Incardona | Das Game | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Reihe: Lenos Polar

Incardona Das Game

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03925-723-2
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Reihe: Lenos Polar

ISBN: 978-3-03925-723-2
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anna sichert mit dem Verkauf von Brathähnchen den Lebensunterhalt für sich und ihren dreizehnjährigen, surfbegeisterten Sohn Léo. Ihr Zuhause: ein Bungalow an der Atlantikküste. Doch ihr einfaches, harmonisches Leben gerät plötzlich aus den Fugen: Nach einem Verkehrsunfall ist der alte Kastenwagen nicht mehr einsetzbar, Anna verliert ihre Einkünfte, Schulden häufen sich an. Léo kennt einen Ausweg: Eine Teilnahme am Game, einer Fernsehshow, die in der Gegend stattfindet und in den Medien gepusht wird, könnte die Rettung aus der Misere bedeuten. Die einzige Aufgabe: das zur Verfügung gestellte Auto im Wert von 50000 Euro anzufassen und nicht mehr loszulassen. Wer am längsten durchhält, gewinnt. In ihrer Verzweiflung lässt Anna sich darauf ein. Mit bissiger Ironie und treffender Schärfe karikiert Joseph Incardona den brutalen Zynismus unserer konsumorientierten Mediengesellschaft. Zugleich erzählt er mit viel Sensibilität von der Suche nach Würde in einer materialistisch geprägten Welt.

Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schriftsteller und Drehbuchautor veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Romane 'Asphaltdschungel' und 'One-Way-Ticket ins Paradies' sind in deutscher Übersetzung im Lenos Verlag erschienen. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film 'Milky Way'. Joseph Incardona lebt in Genf.
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1. Hähnchen im Glück


Die schnurgerade Strasse wird von den Scheinwerfern des Kastenwagens erhellt. Man brauchte sie nicht, man sähe auch so genug; so weit das Auge reicht, beleuchtet der gelbe Mond die brachliegenden Felder. Eine Amerikanische Nacht. Durch das heruntergekurbelte Fenster auf der Fahrerseite strömt die milde Luft eines voreiligen Frühlings.

Mit der freien Hand tastet Anna auf dem Beifahrersitz nach ihren Zigaretten. Eine schleppende Melodie aus dem Radio untermalt die Fahrt; und wenn ich sage, es ist eine Amerikanische Nacht, dann meine ich, mit dem Blues, den Marlboros und der scheinbaren Weite könnte man fast denken, man wäre dort.

Die Zigarette steckt im Mund, jetzt sucht Anna ihr Feuerzeug. Sie lässt sich zu einem kläglichen Lächeln hinreissen, es war ein wenig einträglicher Tag fast ohne Kunden. Morgen wird sie die übrig gebliebenen Hähnchen aufwärmen und so tun, als hätte sie sie frisch auf dem Marktplatz gegrillt. So lässt man seine Prinzipien fahren, wenn einem etwas die Kehle zuschnürt.

Etwas – beziehungsweise: alles.

Wieder einmal endet ihr Tag in roten Zahlen. Erkläre einer mal den Kunden nach dem letzten Geflügelskandal um irgendwelche mit Tiermehl, Hormonen und Antibiotika vollgestopften Viecher, dass der eigene Lieferant ein lokaler Bauer ist. Ehrlich, Anna, deine Grübchen, die nussbraunen Augen? Die hast du für umsonst, gegen die Fernsehbilder von Legebatterien, die sich trotz sogenanntem »Tierwohllabel« als bessere Apotheken entpuppen, können selbst deine hautengen Jeans und dein wenig subtiler Push-up unter dem T-Shirt nichts ausrichten.

Und jetzt? Es ist trotz allem ein friedlicher Moment. Der Abend, die laue Luft in deinem Haar; wie die Sonne gemächlich vom Horizont entschwunden ist, um ihren Platz dem Mond zu überlassen. Zu Hause gleich ein eisgekühltes Bier, die Stille der Nacht – eine Atempause, bevor es morgen wieder losgeht.

Aber erst noch dem dringenden Verlangen nach einer Zigarette nachgeben, dem Ruf nach Tabak in den Lungen, so schädlich und doch so wohltuend: Finde, was du liebst, und lass es deinen Tod sein.

