Ismailov | Wunderkind Erjan | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Ismailov Wunderkind Erjan


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7518-0625-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-7518-0625-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Durch die Weite der Steppe Kasachstans fährt ratternd ein Zug. In ihm begegnen sich ein Reisender und Erjan, das Wunderkind. Der Knabe spielt mitten in dieser vom Zug durchquerten Einöde so virtuos auf seiner Violine, dass nicht nur dem Erzähler Hören und Sagen vergeht. Doch die Musik bleibt nicht das einzige Wunder. Denn der Junge, der aussieht wie zehn oder zwölf, ist in Wahrheit bereits ein Mann von 27 Jahren; als Kind tauchte er allen Warnungen zum Trotz in einen nuklear verseuchten See. Hamid Ismailov versetzt damit das Blechtrommel-Motiv des Immer-Kind-Bleibenden in die Einöde des von 486 Atombombentests verseuchten Kasachstan und gibt ihm eine herbe Intensität von tiefer Schönheit. Zwei Welten prallen darin aufeinander: die Weite und Einsamkeit der Steppe Kasachstans und die moderne Welt außerhalb davon – der Zug, der diese wie stehen gebliebene Welt täglich durchfährt, die Atomtests, die wie eine unsichtbare Macht die Natur und die Menschen verändern, die Musik, die einen anderen Rhythmus in Yerzhans Leben bringt.
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Geboren wurde Erjan auf der Bahnstation Qara-Sha?an der Ostkasachstanischen Eisenbahn in der Familie seines Großvaters Daulet-Temirjol*, der hier Streckenwärter war – einer von denen, die nachts mit Hämmern Radscheiben und Bremsbacken zum Tönen bringen und am Tage hin und wieder einmal – auf den Anruf des Dispatchers hin – vor die Tür treten, um die Weiche umzustellen, wenn nämlich irgendein müde gelaufener Güterzug auf dem Nebengleis stehen und abwarten muss, dass ein Schnellzug ähnlich dem unseren oder ein Sonderzug die Station wie ein Wirbelwind passiert.

Wiewohl also Erjan behütet in der Familie seines Großvaters zur Welt gekommen war, stand in seiner Geburtsurkunde unter »Vater« ein fetter Strich; verzeichnet war nur die Mutter, Qanyshat, Tochter von Daulet-Temirjol, die gleichfalls im Hause lebte – einem von zwei Eisenbahnerhäusern an dieser Station; neben dem Großvater, Erjan und ihr lebten auch noch Großmutter Ulbarsin und ihr Jüngster, Kepek-Na?ashi hier. In dem anderen wohnte die Familie des zweiten Stellwärters, Nurpeyis, Gott hab ihn selig, der von einem außerplanmäßigen Zug überrollt worden war: seine Frau, Tante Sholpan-Sheshe, sowie deren Sohn Shaken und Schwiegertochter Bayshishek, die Städtische, und beider Tochter Aysulu, die ein Jahr jünger war als Erjan.

Damit war die Bevölkerung von Qara-Sha?an auch schon komplett – abgesehen von einem halben Hundert Schafen, fünf Kühen, drei Eseln, zwei Kamelen und dem Hengst Ay?ir, sämtlich in Gemeinbesitz. Außerdem war da noch der Hund Qapti, der sich aber meistenteils bei Aysulu aufhielt, weshalb Erjan ihn nicht mitrechnete, ebenso wenig die Schar staubiger Hühner samt ein paar lärmseligen Hähnen, deren Zahl sich so undurchschaubar schnell vermehrte, wie sie auch wieder abnahm, sodass keiner auf der Station genau wusste, wie viele es gerade waren.

Was die Undurchschaubarkeit der Vermehrung anging, so war auch nicht klar, durch wen und auf welche Weise Erjans Mutter Qanyshat mit ihm schwanger geworden war. Verflucht dafür von ihrem Vater, hatte sie in Gegenwart ihres »in Keuschheit empfangenen« Sohnes kein Wort je darüber verloren. Was Erjan von seiner Großmutter Ulbarsin wusste, war, dass Qanyshat einmal im Alter von sechzehn Jahren in die Steppe gerannt sei, ihrem Seidentuch hinterher, dass der Steppenwind davongetragen habe, wie um sie zu foppen, immer tiefer und tiefer in die Steppe hinein, der untergehenden Sonne entgegen. Und was sich dann zugetragen hatte, klang so märchenhaft, dass Erjan sich keinen Reim darauf machen konnte: Die untergehende Sonne sei plötzlich zurück in den Himmel geschnellt, ein Beben sei vom Horizont her durch die Erde gegangen, der brausende Wind mit einem Mal erstorben und im nächsten Moment in die Gegenrichtung zurückgebraust, ihm auf den Fersen ein schwarzer Taifun, der mit unerhörtem Getöse den Staub der Steppe himmelan getrieben – und als Qanyshat, mehr tot als lebendig, bis aufs Blut zerkratzt und zerschunden, sich im Auge des Taifun, am Grunde einer Schlucht wiedergefunden habe, da sei ein Wesen über sie gestiegen wie von einem anderen Stern, in Helm und außerirdischem Anzug.

