Imbsweiler | Geyers Schädel | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Imbsweiler Geyers Schädel

Eine Kapitulation
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95602-164-0
Verlag: Conte Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Kapitulation

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-95602-164-0
Verlag: Conte Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Erzähl-Collage in, durch und über Wagners Kopf. Der Komponierer von Gewaltmärschen, Helicopter-Angriffen und zaubertrankberauschten Liebestoden gibt Rätsel auf. Stammt der halbe Ring gar nicht von Wagner? Basiert der berühmte Tristan-Akkord auf einem Schreibfehler? Hat der Erfinder des Gesamtkunstwerkes den Kopf verloren? Ist in Wahnfried gar nicht Richard Wagner begraben? Ein bizarrer Fund im Wagner-Jahr alarmiert die Bayreuther Polizei. Bei den Ermittlungen geraten Kommissar Haderer und seine Assistentin in die weitverzweigten Katakomben der Festspielstadt und sehen sich gefangen in einem Traum, der Wagners Leben ist: von der Revolte zur Königstreue durch permanente Schuldenkrise. Die Beamten schreiten kaum, doch wähnen sich schon weit, zum Raum wird ihnen hier die Zeit. Wissen sie am Ende wirklich, wo ihnen Wagners Kopf steht?

Marcus Imbsweiler, gebürtiger Saarländer, lebt in Heidelberg. Er studierte in Tübingen, München und Heidelberg Philosophie, Geschichte, Musikwissenschaft und Germanistik. Heute arbeitet er als freier Autor und Musikredakteur. Er hat zahlreiche Romane, Krimis und Kurzgeschichten veröffentlicht.
Imbsweiler Geyers Schädel jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Leschkowskis Herz

Der Schädel aus dem Fichtelgebirge war nicht nur von Maden übersät, er besaß auch einen auffallend musikalischen Hinterkopf. Haderer ertappte sich bei dem Wunsch, die schöne Rundung nachzufahren. Den Bogen zu spüren, Klangfantasie zu ertasten. Er unterdrückte diesen Wunsch. Denn die Madenmasse wimmelte derart um den halbverwesten Schädel, dass sie eine kompakte, in sich bewegliche, klumpig weiße Schicht bildete, gleichsam ein versehentlich außen angebrachtes Gehirn. Haderer hasste Maden. Doch er hasste viele Dinge: seinen Chef, seinen Bauch, das Geschwätz der Politiker. Weshalb sich sein Widerwille gegen die gefräßigen Stummelviecher innerhalb professioneller Grenzen hielt. So war das Leben nun einmal: fressen und gefressen werden. Irgendwann würden sich die Maden auch über ihn hermachen, den Haderer Korbinian aus Bayreuth.

»Fort damit zu den Forensikern«, schnarrte er und erhob sich. Etwas lief über seinen Nacken, kalt und doch lebendig: eine Gänsehaut. Er schüttelte sich. Die Gänsehaut ließ sich nicht abschütteln. Sie ließ sich höchstens ignorieren: durch Ablenkung.

»Leschkowski!«, brüllte Haderer.

Alles schreckte zusammen. Die Polizisten, die Kriminaltechniker, Staatsanwalt Dr. Klein, die zufällig anwesenden Spaziergänger rund um die Hohe Warte. Waldeinwärts fuhr ein Rascheln durchs Unterholz, dort flüchtete vermutlich ein Tier. Die einzige, die sich nicht rührte, war eine junge Frau mit Pagenschnitt, kurzem kariertem Rock und Reitstiefeln. Sie wandte Haderer den Rücken zu und blickte zwischen den Stämmen hindurch ins Waldesdunkel. Dabei hielt sie den Kopf ein ganz klein wenig schräg.

»Leschkowski!«, brüllte es hinter ihr.

Aufseufzend zeigte sie nach vorn. »Sehen Sie das, Chef?«

»Nein!«

»Der Baum dort.«

»Ich sehe keinen Baum!«

»Der Baum neben den vielen anderen Bäumen. Man nennt es Wald. Dort müsste noch das Herz zu sehen sein, das mir Gregor vor vielen Jahren in die Rinde …«

»Na, und?«, schnaubte Haderer. »Alles hinfällig. Staub und Sägespäne. Irgendwann kriegen sie uns. Die Maden. Jeden von uns. Nag, nag, nag: mich, Sie, alle. Als erstes geht es unseren Uraltlovern an den Kragen, die irgendwelche Baumrinden mit Herzchen verunstaltet haben.«

»Ja, Chef.«

Haderer wandte sich zum Gehen. Zu einem Gehen, das ein Stampfen und Stolzieren war, eine Landnahme im Zweiertakt, gebremst durch den weich aufgeworfenen Waldboden. Vor einer Fichte mit schrundigem Stamm blieb Haderer stehen. »Was machen all die Bäume hier?«, schimpfte er. Nieste. Und dann: »Leschkowski!«

Die junge Frau hob eine Braue.

