Irma | Warten auf den Wind | Buch | 978-3-96362-148-2 | sack.de

Buch, Deutsch, 471 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 221 mm, Gewicht: 677 g

Irma

Warten auf den Wind


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96362-148-2
Verlag: Francke-Buch GmbH

Buch, Deutsch, 471 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 221 mm, Gewicht: 677 g

ISBN: 978-3-96362-148-2
Verlag: Francke-Buch GmbH


Südafrika, 1976:
Das Leben von Katrien Neethling ist behütet und vorhersehbar – bis eine schreckliche Tragödie die Familie erschüttert. In dieser schwierigen Situation findet Katrien in ihrer Familie nicht den Halt, den sie braucht. Als aufmüpfiger Teenager eckt sie überall an und fühlt sich schließlich als Außenseiter. Als sie hört, dass in den Townships die Polizei auf schwarze Schulkinder schießt, wird ihr Urvertrauen in die Welt endgültig erschüttert. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war ...

Polen, 1980:
Der Student Wladek Kowalski will seinem Land zur Unabhängigkeit verhelfen. Er schließt sich der wachsenden Gewerkschaftsbewegung um Lech Walesa an und geht schließlich in den Untergrund. Aber er fliegt auf und muss fliehen. Sein Weg führt ihn nach Südafrika, zu seinem Onkel Jakob und dessen Frau Grietje. Dort begegnet er der Aktivistin Katrien Neethling …

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1. Kapitel

Bosveld 1976

»Und dann war der Englische Krieg und alle Männer sind auf ihren Pferden weggeritten.«
Jedes Mal, wenn Katrien Neethling und Agatha Kekana Burenkrieg spielen, fangen sie mit diesem Teil aus Opas Erzählungen an: Ihr Ururgroßvater und seine Söhne verschwinden auf ihren Pferden und lassen die Frauen allein zurück – mit einer ganzen Menge Kinder. Mit wie vielen Kindern genau, weiß Katrien nicht, aber es sind mit Sicherheit mindestens dreißig gewesen. Mit ihrem Taschentuch winkt sie den Männern hinterher. »Winken, Agatha!« Anschließend seufzt sie tief und geht Brot backen oder pflügen. Ans Schlachten macht sie sich nicht, denn sie kann kein Blut sehen.
Katrien Neethling ist zehn Jahre alt und wohnt im Bosveld auf einer Farm, die »Oorlogslaagte«, »Kriegssenke« heißt. Ihr Vater ist Kobus Neethling, er ist der Vorsitzende der Landwirtschaftsvereinigung und deshalb ziemlich wichtig. Ihre Mutter heißt Salomé – die ist einfach nur Mutter und macht manchmal russische Eier für die Frauenvereinigung oder für eine Hochzeit oder eine Beerdigung. Katrien hat zwei ältere Brüder und zwei Schwestern, die Zwillinge sind. Sie ist die Nachzüglerin in der Familie, der Benjamin. Das ist wunderbar, denn dann wird man durch jeden ein bisschen verwöhnt. Auf der anderen Seite ist man aber immer auf sich allein gestellt.
Opa Bernard und Oma Kate, die in dem Haus nebenan wohnen, haben einander, genau wie Papa und Mama, ihre Brüder Bernard und Hannes und ihre Schwestern Salomé und Sorette. Katrien hat Agatha, aber das ist nicht wirklich dasselbe.
Agatha ist die Tochter von Martha, die in der Küche arbeitet. Die Küche ist der schönste Ort im ganzen Haus, denn da steht der große Ofen mit der Kaffeekanne und der große Tisch, auf dem ein Teller mit Zwieback und Plätzchen steht. Katrien und Agatha haben schon immer miteinander gespielt, schon von klein auf. Agatha ist eine Kleinigkeit älter und musste früher auf Katrien aufpassen. Sie hat ihr Nord-Sotho beigebracht und später hat sie von Katrien Afrikaans gelernt.
Wenn Tante Gretel und Onkel Jakób aus Johannesburg zu Besuch kommen, hat Katrien so immer noch eine Spielkameradin, denn auch deren Kinder sind viel älter als sie.
Katrien ist ganz verrückt nach Geschichten, egal ob sie in Büchern stehen oder wirklich passiert sind, so wie die Geschichten von Opa. Aber von der Gegenwart will sie nichts hören, denn diese Zeit ist furchtbar langweilig. Es passiert einfach überhaupt nichts. Sie mag Geschichten über lange zurückliegende Zeiten, vor allem über den Burenkrieg.
Wenn sie mit Agatha Burenkrieg spielt, ist Katrien immer die Urgroßmutter Susan, die Grandpa John wieder gesund pflegt, denn das ist die schönste Geschichte, die sie kennt. Ihr Ururgroßvater war seinerzeit auch Farmer auf Oorlogslaagte – aber das ist schon mindestens hundert Jahre her, vielleicht sogar tausend. Seine Frau hieß Katharina Johanna. Das ist die Oma von Oma Kate gewesen und ihre Oma ist nach ihr benannt worden, nur eben auf Englisch: Catharine Jo-Ann. Katrien ist nach derselben Oma benannt worden, diesmal allerdings auf Afrikaans: Katharina Johanna. Sie hätte lieber den englischen Namen ihrer Oma getragen – der ist viel schöner! Ihren eigenen Namen findet sie schrecklich, vor allem das »Katharina« – das ist wirklich der furchtbarste Name der Welt.
Ihr Ururgroßvater und ihre Ururgroßmutter sind noch mit dem Handkarren unterwegs gewesen, der jetzt bei ihrer Oma im Vorgarten steht und in dem sie manchmal mit Agatha spielt. Danach machen sie häufig einen langen Ausflug und gehen irgendwo picknicken oder sie gehen in die Kirche. Doch heute spielen sie Burenkrieg.
Agatha muss erst Feuer machen und Brot backen, aber anschließend schlüpft sie sofort in die Rolle der Engländer.
»Ich kann aber gar kein Englisch«, beschwert sich Agatha.
»Das macht nichts, ich sage dir einfach, was du sagen musst. Jetzt kämst du auf einem Pferd angeritten. Und du wärst mit einer großen englischen Patrouille unterwegs, du musst also so mit der Hand herumzeigen, damit sie alle mitkommen. Genau wie im Kino.«
»Im Kino bin ich aber noch nie gewesen«, entgegnet Agatha. »Woher soll ich dann wissen, was ich tun muss?«
»Du bist noch nie im Kino gewesen? Warum denn nicht?«, will Katrien erstaunt wissen. »Gefällt es dir da nicht?«
»Woher soll ich das wissen? Ich bin da doch noch nie gewesen.«
»Oh, na ja. Dann mach halt so mit deinem Arm und dabei reitest du weiter«, erklärt Katrien und macht es ihr vor. »Nicht umdrehen, einfach geradeaus schauen.«
Denn genau so ist die englische Patrouille bei ihrem Haus angekommen. Die Männer sind bis direkt vor die Haustür geritten. Das Haus steht immer noch da, aber Katriens Vater benutzt es jetzt als Abstellraum. Katrien und Agatha gehen nie dorthin, denn Martha meint, dass es dort spukt, und die Mädchen haben Angst, sie könnten dort einem Gespenst begegnen.
Jetzt muss Agatha vom Pferd steigen, dabei hat sie einen Mann in den Armen. Die Engländer, die hier vor langer Zeit vorbeigekommen sind, hatten nämlich einen kranken Soldaten bei sich.
»Wie soll ich denn jetzt einen Mann tragen? Der ist doch viel zu schwer!«, beschwert sich Agatha schon wieder.
»Hey, jetzt stell dich mal nicht so dumm an, du bist doch ein starker Engländer!«
»Wenn du mich beschimpfst, spiele ich nicht mehr mit!«, entgegnet Agatha wütend.
»Ist ja gut, jetzt bring einfach den Soldaten hierher«, versucht Katrien sie zu beruhigen. Agatha kann manchmal ganz schön störrisch sein.
»Was soll ich denn sagen?«
»Make this man better or I shoot you. (Mach, dass es diesem Mann besser geht, oder ich erschieße dich.)«
»Mäik siss män better or ei … or ei …«
»Shoot you.«
»Schuut ju«, sagt Agatha.
»Bring him here, put him in this bed (Bring ihn her, leg ihn in dieses Bett)«, erwidert Katrien.
»Ich kapiere das nicht …«, fängt Agatha an.
»Du weißt doch ganz genau, was du tun musst. Lege ihn jetzt da in das Bett.«
Der Soldat ist schlimm krank gewesen. Sein schwarzes Haar ist ganz nass vom Schweiß gewesen, sein Gesicht war feuerrot und trotzdem hat er auch ein bisschen gelb ausgesehen mit so einem weißen Ring um den Mund – bah. Er hat Malaria bekommen, als sie im Bosveld am Kämpfen gewesen sind. Zum Glück hat er nirgendwo geblutet, sonst hätte sich Katrien sicher vor ihm gegraust und Oma Susan vermutlich auch.
Der kranke Soldat ist der Anführer der Engländer gewesen. Oma Susan und ihre Mutter haben ihn gesund machen müssen, sonst hätten die Engländer sie totgeschossen, erzählt Opa Bernard immer. Wegen des Fiebers hat der Mann die ganze Zeit gezittert und dann ist es ihm auf einmal glühend heiß geworden. Das ist so, wenn man Malaria hat. Katrien hat deshalb eine ganze Menge zu tun. »Hol schnell die Decken«, fordert sie Agatha auf. »Und bring auch gleich ein Glas Wasser mit.« Sie macht das Essen fertig und füttert ihn damit Löffelchen für Löffelchen. Er heißt John Woodroffe, flüstert er ihr zu.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragt Agatha.
»Du gehst Feuer machen und knetest den Brotteig«, befiehlt Katrien.
»Aber ich bin doch ein Engländer?«
»Ja, schon, bis eben, aber jetzt bist du das Küchenmädchen.«
Eigentlich weiß Katrien nicht so genau, wie sie jetzt weiterspielen muss, denn Oma Susan und Grandpa John haben sich ineinander verliebt. Aber wie soll man das spielen? Davon hat sie keine Ahnung. Aufs Küssen hat sie überhaupt keine Lust. Sie hat Hannes und sein Mädchen einmal dabei beobachtet – echt eklig fand sie das!
»Ich habe keine Lust mehr«, jammert Agatha.
»Es ist auch viel zu heiß«, erwidert Katrien. »Komm, wie fragen deine Mutter mal, ob sie Zitronenlimonade für uns hat.«
An der Küchentür will Agatha von ihr wissen: »Was magst du lieber: Süßigkeiten oder ins Kino gehen?«
Katrien runzelt die Stirn. »Das kann ich nicht so einfach sagen. Süßigkeiten sind Süßigkeiten und Kino ist Kino – es ist einfach nicht dasselbe, verstehst du?«

