E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-15326-7
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.
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1. KAPITEL Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor. Die von den Römern zurückgelassenen Straßen waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis zurückerobert. Über Flüssen und Sumpf hing ein eisiger Nebel, was den Menschenfressern, die es damals noch gab, nur allzu gelegen kam. Die dort lebenden Menschen – man fragt sich, welche Verzweiflung sie dazu getrieben hatte, sich in derart trübsinnigen Gegenden niederzulassen – mochten sich wohl gefürchtet haben vor diesen Geschöpfen, die man, lang bevor ihre Missgestalt aus dem Nebel auftauchte, an ihrem rasselnden Atem erkennen konnte. Aber nicht diese Wesen waren es, die Anlass zur Verwunderung gaben. Für die Menschen damals waren sie alltägliche Gefahren; es gab doch so viel anderes, worum man sich Gedanken machen musste. Wie man dem harten Boden Nahrung abtrotzte, was zu tun war, damit einem das Brennholz nicht ausging; wie man die Krankheit besiegte, der an einem einzigen Tag ein Dutzend Schweine zum Opfer fielen und die auf den Wangen der Kinder grünen Ausschlag hervorrief. Die Menschenfresser waren jedenfalls nicht so schlimm, solange man sie nicht provozierte. Man musste damit leben, dass hin und wieder ein solches Wesen, vielleicht nach einem undurchsichtigen Streit in der Sippe, in wildem Zorn ins Dorf gestapft kam, trotz allem Gebrüll und Waffengerassel dort herumtobte und schrie und jeden verletzte, der nicht schnell genug das Weite suchte. Oder dass gelegentlich einer ein Kind raubte und mit ihm im Nebel verschwand. Solchen Untaten begegnete man damals möglichst mit philosophischem Gleichmut. In einer dieser Siedlungen, die im Schatten zerklüfteter Felsen, am Rand eines ausgedehnten Sumpfgebiets lag, lebte ein älteres Paar, Axl und Beatrice. Es mochten nicht genau oder nicht ihre vollständigen Namen sein, doch der Einfachheit halber wollen wir sie so nennen. Ich würde sagen, dass dieses Paar ein zurückgezogenes Leben führte, aber »zurückgezogen« in einem heutigen Sinn war damals kaum jemand. Wärme und Schutz suchte die Landbevölkerung in Behausungen, die teils tief in den Hügel gegraben und durch unterirdische Gänge und gedeckte Gräben miteinander verbunden waren. Unser älteres Paar lebte mit rund sechzig weiteren Bewohnern in einem solchen Bau – »Gebäude« wäre ein zu großes Wort dafür. Wärt ihr, aus diesem Bau kommend, zwanzig Minuten rund um den Hügel gewandert, so wärt ihr zur nächsten Siedlung gelangt und hättet sie als der ersten völlig gleich empfunden. Ihre Bewohner jedoch hätten zahlreiche Unterschiede wahrgenommen, Kleinigkeiten, die ihnen Anlass zu Stolz oder Scham gegeben hätten. Es ist nicht meine Absicht, euch den Eindruck zu vermitteln, dass das Britannien jener Tage nicht mehr zu bieten hatte; dass wir hierzulande kaum die Eisenzeit überwunden hatten, während in anderen Teilen der Welt große Kulturen erblühten. Durchaus nicht: Hättet ihr die Möglichkeit gehabt, nach Belieben durchs Land zu streifen, so hättet ihr Burgen entdeckt, in denen es Musik, gutes Essen, herausragende Athleten gab; oder Klöster, deren Bewohner ins Studium vertieft waren. Aber es hilft nichts: Selbst auf einem starken Pferd und bei gutem Wetter hättet ihr tagelang reiten können, ohne dass ihr im grünen Urwald eine Burg, ein Kloster erspäht hättet. Gefunden hättet ihr vor allem Gemeinschaften wie die oben beschriebene, und wärt ihr nicht mit Nahrung oder Kleidung als Geschenken gekommen oder bewaffnet bis an die Zähne, so wärt ihr wohl nicht empfangen worden. Es tut mir leid, dass ich kein hübscheres Bild von unserem Land, wie es damals war, zeichnen kann, aber so ist es eben. Kehren wir zu Axl und Beatrice zurück. Dieses ältere Paar lebte, wie gesagt, im Außenbereich eines Gemeinschaftsbaus, wo ihre Unterkunft den Elementen stärker ausgesetzt war und vom Feuer im Großen Saal, um das sich abends alle versammelten, kaum profitierte. Vielleicht hatten sie früher näher beim Feuer gewohnt; in einer Zeit, als sie mit ihren Kindern zusammenlebten. Eigentlich war das nur so ein Gedanke, der Axl in den Sinn kam, wenn er in den leeren Stunden vor Tagesanbruch im Bett lag, neben sich seine tief schlafende Frau, und ein Gefühl von namenlosem Verlust empfand, das an seinem Herzen fraß und ihn nicht wieder einschlafen ließ. Vielleicht war das der Grund, weshalb sich Axl an diesem besonderen Morgen überhaupt aus dem Bett erhob und leise ins Freie schlich, um auf der windschiefen alten Bank neben dem Eingang zu sitzen und aufs erste Licht zu warten. Es war Frühling, aber noch herrschte eine