»Welcher Gregor? Und was heißt, vor vielen Jahren? Sie stammen doch gar nicht von hier! Sind erst seit letztem Jahr in Bayreuth!«

Die Leschkowski nickte. Legte den Kopf noch ein wenig schräger und schürzte die Lippen. »Ja«, sagte sie. »Dann war es wohl ein anderer Baum.«

*

Ach, Sie kennen Bayreuth nicht?

Die Hohe Warte liegt im Norden der Stadt. An eine ihrer Flanken schmiegt sich das Krankenhaus, aber das können wir in diesem Zusammenhang vernachlässigen. Außerdem war der Schädel schon tot und somit kein klinischer Fall mehr.

Der Besitzer des Schädels, ja doch. Sein Träger, der entschädelte Rumpf.

Auf dem höchsten Punkt der Hohen Warte steht der Siegesturm. Höher als das berühmte Festspielhaus und auf dieses herabblickend, während das Festspielhaus wiederum auf die Stadt blickt. Zufall, meinen Sie? Ganz im Gegenteil! Unten, an der Basis: der BÜRGER, der Alltag, das Profane. Darüber: die KUNST. Und über ihr, himmelhoch sich reckend: der KRIEG. Die drei Säulen unserer Nation. »Dem Ruhme der deutschen Siege 1870/71 und dem ehrenden Andenken an die gefallenen Bayreuther Söhne geweiht«, lautet die Inschrift auf dem Turm, der nach dem Festspielhaus begonnen, aber vor ihm fertig wurde. Der Turm der Sieger, in jeder Hinsicht. Stein gewordene Männerfantasie, sagen die Neider und Böswilligen, phallischer Größenwahn. Was natürlich Unsinn ist. In Wahrheit stellt der Turm eine Waffe dar. Eine aufrechte Haubitze, ein bis den Wolken reichendes Kanonenrohr. Wir haben Paris erobert, schallt es dumpf aus dem Turm, nun schießen wir uns den Himmel auf Erden!

Paff.

Deshalb ist es so still rund um den Siegesturm. Die Leschkowski hat es gespürt, der Staatsanwalt, sogar Kommissar Haderer fiel es auf. Kein Autobahnlärm, keine Geräusche, nichts. Dass es mal im Laub raschelt, ist das Äußerste. Atemlos wartet alles auf den einen, entscheidenden Schuss, der die Sterne vom Himmel holt. Irgendwann muss er fallen! Irgendwann muss dieser Turm doch zu etwas nutze sein!

1870. Ein Vorfahr von Staatsanwalt Dr. Klein starb beim Sturm auf die Spicherer Höhen. Beerdigt in einem Massengrab. Aus dem hätte noch was werden können, hieß es in der Familie. Der hatte was im Köpfchen. Musikalisch war er auch, der Eberhard. Hübsche rote Haare.

Aus diesem Grund hat die Tochter von Dr. Klein den Deutsch-Französischen Krieg als Prüfungsthema gewählt. Um etwas gutzumachen, familiär und so. Nächste Woche muss sie bei Professor Knittel antanzen, kann aber schon jetzt nicht mehr schlafen. Herzrasen, Pickel, einfach alles. Ihr Vater hat seine Kontakte spielen lassen. Hat über ehemalige Studienkollegen versucht, den Prüfer milde zu stimmen. Der Prüfer gilt als harter Knochen. Als Vertreter einer aussterbenden Professorengeneration. Kettenraucher und Internethasser, solche Sachen. Aber Jahr für Jahr Kranzniederlegung am Siegesturm im Sonntagsstaat. Das kann ja heiter werden, denkt sich Dr. Klein (Nichtraucher).

Man hat sich aus Bayreuth wegen eines »Siegesturmes« an meine Teilnahme gewendet, schreibt Richard Wagner an Bankier Feustel. Da Sie nun mein Bevollmächtigter sind, bitte ich Sie, ganz nach Ihrem Ermessen, in meinem »Auftrage« den Ihnen gutdünkenden Beitrag für mich zu zeichnen.