Gelegentlich gehen sie an einem Freitag- oder Samstagabend ins Autokino. Im Ort gibt es ein Kino, in dem man auf einem weichen Sessel sitzt und Popcorn isst, aber das ist viel zu teuer und bei Katrien zu Hause gibt es viele Kinder – wenn sie das machen, ist Papa gleich wieder pleite.
Ihre Mutter und die Zwillingsschwestern mögen Liebesgeschichten, Katrien findet jedoch die Küsserei ziemlich langweilig. Ihr Vater und ihre Brüder lieben James Bond und Cowboyfilme, aber Katrien mag die ganze Schießerei nicht. Wenn sie mit Agatha Krieg spielt, dann schießen sie nie – dann machen sie nur Menschen gesund. Trotzdem sagt Katrien nie, dass ihr die Filme nicht gefallen, denn wenn sie das täte, müsste sie zu Hause bei Oma bleiben und gemeinsam mit den anderen ausgehen mag sie schon sehr.
»Darf Agatha heute Abend mit ins Kino?«, will sie am Samstagnachmittag von ihrer Mutter wissen. »Sie kennt das gar nicht.«
»Nein, das geht nicht, die darf da nämlich nicht hinein.«
»Warum denn nicht?«
»Weil sie schwarz ist.«
Über Katriens Nase erscheint eine Falte. »Warum sollen denn schwarze Kinder nicht ins Kino gehen dürfen?«
»Hey, Katrien, das ist einfach so. Das steht nun einmal so im Gesetz. So, und jetzt geh bitte noch ein bisschen draußen spielen. Ich muss kochen.«
Katrien überlegt einen Augenblick. »Aber wenn wir Agatha unter einer Decke verstecken würden? Dann könnte sie heimlich unter der Decke …«
»Katrien!«
Gut, sie geht nach draußen, das ganze Stück bis zur Hintertür schlurft sie aber betont langsam – ihre Mama soll ruhig merken, dass sie schlechte Laune hat.
Vielleicht kann sie selbst ja beim nächsten Mal versuchen, Agatha unter einer Decke hineinzuschmuggeln, irgendwo im Gepäckraum von ihrem Kleinbus – da kümmert sich doch sowieso niemand darum, was sie hinten macht. Einmal hat sie während eines furchtbar langweiligen Films eine ganze Schachtel Pralinen allein gegessen. Als die anderen das nach dem Film endlich gemerkt haben, sind sie ganz schön stinkig geworden. »Du setzt langsam Babyspeck an«, hat Salomé geschnaubt.
»Und du kriegst Pickel!«, hat Sorette hinzugefügt.
Aber da war es schon zu spät, weil die Pralinen schon in ihrem Bauch waren.

In dem Film heute Abend geht es um einen großen Mann mit Falten um den Mund, der auf einem Pferd reitet und um sich schießt. Er heißt John Wayne, das weiß Katrien, im Kino hängen schließlich überall Plakate vom ihm, genau wie von Sean Connery – allerdings sind die beiden nie gemeinsam auf demselben Plakat zu sehen, weil John Wayne gegen die Indianer kämpft und Sean Connery gegen die Kommunisten, so wie in dem Film From Russia with love. Ein schöner Titel für einen Film, findet Katrien – Liebesgrüße aus Moskau. Aber wenn es nach Opa geht, ist Russland voller Kommunisten und die sind rot und gefährlich. Beide Männer, John Wayne und Sean Connery, sind ganz verrückt nach hübschen Frauen – John Wayne nach jungen Frauen in langen Kleidern ohne irgendein bisschen nackte Haut und Sean Connery auf junge Frauen in Bikinis, bei denen ganz viel nackt bleibt. Wenn Katrien später einmal groß ist, wird sie nur Kleider tragen, die man bis zum Hals zuknöpfen kann, denn mit nackter Haut möchte sie nichts zu tun haben.
Oft kann sie sich auf die Handlung des Filmes keinen Reim machen. Deshalb hat sie sich auch seinerzeit über die Pralinen hergemacht. Aber momentan haben die anderen die Süßigkeiten versteckt.
In den Cowboyfilmen weht ab und zu ein Steppenläufer durchs Bild: ein losgerissener Strauch, der vom Wind weggeblasen wird und deshalb hin und her kullert. Das wiederum findet Katrien sehr schön, allerdings ist es eine Art trauriger Schönheit, so einsam und allein. Sie kennt diese Steppenläufer auch von Zuhause – auf der Farm findet man sie ebenfalls sehr oft. Manchmal weht sie der Wind sogar ein bisschen in die Luft, anschließend wiederum liegen sie für eine Weile ganz ruhig da und danach kullern sie plötzlich weiter, bis sie irgendwo im Stacheldraht hängen bleiben. Opa nennt sie immer nur »Rollbüsche« und sagt, das sei Unkraut – nicht einmal die Schweine könnten die Samen davon fressen. Katrien sieht sie dagegen echt gern. Sie mag auch das Wort »Roll-Busch«. Das kann man so schön im Rhythmus sprechen: Roll-Busch, Roll-Busch …