schneidende Kälte; das spürte er trotz Beatricens Umhang, den er auf dem Weg nach draußen mitgenommen hatte, um sich darin einzuwickeln. Doch dann war er so tief in seinen Gedanken versunken, dass ihm die Kälte erst ins Bewusstsein drang, als die Sterne fast verblasst waren und am Horizont ein leuchtender Streif erschien und breiter wurde, während sich aus dem Dämmer das erste Vogelgezwitscher erhob. Langsam stand er auf. Jetzt bereute er, dass er so lang draußen geblieben war. Er war bei guter Gesundheit; aber das letzte Fieber war er lang nicht losgeworden, und einen Rückfall wollte er vermeiden. Jetzt spürte er zwar die feuchte Kälte in den Beinen, doch als er sich anschickte, wieder hineinzugehen, war er recht zufrieden: Es war ihm an diesem Morgen manches wieder eingefallen, an das er sich schon seit einer ganzen Weile vergeblich zu erinnern versucht hatte. Und er ahnte, dass er im Begriff war, eine folgenreiche Entscheidung zu treffen, die er schon zu lang vor sich herschob; jetzt erfüllte ihn eine Erregung, die er unbedingt mit seiner Frau teilen wollte. Drinnen war alles noch vollkommen dunkel, und er musste sich den kurzen Weg bis zur Tür seiner Kammer ertasten. Viele »Türen« innerhalb des Gemeinschaftsbaus waren einfach bogenförmige Öffnungen, durch die man eine Kammer betrat. Die offene Bauweise hätten die Bewohner durchaus nicht als Verletzung ihrer Privatsphäre empfunden; schließlich kam ihnen jeder warme Hauch zugute, der vom großen oder den kleineren im Bau erlaubten Feuern durch die Gänge wehte. Der Raum, den Axl und Beatrice bewohnten, lag aber weitab von jedem Feuer und hatte daher etwas, das uns entfernt als Tür erschiene: einen breiten hölzernen Rahmen, in den kreuz und quer kleine Äste, Ranken und Disteln eingeflochten waren; zwar musste man ihn, wenn man den Raum betrat oder verließ, jedes Mal zur Seite stellen, aber er hielt die kalte Zugluft fern. Axl hätte liebend gern darauf verzichtet, Beatrice jedoch hatte mit der Zeit beträchtlichen Stolz auf diese Tür entwickelt. Oft fand er, wenn er heimkam, seine Frau damit beschäftigt, welke Teile aus dem Gebilde zu zupfen und frische Stecklinge einzuflechten, die sie tagsüber gesammelt hatte. An diesem Morgen schob Axl die Tür nur so weit zur Seite, dass er hindurchkam, und bemühte sich, möglichst leise zu sein. Durch die Spalten und Ritzen der Außenwand drang das frühmorgendliche Licht herein. Undeutlich erkannte er seine Hand vor den Augen und auf dem Grasbett Beatricens Gestalt unter den dicken Decken. Sie schlief noch immer fest. Es reizte ihn sehr, seine Frau zu wecken. Ein Teil von ihm war sicher, dass, wäre sie in diesem Augenblick wach, ein Gespräch mit ihr die letzten Hürden, die ihn von seiner Entscheidung noch trennten, einreißen würde. Aber bis die Gemeinschaft aufstand und mit dem Tagwerk begann, dauerte es noch eine Weile, und Axl setzte sich auf den niedrigen Schemel in der Ecke, fest in den Umhang seiner Frau gewickelt. Er dachte an den Nebel; überlegte, wie dicht er an diesem Morgen wohl war und ob man, wenn es heller wäre, sehen könnte, wie er durch die Ritzen in die Kammer eindrang. Aber bald trieben seine Gedanken von solchen Fragen wieder fort und kehrten zurück zu dem, was ihn beschäftigt hatte. Hatten sie immer so gelebt, nur sie beide, am Rand der Gemeinschaft? Oder war es einmal ganz anders gewesen? Vorhin, draußen, waren kurze Erinnerungsbilder aufgeblitzt: wie er, den Arm um eines seiner Kinder gelegt, durch den langen Mittelgang des Baus ging, leicht gebückt, aber nicht weil er altersgebeugt war, wie wohl heute, sondern weil er vermeiden wollte, im trüben Zwielicht mit dem Kopf an die Balken zu stoßen. Womöglich hatte das Kind mit ihm gesprochen, hatte etwas Lustiges gesagt, denn sie lachten beide. Aber es hielt sich jetzt nichts mehr so recht in seinem Geist, wie vorhin, draußen, und je mehr er sich konzentrierte, desto blasser wurden die Erinnerungen. Vielleicht waren es nur die Hirngespinste eines alten Narren. Vielleicht hatte ihnen Gott ja niemals Kinder geschenkt. Ihr fragt euch vielleicht, weshalb Axl nicht seine Nachbarn bat, ihm dabei zu helfen, sich die Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, aber so einfach, wie man annehmen möchte, war es nicht. Es wurde in dieser Gemeinschaft kaum über frühere Zeiten gesprochen. Das soll nicht heißen, die Vergangenheit sei tabu gewesen. Es soll heißen, dass sie aus irgendeinem Grund in einem Nebel versunken war, der so dicht war wie die Dampfschwaden über den Sümpfen. Es kam diesen Menschen einfach nicht in den Sinn, über Vergangenes nachzusinnen – nicht einmal über das, was erst vor Kurzem passiert war. Um ein Beispiel zu nennen, eine Angelegenheit nämlich, mit...