Kurzum, bei dieser Gelegenheit sei Qanyshat schwanger geworden, und drei Monate später, als die Schwangerschaft offenkundig war, hat Daulet-Aqa sie furchtbar verprügelt und verflucht, und wären nicht Kepek und Shaken gewesen, die den wutschäumenden Alten von der halbtoten Tochter gerissen und zu Sholpan-Sheshe hinübergezerrt, so hätten wohl weder Qanyshat noch ihr Sohn Erjan diesen Tag überlebt …

Von Stund an aber hatte Qanyshat kein Wort mehr gesprochen.

Kein Wort also von der Mutter, doch die übrigen Frauen, und allen voran Ulbarsin und Sholpan, hielten ihre Zunge nicht im Zaum. Erjan entsann sich an grimmige Winternächte, als es durch alle Ritzen hereinpfiff und er zu Großmutter unter die kamelwollene Decke schlüpfte, damit sie ihm ihre nicht enden wollenden Geschichten erzählte, dabei kratzte sie ihm das von wimmelnden Würmern juckende Poloch.

»Bei Täñgir* im neunten Himmel wächst der heilige Baum Qayiñ, an dem das Qut hängt, als wären es Blätter.«

»Das Qut, was ist das?«, fragte Erjan immer noch fröstelnd; das Wort verwunderte ihn, weil es nach Köt – Arsch – klang.

»Das ist das Glück. Wenn man’s warm hat und satt ist«, erwiderte die Großmutter, und weiter ging ihr unversiegliches Wispern: »Als deine Geburt bevorstand, ist das Qut vom Baum gefallen und durch den Rauchfang in unser Haus geplumpst, ganz wie es dem Täñgir und unserer Großen Mutter Umay gefiel. Das Qut fiel deiner Mutter in den Bauch und nahm in ihrem Schoß die Gestalt eines roten Wurms an …«

»Ist es der, den du mir grad aus dem Po kratzt?«

Die Großmutter prustete und klatschte ihm mit der runzligen Hand – derselben, die ihm eben noch das Löchlein geschabt – zärtlich auf die Wange.

»Schlaf, du kleiner Quatschkopf, sonst zürnt Mutter Umay und nimmt dir noch dein Qut weg!«

Andermal wieder, wenn er bei Tante Sholpan nächtigte – der niedlichen Aysulu wegen, der er schon ins Ohrläppchen gebissen hatte, um sie später einmal zu heiraten – war es an Sholpan-Sheshe, ihm von seiner Geburt zu erzählen, wobei sie das Märchen von Täñgirs Sohn Geser einzuflechten pflegte.

»Täñgir sandte Geser hinab auf die Erde, in ein Steppenreich, das keinen Herrscher hatte.«

»Etwa zu uns?«, fuhr Erjan auf, doch ein Blick der Tante, halb verschmitzt, halb strafend, ließ ihn verstummen.

»Damit ihn niemand erkannte, erschien Geser in Gestalt eines rotznäsigen kleinen Jungen, wie du einer bist«, fuhr Sholpan-Sheshe fort und nutzte die Gelegenheit, ihm in die Nase zu kneifen, worauf Erjan niesen musste, sodass, um die in ihrer Wiege schlummernde Aysulu nicht zu wecken, die Großmutter seine Nase schleunigst fahren ließ und die ihre zärtlich an seiner Stirn rieb, ehe sie die Geschichte wiederaufnahm:

»Einzig Qara-Shotoñ, der sein Onkel war, so wie Kepek-Na?ashi deiner ist, hat erkannt, dass der Junge kein einfaches Kind, sondern göttlicher Abkunft war, und fing an, ihm nachzustellen; er wollte ihm den Garaus machen, bevor er groß und stark würde. Aber Täñgir hat Geser jedes Mal vor den Untaten des Qara-Shotoñ bewahrt. Als Geser zwölf wurde, sandte Täñgir ihm das beste Reitpferd auf Erden, und Geser gewann das große Wettreiten um die schöne Urmay-sulu und eroberte den Thron dieses Steppenreiches.«

»Kasachst…«, lag es Erjan auf der Zunge zu sagen, doch er sah die funkelnden Augen der Sheshe und hielt an sich.