»Los jetzt, ab ins Auto!«, ruft ihre Mutter durch den Flur. »Kat- rien, hast du dir schon die Zähne geputzt?«
»Mama, ich kann meine Rugbyhose nicht finden!«, ruft Hannes aus dem Jungenschlafzimmer.
»Die ist sicher noch in der Waschküche. Zieh doch einfach deine schwarze Trainingshose an«, antwortet Mutter von der Haustür her. »Ihr müsst euch jetzt wirklich beeilen, sonst kommen wir noch zu spät.«
»Finger weg von meiner Hose, verstanden!«, ruft Bernard von irgendwo im Haus.
Katrien nimmt sich ihr Päckchen mit Pausenbroten vom Küchentisch und rennt zur Haustür. Die Zähne hat sie sich nicht geputzt, dazu ist jetzt auch keine Zeit mehr. Sonst fangen die Großen gleich wieder an zu motzen. Jetzt schafft sie es noch, neben Hannes im Kleinbus zu sitzen.
Wenn Schule ist, bringt ihre Mutter die ganze kleine Gesellschaft in die Schule – mit dem Kleinbus, denn ihr Vater meint, dass der als Einziger groß genug ist für so eine Kinderschar. Kat- rien findet es ein bisschen blöd, dass sie so viele sind. Ihr Vater sagt immer, dass sie ihm die Haare vom Kopf fressen, und Oma sagt, dass sie sie ganz wuschig im Kopf machen. Die Großen klettern auf die Sitzbänke und fangen sofort an, darüber zu streiten, wer vorne neben ihrer Mutter sitzen darf. Katrien steigt immer, ohne zu zögern, ganz hinten ein, das ist ihr Platz. Da kann sie schön sitzen und ihren eigenen Gedanken nachhängen, ohne dass sie jemandem auf die Nerven fällt.
Nachmittags muss sie zusammen mit ihrer Mutter warten, bis die Großen mit dem Sportunterricht oder dem Rugbytraining fertig sind. Während dieser Zeit hat sie ihre Mutter immer ganz für sich allein und kann nett mit ihr plaudern. Nur wenn ihre Mutter ein Buch liest, was manchmal vorkommt, muss Katrien sie in Ruhe lassen.
Schon seit der kurzen Pause am vergangenen Montag muss Katrien über etwas nachgrübeln. Bis jetzt hat sie es nicht gewagt, ihre Mutter danach zu fragen, aber jetzt ist es schon Freitag und sie hält es nicht länger aus.
»Mama?«
»Hm?«
»Als ich noch in deinem Bauch war …«
»Ja?«
»Du weißt schon, als ich noch …« Sie weiß nicht, wie sie das genau in Worte fassen soll.
»Hey, Katrien, was ist jetzt wieder?«
Jetzt muss sie es sagen – schließlich kennt sie ihre Mutter nicht erst seit gestern. Sie holt tief Luft. »Montag, also in der kurzen Pause, da hat Jaquelette zu mir gesagt, also da haben wir unsere Pausenbrote gegessen da unter dem Seidelbast, weil wir nicht ins …«
»Katrien, komm zur Sache.«
Die Geduld ihrer Mutter hat ihre Grenzen, das hört sie. Jetzt muss sie die Frage stellen. Sie setzt sich aufrecht hin und erklärt: »Jaquelette hat gesagt, ihre Mutter hätte erzählt, du hättest drei Monate am Stück geweint, als du gehört hast, dass ich geboren werden würde. Weil du schon genug Kinder hattest. Ist das wahr?«
Sie ist ganz außer Atem, aber egal, jetzt ist es heraus.
Ihre Mutter sitzt zunächst eine Zeit lang totenstill da, sodass Katrien sich schon fragt, ob sie überhaupt noch eine Antwort bekommt oder nicht. Vielleicht hält ihre Mutter ihr sogar eine Standpauke, weil sie es gewagt hat, so etwas zu fragen. Doch ihre Mutter sagt schließlich: »Jaquelette und ihre Mutter sind echte Klatschtanten. Mir wäre es lieber, wenn du dir andere Freundinnen suchst.«
»Aber ist es denn nun wahr oder nicht?«
Ihre Mutter beißt sich auf die Unterlippe. Dann fängt sie langsam an zu sprechen. Sie spricht, als ob sie es mit einer Erwachsenen zu tun hätte. »Du musst gut begreifen, Katrien, wie es am Anfang für Papa und mich gewesen ist. Wir haben kurz nachei- nander vier Kinder bekommen. Die beiden Jungen waren geplant, aber das dritte Kind kam etwas früher, als wir es eigentlich gewollt hatten. Und als dann auch noch klar war, dass es Zwillinge werden würden, ist Papa und mir beinahe alles über den Kopf gewachsen. Wenn Oma und Opa nicht gewesen wären, hätten wir es nicht geschafft – vier Kinder in drei Jahren ist wirklich kein Vergnügen. Ganz abgesehen davon ist das auch schon eine große Familie. Und dann, gerade als die Zwillinge endlich eingeschult worden sind und ich mich auf ein bisschen Zeit für mich selbst gefreut habe, habe ich gemerkt, dass ich wieder schwanger war. Ja, ich habe geweint, aber damals habe ich dich natürlich noch nicht gekannt. Als du erst einmal geboren warst … Ach, Katrien, Papa und ich sind so glücklich über dich gewesen! Du bist so lieb gewesen, so vollkommen. Alle waren froh. Deine Brüder haben sich gar nicht mehr eingekriegt, weil du so klein und süß gewesen bist, und Salomé und Sorette wollten den ganzen Tag Vater-Mutter-Kind mit dir spielen. Und du bist immer noch ein bisschen so etwas wie das Kind von uns allen, denkst du nicht auch?«
Das ist so, überlegt Katrien. Ihre Brüder nennen sie immer »Wuschelkopf« und dann bringen sie ihre Frisur durcheinander. Selbst ihr Großvater nennt sie so, denn ihr rotblondes Haar steht ihr immer in wilden Büscheln vom Kopf ab. Es hat ihr immer gefallen, wenn sie sie so genannt haben, weil sich das so anhört, als wäre sie etwas Besonderes, so als ob sie sie besonders gernhätten, aber in der letzten Zeit ist sie sich da nicht mehr so sicher. Salomé und Sorette haben langes, dunkles Haar, ohne Locken – sie sehen wirklich hübsch aus, das wissen alle. Niemand würde sie jemals »Wuschelkopf« nennen. Katrien hat auch schon oft versucht, ihre Haare ganz glatt zu kämmen, wenn sie sie gewaschen hat, sie fangen allerdings sofort wieder an, sich zu wellen. Selbst wenn sie sich die Haare klatschnass macht und sie ganz flach an ihren Kopf klebt, sehen sie immer noch anders aus als die von ihren Schwestern.
Sie findet es übrigens auch nicht mehr so toll, dass sie ihr ständig in den Haaren herumwühlen. Natürlich versucht sie, sie so gut sie kann unter Kontrolle zu bekommen, aber das ist nicht einfach, weil ihre Haare so ein Eigenleben haben.
Plötzlich wird die Tür aufgerissen und das Plauderviertelstündchen mit ihrer Mutter ist vorbei.
»Los jetzt, ab nach hinten mit dir«, befiehlt Hannes. Er schiebt sie spielerisch zur Seite, steigt ein und fängt augenblicklich zu reden an. »Mama, weißt du, was heute beim Training passiert ist? Der große Koos …«
Katrien klettert über Sitzbänke hinweg in die letzte Reihe und legt sich dort flach auf den Rücken, sodass niemand sie sehen kann. Die Geschichte von Hannes hört sie sich nicht an. Was große Brüder so erzählen, ist meistens genauso langweilig wie die Geschichten von großen Leuten.