Nur bleibt das Feuerzeug unauffindbar. Anna klappt den Zigarettenanzünder auf, dieses so ungünstig in der Mittelkonsole platzierte Teil, an das heutzutage kaum noch jemand denkt. Endlich hört sie das Klicken und beugt sich in genau dem Moment vor, als von links das Wildschwein auftaucht; das Tier erstarrt im Scheinwerferlicht, zögert. Ein dumpfer Aufprall, wie wenn ein Boot auf einen Felsen aufläuft. Die abgewetzten Sohlen ihrer Turnschuhe rutschen über die Pedale, der Transporter kommt ins Schlingern und schiesst von der Strasse. Bei neunzig Stundenkilometern erweist sich der kaum einen Meter tiefe Seitengraben doch als verhängnisvoll: Das Fahrgestell des Renault Master mit seinem eingebauten Grill schabt über den Asphalt, die Funken sprühen wie bengalische Zündhölzer, das Blech faltet sich zusammen, Metall quietscht, die Doppeltür am Heck fliegt auf, und Dutzende von kopflosen Hähnchen verteilen sich auf der Strasse.

Der Wagen kommt zum Stehen.

Anna sitzt schräg da, der Gurt hält sie zurück und schneidet sich ihr in den Hals. Ein stechender Schmerz meldet sich in der Schulter. Der noch warme Zigarettenanzünder rollt durch die offene Tür auf die Fahrbahn. Anna begreift, schnallt sich ab und springt aus dem Wagen. Kaum ist sie ein Stück geflüchtet, fängt das Fahrzeug Feuer, Flammen ziehen sich im Zickzack über den Asphalt, die benzingetränkten Hähnchen fangen an zu lodern, Leuchtfeuer in der Nacht.

Sie steht da und lässt die Katastrophe auf sich wirken, da hört sie ein Röcheln und fährt herum. Das Wildschwein liegt auf der Seite, ruckartig hebt und senkt sich sein Brustkorb. Während sein Herz sich noch an das Leben klammert, starrt sein schwarz glänzendes Auge sie an. Dein Wagen steht in Flammen, aber ich verrecke hier. Sie erkennt, dass es sich um eine Bache handelt, bestimmt achtzig Kilo schwer, vielleicht hat sie noch irgendwo Frischlinge. Anna müsste versuchen, sie zu retten, aber da sind auch die Angst und die Abscheu vor dem verletzten Tier. Die Schnauze der Bache scheint sich zu einem Lächeln zu verziehen. Anna kniet sich hin, legt ihr eine Hand auf den Bauch, wie um sie zu beruhigen, das Fell ist schweissgetränkt. Die Bache schnappt. Anna weicht zurück und geht ein Stück auf Abstand.

Da fällt ihr auf, dass ihr die nie angezündete Zigarette immer noch zwischen den Lippen klemmt.

Ist das nicht ein guter Grund, um mit dem Rauchen aufzuhören, Anna?

Anna dreht sich zu den Flammen, die zum Himmel schlagen. In der Ferne nähert sich ein Blaulicht. Sie ist allein mit ihrer eingedellten Zigarette zwischen den Lippen. Sie denkt an die Dinge, die im Auto geblieben sind: Handy, Schlüssel, Papiere.

Auf der Seitenwand des lodernden Kastenwagens kann Anna noch immer lesen, was fünf Jahre lang ihr kleines Geschäft war, der Kredit, das Aufstehen im Morgengrauen, Tausende von gefahrenen Kilometern; sie hatte ihm einen hübschen, etwas albernen Namen gegeben, in roten Lettern prangte er auf weissem Grund.

Und für eine Weile hatte es funktioniert:

Hähnchen im Glück.

*

Mit dem Nokia in Reichweite auf dem Sofa, falls sie zurückrufen würde, und bei eingeschaltetem Licht in der Küchenzeile hatte er so lange wie möglich ferngesehen und eisern gegen das Wegdämmern gekämpft. Aber als das Auto am Bungalow vorfährt, schreckt er aus dem Schlaf. Die kleine Uhr über der Spüle zeigt 0 Uhr 30. Er schaltet den Fernseher aus und stürmt nach draussen. Stösst sich die Schulter am Türrahmen.

Das Polizeifahrzeug hält vor der Pergola, einer einfachen Holzkonstruktion mit einer grünen Plastikplane als Dach.

»Maman

Anna hat noch nicht ganz die Wagentür geschlossen, da prallt der Körper ihres Sohns gegen ihren. Sie schliesst ihn in die Arme und streicht ihm mit einer Hand durch das dicke schwarze Haar. »Alles gut, Léo, alles ist gut.«

Die zwei Polizisten betrachten schweigend Mutter und Sohn. Der Motor des Wagens läuft im Leerlauf, das Licht der Scheinwerfer strahlt in den Kiefernwald neben dem Bungalow.