»Doch nicht lange durfte der wackere Geser sein Glück und seine Ruhe genießen, denn vom Norden her drang der furchtbare menschenfressende Dämon Lubsan in sein Reich vor. Zwar geschah es, dass sich des Menschenfressers Weib Tümen Djir?alañ in Geser verliebte und ihm daher ein Geheimnis ihres Mannes preisgab, welches Geser benutzte, um Lubsan totzuschlagen, doch darauf verabreichte Tümen Djir?alañ ihm einen Vergessenstrunk, um ihn an sich zu binden. Geser trank den Becher leer, vergaß seine geliebte Urmay-sulu und blieb bei Tümen Djir?alañ wohnen.

Unterdessen brachen im Steppenreich Revolten aus, und Qara-Shotoñ nahm sich Urmay-sulu gewaltsam zur Frau. Täñgir aber ließ Geser nicht im Stich, er führte ihn ans Tote Meer und befreite ihn von dem Zauber, indem er ihm das Spiegelbild seines Zauberpferdes im Wasser zeigte. Auf diesem Pferd kehrte Geser in sein Steppenreich zurück, schlug Qara-Shotoñ und befreite seine Urmay-sulu …«

Spätestens an dieser Stelle war Erjan, dem an Sholpan-Sheshes Busen ausreichend warm geworden, selig entschlummert; das Ende des Märchens, das ihm sein künftiges Leben voraussagte, träumte er in einem flauschigen Kindertraum.

Die Wege durch die Steppe – und seien es Schienenwege – sind lang und eintönig; verkürzen lassen sie sich nur im Gespräch. Erjan erzählte mir aus seinem Leben. Sein Bericht war dem Schienenstrang ähnlich – ohne viel Biegungen und Schleifen, er floss dahin, so wie die Drähte draußen längs der Strecke, von Mast zu Mast schwingend, dahinflossen, und das Klopfen der Schienenstöße schien der Erzählung Takt um Takt, Takt um Takt den Rhythmus vorzugeben. Seine frühe Kindheit erinnerte er als ein fortwährendes Hin und Her zwischen beiden Häusern, von sich zu Aysulu hinüber – nicht nur der hübschen kleinen Prinzessin zuliebe, die der Sprache noch nicht mächtig...


Tretner, Andreas
Andreas Tretner, 1959 in Gera geboren, u¨bersetzt aus dem Russischen, Bulgarischen und Tschechischen u. a die Bu¨cher von Michail Schischkin, Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin. Fu¨r seine U¨bersetzungen erhielt er den Paul- Celan-Preis und den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.

Ismailov, Hamid
Hamid Ismailov, 1954 geboren in Tokmok im Norden Kirgisistans, an der Grenze zu Kasachstan, ging als junger Mann nach Usbekistan, wo er die Militärschule absolvierte; 1992 musste er das Land aufgrund seiner politischen U¨berzeugungen verlassen. 1994 zog er nach London, wo er bis 2019 als Journalist fu¨r den BBC World Service arbeitete. Anfang der 1990er Jahre begann er, zusammen mit dem französischen Komponisten Michel Karsky mit musikalischer Musik zu experimentieren. 2019 gewann er den EBRD Literaturpreis für The Devils’ Dance (Der Tanz des Teufels). Seine Bu¨cher sind vielfach ausgezeichnet und in viele Sprachen u¨bersetzt, in Usbekistan sind sie noch immer verboten. Heute lebt Hamid Ismailov in Prag.

Hamid Ismailov, 1954 geboren in Tokmok im Norden Kirgisistans, an der Grenze zu Kasachstan, ging als junger Mann nach Usbekistan, wo er die Militärschule absolvierte; 1992 musste er das Land aufgrund seiner politischen U¨berzeugungen verlassen. 1994 zog er nach London, wo er bis 2019 als Journalist fu¨r den BBC World Service arbeitete. Anfang der 1990er Jahre begann er, zusammen mit dem französischen Komponisten Michel Karsky mit musikalischer Musik zu experimentieren. 2019 gewann er den EBRD Literaturpreis für (Der Tanz des Teufels). Seine Bu¨cher sind vielfach ausgezeichnet und in viele Sprachen u¨bersetzt, in Usbekistan sind sie noch immer verboten. Heute lebt Hamid Ismailov in Prag.

Andreas Tretner, 1959 in Gera geboren, u¨bersetzt aus dem Russischen, Bulgarischen und Tschechischen u. a die Bu¨cher von Michail Schischkin, Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin. Fu¨r seine U¨bersetzungen erhielt er den  und den .



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