Während sie auf den Hof fahren, sieht Katrien den Pick-up der Nachbarn vor ihrem Haus stehen. Die Nachbarn sind erst vor zwei Jahren neben ihnen eingezogen. Es sind Engländer. Keine Spielkameraden, denn der Nachbar hat schon graue Haare, und wenn Menschen graue Haare haben, sind ihre Kinder schon groß.
Manchmal kommt die Nachbarin vorbei, um Oma zu besuchen, und der Nachbar plaudert mit ihrem Opa und ihrem Vater über Bauernangelegenheiten. Das sind komische Gespräche, weil der Nachbar aus Natal kommt, wo die Leute nur Englisch sprechen. Oma Kate sagt, dass Opa sehr gut Englisch sprechen kann – er will es nur nicht.
Der Nachbar heißt Charles und seine Frau Anne. Von der Landwirtschaft hat der Nachbar nicht die leiseste Ahnung, denn in Natal hat er für eine Tageszeitung gearbeitet. Er kennt immer noch eine Menge Leute, die für eine englische Zeitung arbeiten. »Ein Haufen Kommunisten«, behauptet Opa, aber Katrien ist davon überzeugt, dass er das nur sagt, wenn Nachbar Charles nicht dabei ist.
Der Nachbar weiß immer alles, was gerade im Land passiert – schließlich ist er ein Zeitungsmensch. »Charles erwartet große Probleme mit den schwarzen Schulen«, berichtet Katriens Vater eines Sonntagnachmittags bei Tisch. »Das hat er von einem Journalisten beim Star erfahren. Die Kinder scheinen sich gegen Afri- kaans aufzulehnen.«
»The Star ist das Sprachrohr der Kommunisten«, verkündet Opa. »Das ist alles Propaganda.«
»Was ist das, Propaganda?«, will Katrien wissen.
»Was haben die denn für ein Problem?«, fragt Salomé ungeduldig. »Sie müssen doch schließlich Afrikaans lernen.«
Alle reden gleichzeitig, aber trotzdem verstehen sie sich.
»So wie ich es verstehe«, antwortet ihr Vater, »sollen von jetzt an in der Hälfte der Fächer auf Afrikaans unterrichtet werden. Das ist im letzten Jahr mehr oder weniger so gesetzlich festgelegt worden.«
»Was ist Propaganda?«, will Katrien noch einmal wissen.
»Das ist auch gut so«, erklärt Bernard. »Wir wären alle schon sehr viel weiter, wenn jeder in diesem Land ordentlich Afrikaans sprechen könnte.«
»Welche Schwierigkeiten erwartet Charles eigentlich, Kobus?«, ertönt die tiefe, ruhige Stimme ihrer Oma.
»Was ist …«
»Katrien, iss deine Erbsen, auch die, die du unter der Kürbis- schale versteckt hast«, fordert ihre Mutter sie auf. Mama hat Röntgenaugen. Katrien hasst Erbsen, diese mehligen Dinger – bah.
Jetzt weiß sie immer noch nicht, was Propaganda ist, und das wird sie auch nie erfahren, denn bis heute Abend, wenn sie ihre Mutter endlich fragen könnte, hat sie längst wieder vergessen, was sie wissen wollte.
»Der Minister für Farbigenunterricht hat gesagt, dass ihm nichts von drohenden Unruhen bekannt ist und er auch keine Angst vor so etwas hat«, erläutert Opa. »Wir können ihm die Geschichte also ruhig überlassen. Dieser Treurnicht hat Rückgrat, das ist ein waschechter Afrikaaner. Der wird sich doch durch so ein Kindergeschwätz nicht aus dem Konzept bringen lassen.«

Jeden Abend essen sie als Familie gemeinsam an der großen Tafel im Esszimmer. Am Sonntag essen Opa und Oma auch mit. Nach dem Abendessen hören Vater und Mutter Radio. Die großen Kinder erledigen ihren Hausaufgaben und Katrien muss in die Badewanne. Dazu muss sie erst ein Holzscheit unter den Kessel vor dem Badezimmer legen, um das Feuer anzuheizen, und sie darf nicht zu viel heißes Wasser verbrauchen, denn die anderen wollen schließlich auch noch baden.
An einem kalten Abend zu Beginn des Winters, als Katrien nach dem Baden noch einmal zum Gute-Nacht-Sagen kommt, sitzt die ganze Familie gebannt vor dem Radiogerät. Das ist seltsam: Die Schule hat schon wieder angefangen, also sollten die Großen eigentlich ihre Hausaufgaben machen.
Plötzlich hört sie, wie der Mann im Radio berichtet, die Kinder von Orlando weigerten sich, in die Schule zu gehen.
»Man kann sich einfach so weigern, in die Schule zu gehen?«, möchte Katrien verdutzt wissen. »Das ist mir neu.«
»Sch, sch, sch«, macht Salomé gereizt. »Wir wollen das hören.«
Katrien versucht ebenfalls zuzuhören, sie versteht allerdings kaum etwas. »Kann ich mich auch weigern, in die Schule zu gehen?«, fragt sie ihre Mutter leise.
»Katrien!«, weist ihr Vater sie zurecht.
Da hält Katrien lieber den Mund.
Der Mann im Radio spricht weiter. Er redet über Treurnicht, so viel bekommt Katrien mit.
»Jetzt machen sie aber wirklich aus einer Mücke einen Elefanten«, schimpft Salomé, nachdem der Mann endlich schweigt. »Wir bekommen in der Schule Nord-Sotho beigebracht, also sollen die gefälligst auch Afrikaans lernen. Das ist doch wohl selbstverständlich!«
»Die schwarzen Kinder sind es gewöhnt, auf Englisch unterrichtet zu werden«, erklärt Vater. »Aber nach dem neuen Gesetz müssen Mathematik, Rechnen und Gesellschaftslehre auf Afri- kaans angeboten werden.«
»Ich frage mich, ob die Lehrer überhaupt selbst ordentliches Afrikaans sprechen können«, brummt Bernard.
»Da habe ich so meine Zweifel«, erwidert Vater kopfschüttelnd. »Katrienchen, sag Gute Nacht, dann kannst du ins Bett.«
»Kann ich mich auch weigern, in die Schule zu gehen?«, will diese wissen. Das wäre ziemlich genial, denn dann könnte sie mittwochs …
»Auf gar keinen Fall«, entgegnet ihr Vater. »Los jetzt, ab ins Bett mit dir.«
Katrien liegt noch lange wach. Es wäre wirklich wunderbar, einfach nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Sie geht nicht gern, weil die Lehrerin ständig an ihr herumnörgelt. Wo wohl dieses Orlando liegt? Vielleicht sollte sie dort in die Schule gehen, denn dann könnte sie …
Doch sie ist zu müde, um weiter nachzudenken.

