Vor dem Klima auf der Flucht
Der Klimawandel verändert die Welt. Längst sind seine Folgen keine abstrakten Herausforderungen mehr. Dieser Atlas führt dies eindrucksvoll vor Augen. Er hilft zu verstehen und einzuordnen. Lange schon richten die kirchlichen Hilfswerke Brot für die Welt und Misereor ihr Augenmerk auf diejenigen, die von den Veränderungen am stärksten betroffen sind. Das sind meist die Menschen, die in den Ländern des Südens ohnehin in Armut, Not und Ausgrenzung leben. Immer mehr Menschen sind von der zunehmenden Wüstenbildung, dem Anstieg der Meeresspiegel, von Überschwemmungen oder Dürre betroffen. Auch die Zahl extremer Wetterereignisse nimmt zu. Insbesondere in den Ländern des südlichen Afrika, in Asien oder Mittel- und Südamerika ereignen sich Naturkatastrophen häufiger und mit zunehmender Heftigkeit. Sie treffen hier oft auf besonders arme und verwundbare Regionen, wo es an Möglichkeiten und Mitteln fehlt, sich vor den Gefahren angemessen zu schützen oder sich an sie anzupassen.
Besonders Leidtragende sind oft die ohnehin Armen und Marginalisierten in den sogenannten Entwicklungsländern, deren Widerstands- und Anpassungsfähigkeiten begrenzt sind.
Nach Angaben des Norwegischen Flüchtlingsrats und des International Displacement Monitoring Center wurden seit 2008 im Durchschnitt 26,4 Millionen Menschen jährlich in der Folge von Umwelt- und Klimaveränderungen aus ihrer Heimat vertrieben, die meisten innerhalb der armen Länder des Globalen Südens. Allein aufgrund extremer Wetterereignisse mussten im Jahr 2015 mehr als 14,7 Millionen Menschen in 113 Staaten ihr Zuhause verlassen.
Brot für die Welt und Misereor unterstützen Betroffene vor Ort gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen durch Katastrophenvorsorge und Anpassungsmaßnahmen. Denn extreme und unvorhersehbare klimatische Bedingungen wirken sich beispielsweise stark auf Fischerei und Landwirtschaft aus, die die Existenzgrundlage vieler besonders verletzlicher Menschen bilden. Gleichzeitig setzen wir uns auch mit Lobby- und Advocacyarbeit für die Rechte der Menschen ein, die von Umweltveränderungen und Naturkatastrophen besonders betroffen sind. Gemeinsam treten wir dafür ein, dass Umwelt- und Klimaveränderungen durch die globale Erderwärmung international als Ursachen von Flucht und Migration mehr Anerkennung erfahren. Es braucht für die Betroffenen effektive, rechtlich verbindliche Schutzmechanismen auf nationaler Ebene und über internationale Grenzen hinweg.
Eine verlässliche Aussage darüber, wie viele Menschen tatsächlich aufgrund der Klimawandelfolgen zu Flucht und Migration gezwungen werden, ist schwer möglich. Denn Klima- und Umweltveränderungen sind selten der einzige Grund, das Lebensumfeld zu verlassen. Ursachen dafür können auch der fehlende Zugang zu Land und zu Bildungs- oder Gesundheitsdienstleistungen oder mangelnde Einkommensmöglichkeiten sein. Der Klimawandel verstärkt all diese Gründe und macht auch gewaltsame Konflikte wahrscheinlicher.
Menschen, die aufgrund von Klimawandelfolgen gezwungen sind wegzuziehen, werden nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht als Flüchtlinge anerkannt. Sie haben keinen internationalen Anspruch auf Flüchtlingsschutz oder Unterstützung.
Doch Schutzrechte für die Betroffenen von klima- und umweltbedingter Flucht sind dringend notwendig – für Verbesserungen der Rechtssituation und der Lebensbedingungen der Geflüchteten. Diskussionen über eine mögliche Erweiterung der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) oder eine neue Konvention für Klimaflüchtlinge versprechen momentan jedoch nur wenig Ergebnisse; nicht zuletzt, weil es an politischem Willen der Staaten mangelt.
Dennoch gibt es einige positive Entwicklungen. So ist ein Lichtblick die im Oktober 2015 verabschiedete Nansen-Schutzagenda, die von 109 Staaten unterstützt wird. Sie ist das Ergebnis einer mehrjährigen Konsultation zwischen Ländern, um vom Klimawandel Vertriebene international besser zu schützen. Die Nansen-Schutzagenda bietet praktische Handlungsempfehlungen für den konkreten Umgang mit Entwurzelten und verknüpft humanitäre Hilfe, Menschenrechte, Flüchtlingsschutz, Migration und Anpassung, Risikominderung und Entwicklung. Fortgesetzt wird die Arbeit zur Verwirklichung der Schutzagenda in der neuen »Platform on Disaster Displacement«, die im Mai 2016 ins Leben gerufen wurde.
Auch in der Präambel des Klimavertrags von Paris wird darauf verwiesen, dass Staaten ihren Verpflichtungen gegenüber Migrantinnen und Migranten und anderen besonders verletzlichen Gruppen in der Folge des Klimawandels dringend nachkommen müssen. Im Rahmen der Klimaverhandlungen wird mittlerweile über den Umgang mit unvermeidbaren Schäden und Verlusten gerungen. Dafür wurde ein eigener Mechanismus geschaffen. Das Executive Committee dieses »Warschau-Mechanismus« befasst sich auch mit klimabedingter Vertreibung.
