Imbsweiler | Achtundachtzig | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Imbsweiler Achtundachtzig


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95602-157-2
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-95602-157-2
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



28. August 1988. Das Flugtagunglück auf der Ramstein Air Base in Rheinland-Pfalz wird zum Wendepunkt im Leben der Freunde Alwin, Sascha, Andreas und Franziska. Keiner der vier erleidet körperliche Verletzungen und doch wird nichts mehr sein, wie es war. Erst recht, nachdem sich noch am selben Abend eine weitere, folgenschwere Tragödie ereignet.
30 Jahre später, im Sommer 2018, ist es der Suizid einer jungen Frau, der den Polizisten Alwin Bungert vor ein Rätsel stellt. Ein Motiv ist nicht erkennbar, ein Abschiedsbrief, falls er je existierte, verbrannt. Doch das Wiedersehen mit seinen Jugendfreunden beim Jubiläumstreffen des Abiturjahrgangs '88 reißt alte Wunden auf und legt ein Geheimnis offen. Alwin ahnt, dass an jenem Tag vor drei Jahrzehnten weit mehr zerbrochen wurde als befürchtet.

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Franziskas Rückkehr nach Dürrweiler begann mit einem kleinen, unscheinbaren Geräusch. Mit dem trockenen Laut, der entstand, als sie ihren Koffer auf dem Bürgersteig gegenüber der Krone abstellte. Alle übrigen Geräusche hatten noch zur Phase des Ankommens gehört: das Aussteigen aus dem Taxi, das Öffnen und Schließen der Türen, des Kofferraums, die Verabschiedung vom Fahrer, das erneute Türenknallen. Sie wartete, bis der Wagen gewendet hatte und außer Sicht war, erst dann stellte sie den Koffer ab. Jetzt also. Sie war zurück. Ohne nachzudenken, warum oder für wen sie das tat, suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift. Während sie sich die Lippen nachzog, musterte sie das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es kam ihr kleiner vor, als sie es in Erinnerung hatte. Außerdem war es frisch renoviert: grellweißer Anstrich, sandsteinrote Fenstereinfassungen, und oben auf dem neu eingedeckten Dach glitzerten Solarmodule. Zum Eingang, der immer noch etwas erhöht lag, führte nun eine zusätzliche Rampe für Rollstuhlfahrer. Nur die Ausstrahlung des Hauses war die alte, dieses Geduckte, Verschlossene, trotz der drei Stockwerke und der vielen Fenster. Wahrscheinlich hätte man es abreißen müssen, um ihm neues Leben einzuhauchen. So wirkte die Krone bloß wie eine alte, geschminkte Frau. ›Wie ich‹, dachte Franziska. Sie steckte ihren Lippenstift wieder ein, packte den Koffer und überquerte die Straße. Cityhotel Krone stand auf einem Kunststoffschild, das fast die gesamte Breite der Fassade einnahm. Cityhotel – war das noch dreist oder schon wieder rührend? Vielleicht eine spezielle Art saarländischer Ironie. Als Franziska in Dürrweiler gelebt hatte, war die Krone Gasthaus gewesen, Mittelpunkt des Dorfes, eine Kneipe mit großem Saal. Gut, es gab ein paar Zimmer, in denen manchmal LKW-Fahrer und Arbeiter auf Montage übernachteten, doch auf die Bezeichnung des Hauses hatte das keine Auswirkung. Jetzt war der Hotelbetrieb wiedererstanden, aus den Trümmern der Renovierung gewissermaßen. Dafür hatte man die Kneipe eingespart. War ja auch kein Wunder, überall ging der Bierkonsum zurück. Sogar in Dürrweiler. Und noch etwas fehlte im Cityhotel Krone: die Rezeption. Es gab lediglich einen Automaten im Foyer, der nach Empfang der Mastercard und Eingabe des zuvor übermittelten Codes eine Zimmerkarte auswarf. Die sanfte Automatenstimme, die einen durch das Labyrinth der Aktionen führte, erinnerte Franziska an jemanden, doch sie kam nicht drauf, an wen. Vielleicht verspürte sie auch bloß den Wunsch nach einem Verbündeten. Im Hotelflur war es still, der Teppichboden schluckte jedes Geräusch. Beim ersten Versuch, die Zimmertür zu öffnen, streikte Franziskas Karte. Falsche Zimmernummer? Chip defekt? Nein, bei der Wiederholung klappte es. Irrationalität der Technik. Die Einrichtung so praktisch wie unpersönlich. Doppelbett, Flachbildschirm an der Wand, eine Flasche Wasser zur Begrüßung auf dem Tisch. Die Stille, irgendwie gespenstisch. Immerhin war das Zimmer größer als gedacht, man stieß sich beim Herumgehen nicht dauernd die Schienbeine an. Neben dem Telefon die Nummer für Notfälle. Ihren Frühstückswunsch hatte Franziska auf Band zu sprechen. Nun gut, das war jetzt also das Dürrweiler von heute. Sie hatte die Veränderungen ja schon vom Taxi aus registriert. Oder besser: einen Teil der Veränderungen, das Offensichtliche, das auch dem flüchtigen Betrachter auffiel. Gleich am Ortseingang eine neue Tankstelle, der Zehnerpack Brötchen zum Schleuderpreis. Kurz dahinter ein