Bernard ist Klassenvertreter. Er trägt eine besondere Anstecknadel auf seiner Schuluniform. Deshalb ist Katrien furchtbar stolz auf ihn. Salomé und Sorette waren in der Grundschule auch jeweils Klassenvertreterinnen, aber so weit wird Katrien es niemals bringen, das weiß sie jetzt schon. Ständig träumt sie in den Tag hinein und vergisst des Öfteren, ihre Hausaufgaben zu machen, deshalb bekommt sie immer wieder einen auf den Deckel. »Ich kann es einfach nicht glauben, dass du die Schwester von Salomé und Sorette sein sollst«, schimpft Fräulein Ratte fortwährend. »Du bist wirklich stinkfaul!«
Der Spitzname von Fräulein Ratte ist »Mäuseratte« – mit ihrem schmalen Gesicht, ihrer langen Nase und ihrer runden Brille sieht sie ein bisschen aus wie eine Spitzmaus. Die Kinder haben Angst vor ihr – deshalb würden sie es niemals wagen, so von ihr zu sprechen, wenn sie in der Nähe ist.
Jaquelette ist Katriens beste Freundin. Geschwister hat sie keine, weder einen Bruder noch eine Schwester – in ihrem Haus wohnt noch nicht einmal ein Vater, denn ihre Mutter ist von ihm weggelaufen, als Jaquelette noch klein war. Sein ewiges Gesaufe fand sie zum Kotzen. Jetzt wohnt Jaquelette allein bei ihrer Mutter.
Katrien sagt niemals »kotzen«, wenn ihre Mutter oder ihre Oma dabei sind, denn dann waschen sie ihr den Mund mit Seife aus.
Jaquelettes Mutter hat lange, rote Fingernägel. Sie raucht lange Zigaretten, färbt sich die Haare rot und trägt eng anliegende Hosen – eigentlich sieht sie überhaupt nicht wie eine Mutter aus. Jaquelette meint aber, dass sie klasse ist, denn sobald im Ort ein Sendemast errichtet wird, marschiert sie los und kauft sich einen Fernseher. »Ein Teevau«, nennt Jaquelette das.
Jaquelette kommt nie zum Spielen vorbei, denn bei Katrien zu Hause können sie sie alle nicht leiden. »Das sind echte Hinterwäldler«, bemerkt Salomé. »Schau dir doch nur einmal die Mutter an! So eine ordinäre Ziege!«
»Und was ist das überhaupt für ein Name: Jaquelette?«, fügt Sorette hinzu.
»Ich hätte es gern, dass du dir eine andere Freundin suchst, Katrien«, fordert ihre Mutter sie auf. »In deiner Klasse sind doch so viele nette Mädchen.«
Aber das ist ein Problem – nur Jaquelette will sich mit ihr befreunden. Vielleicht weil sie ebenso viele Standpauken bekommt wie Katrien. Katrien findet den Namen Jaquelette unglaublich schön. »Meine Mutter wollte ihr Töchterchen nicht mit ›Jacomina Aletta‹ belasten, deshalb hat sie ›Jaquelette‹ daraus gemacht«, berichtet Jaquelette.
»Mich haben sie mit ›Katharina Johanna‹ belastet.«
»Du Arme. Sicherlich mag dich deine Mutter nicht besonders«, entgegnet Jaquelette mitfühlend. »Und die Mäuseratte ist in der Schule auch so gemein zu dir, diese blöde Kuh. Das ist echt fies von ihr. Wirklich fies.«
Ja, Jaquelette ist ihre allerbeste Freundin.