Anna scheint wieder einzufallen, dass die beiden Polizisten noch da sind, sie dreht sich um. »Danke fürs Bringen.«

Der Beamte am Steuer starrt sie lüstern an. »Keine Ursache, wir nutzen die Gelegenheit und drehen hier gleich unsere Runde. Denken Sie daran, sich die Formulare für Ihre neuen Papiere in der Präfektur abzuholen.«

Bevor er den Rückwärtsgang einlegt, zwinkert er ihr zu, als wäre sein Interesse echte Fürsorge.

Arschloch.

Anna folgt ihrem Sohn in den Bungalow. Sie zieht die Tür hinter sich nicht zu, warum auch, die Welt ist immer noch da, und die Luft drinnen riecht abgestanden. Der Junge holt zwei Sandwiches aus dem Kühlschrank, die er für sie vorbereitet hat. Thunfisch-Mayo zwischen zwei Toastbrotscheiben. Und ein Bier, das er ihr gleich aufmacht. Auch an eine Papierserviette denkt er.

»Danke, mein Häschen.«

Das »mein Häschen« mag Léo nicht mehr besonders. Anna weiss das, ihr rutscht es trotzdem noch raus. Diesmal reagiert er nicht. Er ist dreizehn, laut Arzt befindet er sich auf der mittleren Wachstumskurve. Allerdings steht er schon so sehr auf eigenen Füssen, dass er ziemlich reif für sein Alter ist. Trotzdem: Sie sieht, wie müde er ist, wie sehr er sich zusammenreissen muss, um ihr Gesellschaft zu leisten.

»Hey, Léo. Geh ruhig ins Bett.«

»Ist alles okay, Maman? Hast du dir nichts getan?«

»Mir tut nur ein bisschen die Schulter weh, das geht schon.«

»Aber du musst zum Arzt, oder?«

»Mit ein paar Tabletten geht das wieder weg.«

»Und die Hähnchen im Glück?«

»In Flammen aufgegangen …«

Da wird er wieder wacher. »Wieso hast du nichts gesagt?«

»Du sollst dir keine Sorgen machen.«

»Scheisse, Maman

»Scheisse sagt man nicht. Wir haben ja noch die Versicherung.«

»Darum geht es nicht, du hättest sterben können!«

Jetzt sieht er sie an wie eine Überlebende.

»Was ist denn passiert?«

»Wildschwein.«

»Was?«

»Ich habe eben Schwein gehabt.«

»Sehr witzig.«

»Der Wagen liegt im Strassengraben, aber ich lebe noch. Glück ist auch, wenn das Pech nicht reicht.«

Anna beisst in ihr Sandwich. Sie hat keinen Hunger, aber sie will ihren Jungen nicht enttäuschen, schliesslich hat der an ihr Abendessen gedacht.

»Geh ins Bett. Wir reden morgen über alles, okay?«

Sie umarmen einander, Léo zieht seine Zimmertür hinter sich zu. Sie will ihn noch ans Zähneputzen erinnern, dann lässt sie es bleiben.

Mit ihrem Bier und einer kleinen Metalldose, die sie im Sicherungskasten aufbewahrt, geht Anna raus auf die Veranda. Bald wird der Mond untergehen. Die Bäume knarzen im Wind wie die Masten eines Segelboots, gedankenverloren streicht sie sich die Kiefernnadeln aus den Haaren.

Der wurmstichige Liegestuhl ächzt unter ihrem Gewicht. Anna öffnet die Dose, nimmt einen der vorgedrehten Joints heraus und steckt ihn sich an. Nach zwei Zügen geht es ihrer Schulter schon besser. Sie würde gern an nichts mehr denken, aber da ist eine Angst, die in der hellen Nacht aufsteigt, ein Schatten, gegen den selbst das Mondlicht nicht ankommt: Wenn sie den Unfall nicht überlebt hätte, wäre Léo im Heim gelandet. Da ist niemand ausser ihr, und dieser Gedanke jagt ihr einen Schauer über den Rücken. Ihr Sohn...


Dimitrow, Lydia
Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u.a. Stipendiatin in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin) und Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u.a. Jamey Bradbury, Isabelle Flükiger, Bruno Pellegrino). Für ihre Übertragung des Romans "Der Zoo in Rom" von Pascal Janovjak wurde ihr 2022 der Terra Nova Preis Übersetzung der Schweizerischen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Berlin.

Incardona, Joseph
Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schriftsteller und Drehbuchautor veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Romane "Asphaltdschungel" und "One-Way-Ticket ins Paradies" sind in deutscher Übersetzung im Lenos Verlag erschienen. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film "Milky Way". Joseph Incardona lebt in Genf.



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