Hohe Erwartungen wurden im Herbst 2016 auch durch die New Yorker Erklärung geweckt. Mit ihr haben es sich alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zur Aufgabe gemacht, zwei globale Pakte zu erarbeiten: einen »Global Compact für sichere, geordnete und reguläre Migration« und ein »umfassendes Rahmenwerk für Flüchtlinge«. Dafür geben sie sich bis Ende 2018 Zeit. Es geht darum, dass alle Verantwortung für Menschen übernehmen, die fliehen müssen. Umwelt- und Klimaveränderungen werden explizit genannt. Diese betroffenen Menschen gilt es zu schützen und zu unterstützen.
Nicht alle, die unter den veränderten Wetterbedingungen leiden, können es sich leisten, sich selbst und ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Um größere Distanzen zurücklegen zu können, braucht es vor allem Ressourcen, über die viele der Betroffenen aufgrund von Armut und Ausgrenzung gar nicht verfügen. Kinder, Frauen, alte und kranke Menschen sind besonders häufig gezwungen zu bleiben. Außerdem ist Migration vielerorts streng reguliert oder sogar verboten. Um die vom Klimawandel und Naturkatastrophen Betroffenen zu unterstützen, müssen deswegen zunächst Risikogebiete und besonders gefährdete Haushalte identifiziert werden. Sie müssen in ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die Klimawandelfolgen gestärkt werden, indem die Risiken erkannt und Vorsorge und Anpassungsmaßnahmen ergriffen werden – zum Beispiel, indem dürreresistentes Saatgut in der Landwirtschaft verwendet wird oder nachhaltige Deichsysteme zum Umgang mit großen Wassermassen errichtet werden. Wichtig sind Entwicklungsprogramme, die die allgemeine Widerstandsfähigkeit der Betroffenen stärken.
Doch gerade weil es schon heute vielerorts nicht mehr möglich ist, Schäden und Verluste infolge des Klimawandels durch Schutz und Anpassungsvorkehrungen vorzubeugen, brauchen die besonders Verwundbaren Unterstützung. Diese kann die Begleitung notwendiger Umsiedlungen einschließen. Wichtig ist jedoch bei all diesen Maßnahmen, dass die Betroffenen nicht nur informiert, sondern einbezogen und beteiligt werden. Ihre Rechte und Bedürfnisse müssen an erster Stelle stehen. Brot für die Welt und Misereor unterstützen deshalb auch innovative Maßnahmen zur Klimaanpassung für besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen, durch die beispielsweise für Kleinbauernfamilien neue Möglichkeiten der Trinkwassererschließung oder zusätzliche Einkommen entwickelt werden.
Um die negativen Folgen des Klimawandels zu bremsen, muss an erster Stelle die globale Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius, besser noch unterhalb 1,5 Grad Celsius begrenzt werden. Dazu ist die drastische Minderung der Treibhausgasemissionen unverzichtbar. Humanitäre Hilfe muss als kurz- und mittelfristiges Instrument zum Überleben akuter Krisen und Notlagen gestärkt werden. Für Anpassungsstrategien in besonders betroffenen Ländern oder Regionen ist neben finanzieller auch technische Unterstützung nötig. Selbst wenn sich der Anteil von öffentlichen Mitteln für Anpassungsmaßnahmen bis zum Jahr 2020 verdoppelt, bedeutet dies, dass dann immer noch weniger als 20 Prozent der internationalen Klimafinanzierungsmittel für Anpassung vorgesehen sind. Es gibt bisher auch keine völkerrechtlich bindenden Verpflichtungen für die Bereitstellung von Klimafinanzierung für den Umgang mit klimabedingten Schäden und Verlusten. Diese Gerechtigkeitslücke muss geschlossen werden. Ein Fonds ähnlich dem »Grünen Klimafonds«, der auch Mittel für Klimaschäden verpflichtend bereitstellt, könnte Abhilfe schaffen.
Migration muss als legitime und in vielen Fällen existenzielle Überlebensstrategie akzeptiert und ermöglicht werden. Das ist auch im Sinn der Agenda 2030, in der sich die Staatengemeinschaft verpflichtet, »eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen [zu] erleichtern, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik«. Internationale Migration muss im Einklang mit den Menschenrechten reguliert werden. Das kann die Staatengemeinschaft gewährleisten, indem Völkerrecht respektiert wird und legale Migrationsmöglichkeiten für vom Klimawandel vertriebene Menschen geschaffen werden. Es ist daher wichtig, dass die Staaten, aus denen die betroffenen Menschen kommen, mit jenen Lösungen erarbeiten, in denen sie Aufnahme suchen.
Die Folgen des Klimawandels und mit ihnen die Umweltmigration sind eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Dieser Atlas verdeutlicht dies eindrücklich.
Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre und gute Anregungen für die weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Dr. Klaus Seitz
Leiter der Abteilung Politik,
Brot für die Welt
Dr. Bernd Bornhorst
Leiter der...