Heute Nachmittag ist Katriens Vater viel früher zu Hause als sonst – das Melken kann doch noch lange nicht fertig sein, das weiß Katrien ganz genau. Er wäscht sich noch nicht einmal die Hände, sondern geht gleich durch bis ins Wohnzimmer. »Charles hat gesagt, in Soweto seien Unruhen ausgebrochen«, erklärt er, während er das Radio anschaltet. »Ich will mal eben hören, ob sie im Radio etwas darüber berichten.«
Durch das Zimmer ertönt jedoch nur Musik. Erst in den Abendnachrichten erfahren sie, was los ist. Die Großen setzen sich nicht an ihre Hausaufgaben und niemand fordert Katrien auf, in die Badewanne zu steigen. Alle sitzen sie da und hören zu.
In Soweto ist alles furchtbar aus dem Ruder gelaufen.
Der Anführer der Schulkinder von Soweto, so viel versteht Katrien, wollte mit den Kindern nach Orlando laufen, eines der schwarzen Wohnviertel von Soweto. So ein Anführer ist sicher so etwas wie ein Klassenvertreter, also so einer wie Bernard. Als die Polizei sie schließlich hat aufhalten wollen, sind sie schlichtweg auf einem anderen Weg weitermarschiert. Es waren eine ganze Menge Kinder, Tausende auf einmal. Sie haben Lieder gesungen und »Weg mit Afrikaans!« über die Straße gerufen. Das haben sie natürlich auf Englisch gerufen, Afrikaans können sie bekanntlich nicht ausstehen. Anschließend haben sie angefangen, die Polizei mit Steinen zu bewerfen.
Katrien sitzt mit angehaltenem Atem da und hört zu, aber sie hält ihren Mund.
Die Polizei, berichtet der Nachrichtensprecher, musste Tränengas und Hunde einsetzen, um die demonstrierenden Kinder unter Kontrolle zu bekommen.
»Haben die Hunde die Kinder …«
»Katrien!«, verwarnt sie ihr Vater.
Die Kinder haben einfach weiterdemonstriert – was das ist, weiß Katrien nicht so genau – und schließlich hat die Polizei scharfe Munition eingesetzt.
»Haben sie denn auf die Kinder geschossen?«, will Katrien flüsternd von ihrer Mutter wissen.
Die nickt jedoch nur ernst.
»Einige Dutzend Kinder sind verletzt worden, davon einige tödlich, offizielle Angaben gibt es allerdings noch nicht«, verkündet der Nachrichtensprecher. »Einer der getöteten Schüler ist der dreizehnjährige Hector Pieterson aus der Mittelschule von Orlando-West.«
»Hat die Polizei die Kinder totgeschossen?«, fragt Katrien vollkommen entsetzt. Bis jetzt hat sie immer gedacht, dass die Polizei zu Kindern immer nett ist, denn das hat der Polizeibeamte gesagt, der einmal in ihre Klasse gekommen ist.
Mutter legt einen Finger auf ihre Lippen. Alle anderen sitzen nach vorn gebeugt vor dem Radio und hören zu.
Katrien vergisst ständig, dass sie den Mund halten soll.
Der Nachrichtensprecher fährt fort: »Punt Jason, der stellvertretende Minister für Farbigenunterricht, hat heute in einer Fragestunde zu dem neuen Gesetz gesagt: ›Der Schwarze wird für die Arbeit auf den Farmen und in den Fabriken ausgebildet. Sein zukünftiger Arbeitgeber spricht Englisch oder Afrikaans, ebenso sollte es deshalb auch der Mann, von dem er seine Aufgaben bekommt. Also nein, wir haben die Schwarzen bei diesem Gesetz nicht um Rat gefragt. Ich habe die Verfassung der Republik Südafrika zu Rate gezogen.‹«
Vater nickt zustimmend. »Der Mann hat vollkommen recht«, erklärt er. »Wer in diesem Land eine gute Arbeitskraft sein möchte, der muss die beiden Landessprachen fließend sprechen können.«
In diesem Fall muss sie Agatha unbedingt Englisch beibringen, überlegt Katrien ernsthaft. Agathas Englisch ist wirklich schlecht und Katrien fände es schade, wenn sie später keine gute Arbeitskraft werden würde.
Auf der anderen Seite versteht Martha auch kein Wort Englisch. Trotzdem putzt sie das Haus immer sehr ordentlich und kann darüber hinaus auch wunderbar kochen. »Martha spricht auch kein Englisch.«
»Katrien! Halt den Mund, sonst musst du ins Bett«, sagt ihr Vater streng.
Sie ist mucksmäuschenstill.
»Erzbischof Desmond Tutu hat in einem Kommentar gesagt, dass dieses Gesetz heftigen Widerstand unter der schwarzen Bevölkerung hervorrufen werde, weil Afrikaans als Sprache der Unterdrücker angesehen werde. Und die Vereinigung englischsprachiger Lehrkräfte weist darauf hin, dass der Übergang vom englischen zum afrikaansen Unterricht die Schüler dazu zwänge, zunächst die Sprache zu lernen, bevor sie sich mit dem Unterrichtsstoff befassen könnten.«
Das versteht Katrien sofort. Wenn Agatha ihre Geschichtsstunden oder ihre Textaufgaben in Mathe plötzlich auf Englisch machen müsste, dann würde sie auch nichts auf die Reihe bekommen. »Agatha kann nie …«, fängt sie an.
Jetzt wird ihr Vater wirklich wütend. »Jetzt reicht’s aber, ins Bett mit dir!«, blafft er sie zornig an.
Sie steht sofort auf. Mit Vater ist nicht zu scherzen, das weiß sie.
Das Badewasser ist heute Abend wunderbar klar – das ist es im Winter immer. Im Sommer ist es meistens braun, weil der Fluss dann nach den Regenfällen eine starke Strömung hat.
Katrien weiß genau, wie viel heißes Wasser sie sich nehmen darf. Dieses Mal gießt sie nur ganz wenig kaltes Wasser dazu, sodass es noch kochend heiß ist, als sie in die Wanne steigt. Mama schimpft manchmal, wenn sie wieder einmal feuerrot aus der Badewanne steigt – sie sagt dann, dass das für ihre Haut nicht gut ist, meistens bekommt sie es allerdings überhaupt nicht mit.
Die Polizei hat die Kinder totgeschossen!
Katrien hat auf einmal überhaupt keine Lust mehr, in Orlando in die Schule zu gehen, obwohl man da auch manchmal einfach zu Hause bleiben kann.
Vielleicht haben die Kinder die Polizei selbst dazu angestachelt, schließlich haben sie die Polizisten mit Steinen beworfen.
Aber totgeschossen?
»Warum hat die Polizei denn die Kinder totgeschossen?«, will sie von ihrer Mutter wissen, als die zum Gute-Nacht-Sagen zu ihr kommt.
»Ach, Liebling, das sind die Angelegenheiten von großen Leuten, das ist Politik. Denk einfach an etwas anderes und schlaf gut.« Mutter packt sie schön eng in ihre Decke. Katrien findet das immer wunderbar, wenn ihre Mutter die Decke an den Seiten so einstopft, dass es ihr vorkommt, als sei sie eine verpuppte Raupe, und ihr dann einen Gutenachtkuss gibt. Sie ist so wunderbar weich und riecht so gut. Doch als ihre Mutter das Licht ausgeschaltet hat, liegt Katrien noch lange hellwach in ihrem Bett. Warum schießen sie jetzt Kinder tot?

»Hast du auch gehört, dass die Polizei die Kinder von der Orlando-Schule totgeschossen hat?«, will Katrien am nächsten Tag von Jaquelette wissen.
»Totgeschossen?«, fragt diese geschockt. »Du meinst über den Haufen geschossen, dass sie mausetot sind?«
»Ja, hast du denn nicht die Nachrichten gehört? Hey, bah, schon wieder Erdnussbutter mit Sirup auf meinem Brot!«
»Nein, meine Mutter hört sich immer nur das Hörspiel an. Die Nachrichten interessieren sie einen feuchten Dreck, sagt sie.«
»Oh«, erwidert Katrien. »Und ich habe meiner Mutter extra noch gesagt, dass ich Käse mit Aprikosenmarmelade möchte.«
»Ich habe Marmite auf meinem Brot, ekelhaft trocken. Wenn dein Bruder nächstes Jahr zur Armee geht, dann schießt er aber auch Leute tot, hörst du?«
»Nie im Leben!« Katrien nimmt einen großen Bissen von ihrem Brot. »Das würde Bernard nie tun!«
»Mit vollem Mund spricht man nicht. Und natürlich wird er das machen müssen«, entgegnet Jaquelette. »Etwas anderes machen die bei der Armee doch gar nicht.«
»Na klar, sie marschieren und sie schlafen in Zelten und sie hissen die Fahne und so …«, verteidigt sich Katrien zögernd.
Jaquelette erhebt sich und pflanzt sich vor Katrien auf, turmhoch steht sie vor ihr. »Und sie schießen – mit Gewehren«, erwidert sie streitlustig.
»Aber doch nicht auf Menschen.« Katrien steht ebenfalls auf, sie ist allerdings nicht so groß wie Jaquelette. »Sie schießen auf Dosen.«
»Pff. Da frag aber mal deine Mutter«, entgegnet Jaquelette he- rausfordernd. »Du hast ja keine Ahnung. Von nichts.« Sie wirft ihr halb gegessenes Pausenbrot mit Marmite in den Abfalleimer und stapft zurück in den Klassenraum.
Am späten Nachmittag werden sie von Opa von der Schule abgeholt. Der kommt erst, nachdem die Mittelschule aus ist, und wenn alle dabei sind, kann Katrien ihn natürlich nicht fragen, ob Bernard im nächsten Jahr Menschen totschießen wird. Zu Hause liegt ihre Mutter in einem abgedunkelten Raum. Sie hat Kopfschmerzen. Die Großen fangen sofort an zu lernen – sie haben gerade Prüfungswoche. Vater kommt erst kurz vor dem Abendessen von den Schweineställen nach Hause.
Und Martha weiß es sicher ebenfalls nicht, da ist sich Katrien sicher. Es bleibt ihr also nichts anderes übrig, als zu warten, bis es ihrer Mutter wieder besser geht.
Als sie sich schlafen legt, liegt ihre Mutter immer noch im Bett und hat einen nassen Waschlappen auf dem Gesicht. Niemand hat Katrien Gesundheitslehre abgefragt, obwohl sie morgen darin geprüft wird. Schließlich ist es Sorette, die spät am Abend, viel später als sonst, zu ihr kommt, um das Licht auszuschalten.
Katrien weiß jetzt schon, dass sie nicht wird schlafen können, wenn sie es nicht sicher weiß, deshalb fragt sie: »Sorette, schießen sie bei der Armee Menschen tot?«
Sorette, die fast schon zur Tür hinaus ist, dreht sich noch einmal um. »Du liebe Güte, Katrien, du kannst komische Fragen stellen. Schlaf jetzt, es ist schon spät.«
Sie knipst das Licht aus und zieht die Tür hinter sich zu.

