

„Ja“, erwiderte Wolf.

„Fühlst du dich nicht sicher in deinem Trabant?“ Sie lachte abfällig. Schwere Tropfen schlugen auf das Dach und einige Blitze erhellten den Himmel, auf die ein Grummeln folgte.

„Ich wusste, dass du kommst“, sagte sie.

„Ich auch.“

Sie strich sich die aschblonden Haare aus dem Nacken und streckte ihre Beine aus. „Wie müssten wir uns bei so einem Gewitter eigentlich verhalten, wenn wir jetzt mitten auf freiem Feld wären?“, fragte sie.

„Wir zwei?“

Sie nickte.

„Hm, möglichst klein machen“, antwortete Wolf, „Kopf einziehen, Füße eng zusammen, damit man den Boden so wenig wie möglich berührt und dann …“

„Auf diese Weise wird man ziemlich nass.“

„Kann schon sein.“

„Aber hier sind wir sicher! Hier müssen...


Roman Israel, *1979 in Löbau, studierte Physik, Germanistik und Philosophie in Dresden. Er veröffentlichte Lyrik und Prosa in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften und erhielt zwei Aufenthaltsstipendien in Polen. Seit 2010 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig.



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