Moment!

War da nicht was? Ein Geräusch, ein entferntes Grollen? Ist der Turm endlich so weit? Kommt es jetzt zum finalen Schuss?

Nein, war wohl nur ein Selbstmörder, der die Steinstufen hochschlurft. 17 Meter Turmhöhe, 463 Meter über Normalnull. So etwas zieht an. Magisch. Letzte Aussicht inklusive. Der Blick über Bayreuth. Über Kunst und Alltag.

Da kommt er schon wieder herunter, der gute Mann. Am Absperrgitter gescheitert, das rund um den Zinnenkranz läuft. Suizid verschoben. SMS an Mama: Komme doch zum Abendessen. Eigschnidna Kleeß, bittschön.

Und wir?

Wir warten weiter auf die Eruption. Irgendwo tief im Innern der Hohen Warte ist alles zum Schuss vorbereitet. Ganz bestimmt. Die Kanonenkugel wird in Stellung gebracht – Stopfen – Zünden – Hurra!

Ihre Leuchtspur am nächtlichen Himmel.

Eine Kugel.

Oder: ein Kopf.

*

Der Haderer Korbinian hasste Maden, aber er liebte Volksmusik. Frankens Frohsinn zum Beispiel, eine Chorvereinigung, schmetternd seit 150 Jahren. Oder die Bayreuther Buben mit den unrasierten Körner-Zwillingen am Akkordeon. Das alte Tonika-Dominante-Spiel, eine Mollparallele als Gipfel der Keckheit. Schön. Und ausreichend.

Haderer wusste daher nichts vom Bruckner Anton, der im Café Imperial gern einen Gugelhupf verzehrte, sich am 22. September 1888 jedoch gegen den beißenden Ostwind stemmte, um rechtzeitig zum Währinger Friedhof zu kommen.

Rechtzeitig zur Graböffnung. Rechtzeitig zur Ehrerbietung einem ganz Großen gegenüber.

»Bittschön«, flüsterte Bruckner. »Derf i amal den Schubert …?« (Das ist natürlich eine Legende. Wer nimmt schon freiwillig, bevor es ins Café Imperial geht, einen 60 Jahre alten Schädel, an dem noch die Haare kleben, zur Hand? Und wenn Schubert etwas hatte, dann üppiges Haupthaar! Aber von alledem wusste Haderer nichts.)

»Bittschön«, flehte der Bruckner Anton.

Man reichte ihm den Schubert-Schädel. Wunderbar!

Mit zitternden Händen drehte Bruckner das Komponistenhaupt hin und her. Suchte nach Resten Schubertscher Melodie, nach einem Genialitätsfunken im Schädelinneren, einem beiseitegelegten, nie gebrauchten Thema, aus dem sich vielleicht eine Symphonie fertigen ließe … und dann drückte er diesem einzigen, diesem einmaligen Kopf einen Kuss auf die fleischlose Stirn. (Legende, Haderer! Legende!)

Einen Kuss, jawohl.

Glückliches, reliquienseliges Österreich!

Und es blieb nicht bei diesem einen Schädel. Kurz zuvor, im Juni desselben Jahres 1888, hatte Meister Bruckner schon einmal den Währinger Friedhof angesteuert, um diesmal Beethoven seine Labialreferenz zu erweisen. Wieder die innigen Seufzer aus musikgetränkter Brust, wieder der traumselige Blick in die erloschenen Tonkünstleraugen – allein der Griff zum Heroenschädel wurde ihm verweigert. Zu morsch das Gebein, Professor! Die Stabilität des Kopfes: hochgradig gefährdet.

Ach, Beethoven.

Und so blieb es bei einer kurzen, flüchtigen Kontaktaufnahme, einem verschämten Streicheln über die so flache Stirn. Selbst die brachte dem Bruckner Anton böse Blicke seitens der anwesenden Anthropologen ein.

Kein Kuss.

Nun hätte gerade der ja auch eine bemerkenswerte Umkehrung des Zeitstrahls bedeutet. Schließlich war es Beethoven gewesen, der sich in mythischer Vergangenheit seine Nachfolger per Weihekuss erkor. Den Knaben Liszt zum Beispiel. (Ach, was! Legende!) Ganz zu schweigen von den vielen anderen, aus denen dann doch nichts wurde. Selbst den jungen Richard Wagner soll er … aber das ist eine andere Geschichte. Bruckner...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.