Am Samstagmorgen komm ihr Großvater schon früh und fragt Katrien, ob sie Lust hat mitzukommen. Er möchte schauen, wo sich die Zwergenten im Schilf vor der Kälte versteckt haben. Jetzt hat sie eine Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Opa hat eine Thermosflasche mit Kaffee dabei und zwei große Stücke Zwieback. Der Zwieback ist herrlich, aber der Kaffee ist ganz schön bitter, denn es ist viel zu wenig Zucker darin und überhaupt keine Milch. Trotzdem ist es wunderbar, so zusammen.
Wie zwei richtig große Leute sitzen sie nebeneinander und lassen ihren Blick über das Wasserreservoir streifen. Es ist totenstill. Am Himmel scheint die Sonne und das Wasser dampft von der Kälte.
Sollte sie ihn jetzt fragen? Ansonsten geht es vielleicht nie mehr.
»Opa?«
»Hm?«
»Warum hat die Polizei die Kinder totgeschossen?«
Opa denkt eine ganze Weile nach, während Katrien geduldig wartet. Ihr Großvater antwortet immer, er sagt niemals: »Hey, Katrien, denk doch einfach an etwas anderes«, oder so.
»So eine Sache hat immer mehrere Seiten«, erklärt Opa schließlich. »Lass uns zunächst einmal gut überlegen, was da passiert ist. Die Kinder sind auf der Straße gelaufen, nicht wahr?«
»Ja, Opa, und sie haben gesungen und dann hat die Polizei sie woandershin geschickt.«
»Du hast gut zugehört. Und dann?«
»Dann haben sie die Polizisten mit Steinen beworfen. Das ist ziemlich schlimm.«
»Hm. Wie fändest du es, wenn sie dich mit Steinen bewerfen würden?«
Katrien bekommt große Augen. »Opa! Davon kann man sterben, so wie Goliat. Oder noch schlimmer, sie können dir damit ein Auge auswerfen.«
Er nickt langsam. »Wie viele Kinder waren denn da?«
Sie überlegt. »Ganz viele. Vielleicht hundert, vielleicht tausend. Vielleicht sogar eine Million.«
»Hm, vielleicht tausend. Schau, Katrien, du musst immer versuchen, dich in einen anderen hineinzuversetzen, du musst sehen, wie er sich fühlt. Da war eine große Masse Kinder auf den Beinen und die waren furchtbar wütend. Die Polizisten waren nicht viele und haben sich bestimmt nicht sicher gefühlt. Ich sage nicht, dass es gut war, dass sie geschossen haben, aber sie haben das mit Sicherheit nicht einfach so gemacht. Ein Polizist, der zu Hause selbst Kinder hat, wird niemals ohne Grund auf Kinder schießen. Und ein junger Polizist mit wenig Erfahrung – wie soll der in so einer Situation reagieren? Eine große Menschenmenge führt schnell zu einer Massenhysterie und das kann auf beiden Seiten passieren. Wenn wir die Wahrheit herausfinden wollen, müssen wir uns auch die menschlichen Aspekte der jeweiligen Handlungsweisen betrachten …« Er schweigt plötzlich und lacht dann ein bisschen verlegen. »Das ist dir jetzt zu hoch, stimmt’s?«
»Nein, ich verstehe es sehr gut«, beruhigt Katrien ihn sofort – sie muss ja nicht immer alles verstehen, um es trotzdem zu kapieren. »Vielleicht haben sich die Polizisten ganz schlimm erschreckt und haben deshalb geschossen, so wie eine Löwin es macht, wenn sie Junge hat.«
»Hm«, brummt Opa. »Du bist ein schlauer, kleiner Wuschelkopf.«
Jetzt fängt das andere Problem an, ihr auf den Magen zu drücken. »Opa, und wie ist es bei der Armee? Schießen sie da auch Menschen tot?«
Wieder überlegt ihr Großvater eine ganze Weile, bevor er ihr eine Antwort gibt. »Solange es Menschen gibt, haben sie Krieg geführt. Denk doch nur einmal an die Zeit der Bibel. Erinnerst du dich noch, dass die Israeliten immer gegen die Philister kämpfen mussten?«
»Ja«, erwidert sie sofort. »David hat mit seiner Schleuder auf Goliat gezielt – päng! – gegen seine Stirn, und dann war der mausetot.«
In Opas blauen Augen flunkern grüne Lichtchen. »Und wie war das mit den Englischen Kriegen?«
»Ja, da hat Oma Susan Grandpa John gesund gepflegt, aber die Engländer haben ihre Brüder totgeschossen.«
»Hm. Es hat immer eine Armee gegeben, die das Land und das Volk beschützen sollte, das gehört nun einmal zum Leben dazu. Jetzt wird unser Land wieder durch einen Feind bedroht – durch die Kommunisten. Das sind Menschen aus dem Ausland, die unser Land beherrschen wollen.«
»Terroristen«, verkündet Katrien mit einem Kopfnicken. Sie liebt dieses schwierige Wort: Ter-ro-ris-ten.
»Die Armee muss uns vor ihnen beschützen und schießen gehört nun einmal dazu.«
»Wird Bernard dann im nächsten Jahr auch auf Menschen schießen, Opa?«
Ihr Großvater schüttelt langsam seinen großen, grauen Kopf. »Das hoffe ich nicht, Katrien«, antwortet er sehr ernst. »Das hoffe ich doch wirklich nicht.«

Wenn du dich in ihrer Gesellschaft ganz still verhältst und da-ran denkst, sie nichts zu fragen, dann vergessen die Erwachsenen, dass du da bist. Dann kannst du ohne Probleme alles mithören. Und sobald es nicht mehr interessant ist, gehst du einfach weg.
Katrien weiß schon, was »interessant« bedeutet – sie findet, das ist auch so ein nettes Große-Leute-Wort.
Mucksmäuschenstill sitzt sie auf der Veranda in dem großen Korbsessel neben ihrem Vater. Nachbar Charles sitzt ihnen gegenüber und erzählt von der Polizei, die auf die Kinder geschossen hat. Opa meint, das seien alte Geschichten, Katrien ist allerdings noch immer ganz Ohr.
»Es war als friedliche Demonstration geplant und alles war gut vorbereitet worden«, erläutert Nachbar Charles. Obwohl er Englisch spricht, kann Katrien ihn gut verstehen, denn von klein auf hat ihre Großmutter ihr Englisch beigebracht. Das ist auch das einzige Schulfach, in dem sie wirklich gut ist.
»Die Kinder haben sich vorbildlich verhalten«, berichtet Nachbar Charles weiter. Und was war mit dem Steinewerfen?, überlegt Katrien im Stillen, sie hält jedoch lieber den Mund.
Nach Aussage von Oberst Kleingeld – witziger Name, genau wie Treurnicht – haben einige Kinder angefangen, mit Steinen zu werfen, während die anderen noch in ordentlichen Reihen marschiert sind und gesungen haben, erzählt Nachbar Charles. Da- raufhin hat der Oberst einen Schuss abgegeben, aber keinen zielgerichteten. Das ist sicher einfach nur ein Warnschuss in die Luft gewesen, so etwas wie es Opa immer am Silvesterabend macht. Letztes Jahr hat er dabei zufällig die Telefonleitung zerschossen und dann sind alle böse auf ihn gewesen, aber das ist eine andere Geschichte.
Anschließend, so erzählt Nachbar Charles weiter, fingen die Kinder an zu schreien und zu rennen. Die Polizisten haben gedacht, dass die Kinder auf sie zustürmen wollten, und die Kinder haben gedacht, dass die Polizisten auf sie schießen. Die Kinder haben also noch mehr Steine geworfen und die Polizisten haben noch mehr geschossen.
Es war niemandes Schuld, möchte Katrien einwerfen – alle hatten sie einfach nur Angst. Aber sie schweigt still.
»Das ist eine Wiederholung von Sharpeville«, entgegnet ihr Vater ernst. »Ich hoffe nur, dass die Reaktionen aus dem Ausland nicht dieselben ökonomischen Folgen haben wie 1960.«
Nachbar Charles schüttelt den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was unserem Land noch alles bevorsteht«, erklärt er langsam. »Die Erste-Hilfe-Stationen sind von Verletzten geradezu überrannt worden, von heftig blutenden Kindern, aber in ihrem offiziellen Bericht haben die Ärzte alle Schusswunden als Abszesse registriert.«

An Weihnachten sind sie immer als Familie zusammen. Manchmal kommen Tante Gretel und Onkel Jakób zu ihnen, aber in diesem Jahr fahren sie alle zusammen nach Johannesburg.
Tante Gretel und Onkel Jakób wohnen mit ihren drei Kindern in einem sehr alten und wunderschönen Haus. Oma ist dort aufgewachsen, denn das Haus hat Grandpa John für Oma Susan gebaut.
Die Geschichte von Tante Gretel ist auch eine der schönsten Geschichten, die Katrien kennt. Sie muss an sie denken, während sie mit dem Rücken gegen eine Reisetasche gelehnt ganz hinten in dem Kleinbus sitzt. Tante Gretel ist nämlich gar nicht ihre richtige Tante, weil sie keine richtige Tochter von Oma ist. Früher ist sie ein deutsches Mädchen gewesen, aber im Krieg ist ihr Vater durch die Engländer oder so totgeschossen worden. Später ist dann auch noch ihre Mutter gestorben, als sie in ein Konzentrationslager musste. Das war in Polen, dem Land, wo Onkel Jakób gewohnt hat. Dann ist Tante Gretel also ein Waisenkind gewesen. Onkel Jakób hat sie gefunden und für sie gesorgt und nach einer Weile hat er sie mit einem Schiff zu Oma und Opa ins Bosveld geschickt. Da hat sie dann Afrikaans gelernt und ist so ihre Tochter geworden, die Schwester von Papa.
Tante Gretel und Onkel Jakób haben drei Kinder: Katja, die eigentlich Katharina heißt, Stan und Bernard. Alle drei sind sie älter als Katrien, genauso alt wie Hannes und die Zwillinge. Ihr Cousin Bernard ist nur ein bisschen älter als sie selbst, aber sie mag ihn nicht, weil er immer bei allem der Bestimmer sein will.
Jetzt sind sie in ihrem Kleinbus auf dem Weg nach Johannesburg. Katrien sitzt hinten bei dem Gepäck und der Verpflegung für unterwegs. Von hier aus hat sie auch einen guten Blick auf den Anhänger. Darin sind ihre Kleidung und ein riesiger Berg Geschenke verstaut. Es wäre eine regelrechte Katastrophe, wenn sich der Anhänger losmachen würde und auf der Springbockebene zurückbliebe. Deshalb behält sie das Ding gut im Auge, aber zum Glück folgt er ihnen ganz treu.
»Lasst uns doch alle einmal zusammentragen, was unserer Meinung nach das wichtigste Ereignis des letzten Jahres gewesen ist«, schlägt Katriens Mutter vor. Sie überlegt sich immer irgendetwas, damit es ihnen auf der langen Fahrt nicht langweilig wird. »Opa fängt an.«
»Hm, lass mich kurz nachdenken«, erwidert der. »Ich glaube, das war der Jagdausflug, den ich mit Bernard im Juli in Rhodesien gemacht habe.«
»Ja, das finde ich auch«, pflichtet Bernard ihm sofort bei. Er kneift Opa freundschaftlich in die Schulter. »Vor allem der Kudu-Stier, den ich dabei erlegt habe. Erinnerst du dich noch, wie lange wir dem auf der Spur gewesen sind? Und die ganze Zeit sind da die beiden Soldaten dabei gewesen, die uns gegen die Terroristen beschützen mussten … Ja, für mich war das mit Sicherheit der Höhepunkt des Jahres.«
»War das nicht eher, als du zum Kapitän der Rugbymannschaft gewählt worden bist?«, will Salomé überrascht wissen.
»Nein, der Kudu war besser. Aber das verstehst du natürlich nicht, du hast ja noch nie in Rhodesien einen Kudu geschossen.«
»Mein Höhepunkt war, als Papas Freundin aus der Mittelschule auf einmal völlig unerwartet zu Besuch gekommen ist«, erklärt Hannes. »Das Gesicht von Papa werde ich nie vergessen!«
Alle fangen an zu lachen. »Ja, so ein dicker Klops! Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich einmal in so etwas verliebt hast, Papa!«, neckt ihn Sorette.
»In der Examensklasse hat sie noch ganz anders ausgesehen«, verteidigt sich ihr Vater.
»Mein Höhepunkt war, als ich in die erste Basketballmannschaft aufgestiegen bin«, erklärt Salomé. »Sorette wird immer zuerst aufgestellt, weil sie etwas größer ist als ich, aber ich …«
Katrien hört nicht weiter zu. Sie überlegt und überlegt. Sie hat keine Kudus geschossen, sie ist für keine Mannschaft aufgestellt worden, sie hat keine Freundin und sie ist auch noch nie Klassenvertreterin gewesen, obwohl jeden Monat eine neue gewählt wird. Endlich schießt ihr doch noch etwas durch den Kopf. »Das Wichtigste, was ich im letzten Jahr gelernt habe, ist, dass die Polizei nicht immer nett zu Kindern ist. Polizisten schießen nicht nur auf schlechte Menschen und Verbrecher, sondern manchmal auch, wenn sie einfach nur Angst haben.«
Plötzlich ist es totenstill im Auto. Alle sehen ein bisschen entsetzt aus.
»Nun ja … das habe ich einfach gedacht«, beginnt sie unsicher.
»Katrienchen, da hast du ein wahres Wort gesprochen«, erwidert ihr Vater, er klingt jedoch lange nicht mehr so fröhlich. »Dieses Jahr wird als das Jahr der Unruhen von Soweto in die Geschichte eingehen. Wenn ihr mich fragt, war das nicht nur das wichtigste Ereignis dieses Jahres oder vielleicht sogar des Jahrzehnts – ehrlich gesagt denke ich auch, dass das ein Wendepunkt in der Geschichte unseres Landes sein wird. Es könnte sogar das Ende von dem Südafrika sein, so wie wir es bisher kennen.«
Das klingt alles noch eine ganze Weile in Katriens Ohren nach.
In sich zusammengesunken sitzt sie da und starrt auf den langen, geraden Weg, der hinter ihnen in der Ferne verschwindet, dort, wo die Erde auf der anderen Seite der Springbockebene in einem wachsartigen Spiegel verschwimmt.
Was ihr Vater gesagt hat, macht sie ein bisschen traurig, obwohl sie nicht weiß, warum.
Zum Glück sind die Unruhen vorbei und zum Glück fährt der Anhänger mit den Geschenken immer noch ordentlich hinter dem Kleinbus her.


Irma, Joubert
Irma Joubert ist Historikerin und lebt in Südafrika. Sie war 35 Jahre lang Lehre-
rin. Nach ihrer Pensionierung fing sie mit dem Schreiben an. Über ihre Heimat
hinaus haben sich ihre Romane auch in den Niederlanden, den USA und in Deutschland zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.



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