Nagelstudio. Vor der katholischen Kirche der aufgehübschte Marktplatz, Naturstein und eingezäunte Bäumchen statt roter Erde und Riesenpfützen. Wo früher das Geisterhaus war, eine sich selbst überlassene Jugendstilvilla mit großem, verwunschenem Garten, stand jetzt ein mehrstöckiges Bürogebäude, und noch aus der Distanz von 30 Jahren hatte es Franziska einen Stich versetzt. So marode und unansehnlich die alte Villa auch gewesen war, die Würdelosigkeit des heutigen Baus hatte sie nie besessen. Das Bett war okay. Der Fernseher funktionierte. Klimaanlage, W-Lan, alles da. Objektiv gesehen, ließ sich das Facelifting der Krone nur als gelungen bezeichnen. Aber wie objektiv war Franziska? Sie stellte sich unter die Dusche. Weil sie geschwitzt hatte auf dem Weg vom Flughafen Ensheim hierher und weil es sich so gehörte, wenn man den Ort der Kindheit nach drei Jahrzehnten wieder betrat. Ihre rituelle Reinigung dauerte fast eine halbe Stunde, die Dusche war ein Traum. Anschließend lag sie in Unterwäsche auf dem Bett und checkte online, was in Dürrweiler so los war. Falls überhaupt etwas los war. Sie konnte den Abend natürlich auch ganz profan mit einer Pizza vor der Glotze verbringen, aber vielleicht lief ja irgendwo etwas, dessentwegen es sich lohnte, das Hotelzimmer zu verlassen. Cityhotel Krone, sie kam immer noch nicht drüber weg. Zu einer City gehörte ein Kino, ein Konzertsaal, Museum oder was auch immer. In Dürrweiler gab es nichts dergleichen, hatte es nie gegeben und würde es nie geben, darauf wollte sie wetten. Sie könnte einen der Organisatoren des Abitreffens anrufen, den Rütsch oder die Conny, aber auf beide hatte sie keine Lust. Mit denen würde sie morgen noch genug zu tun haben. Und dann entdeckte sie doch etwas. Kommenden Dienstag sollte es ein Open Air im Steinbruch geben, über tausend Zuhörer wurden erwartet. Im ersten Moment dachte sie, es müsse sich um eine Falschmeldung handeln. Ein Konzert in Dürrweiler, okay – aber auf dem Steinbruchgelände? Doch es gab mehrere solcher Meldungen, im Wortlaut ähnlich. »Anlässlich ihrer spektakulären Last World-Tour schauen die Endzeitrocker von Stahlkraft auch im Saarland vorbei: am Sonntag an der Saarschleife und am Dienstag im alten Steinbruch von Dürrweiler.« Franziska fand ein Foto vom Veranstaltungsort, das Erklärung und Rätsel in einem war. Es zeigte eine Art Naturarena: ein Halbrund graugelber Steilwände und davor eine Kies- oder Sandfläche ohne jeden Zipfel Grün. In Franziskas Erinnerung war der Steinbruch von Dürrweiler ein zerklüfteter Dschungel gewesen, eine überwucherte Halde voller Ruinen und Industrieschrott. Ein Abenteuerspielplatz, nicht diese sterile Projektionsfläche von heute. Luftbildaufnahmen auf Google Maps bestätigten das Ergebnis. In seinem jetzigen Zustand war der Steinbruch ein sehr heller Fleck in grüner Umgebung, sauber, aufgeräumt und frei von allen Reminiszenzen an seine staubige, lärmerfüllte Vergangenheit. Na, Lärm würde es am Dienstag ja wohl geben, dachte Franziska. Stahlkraft im Saarland … Wie das wohl klang, wenn vor den Steinbruchwänden zur Apokalypse aufgespielt wurde? Die Akustik war sicher beeindruckend. Allerdings hatte sie nicht vor, bis über das Wochenende hinaus in Dürrweiler zu bleiben. Überhaupt ein komischer Tag für ein Open Air, der Dienstag. Aber dann fiel ihr ein, dass der Tag danach im Saarland Feiertag war. Ein Hoch auf den Katholizismus. Weitere Veranstaltungen fand sie nicht, wenn man von der Wanderung der Jungsenioren und dem Billardturnier am Sonntag einmal absah. Die Mehrzahl der Meldungen über Dürrweiler bezogen sich auf den gestrigen Waldbrand, bei dem eine junge Frau ums Leben gekommen war. Ihr Name wurde nicht genannt. Franziska blieb noch eine Weile auf dem Hotelbett liegen, dann gab sie sich einen Ruck, legte das Handy beiseite und zog sich an. Bluse, Rock, Sandalen. Im Bad hing ein Fön, doch sie beschloss, sich die Haare von der Sonne und vom Wind trocknen zu lassen. Es hatte ja schon wieder – immer noch – 30 Grad. Vielleicht kapierten sie jetzt auch in Dürrweiler, dass diese Wetterextreme menschengemacht waren. Brennende Wälder im Saarland, das musste man sich mal vorstellen! Draußen eine Wand aus Hitze. Sie wechselte auf die Straßenseite, die im Schatten lag. Einfach fatal, diese klimatisierten Räume, in denen man den Sommer vergaß. Noch sorgten ihre feuchten Haare für Kühlung. Sie schaute den Passanten hinterher, hatte Lust, sie nach dem Weg zur City zu fragen. Zur Suburb, zur Bronx … Auf Saarländisch! Dabei war sie von Haus aus gar keine Dialektsprecherin. Stattdessen ging sie die paar Schritte zum Marktplatz. Hier war die Chance, einen Dönerladen oder eine Pizzeria zu finden, sicher am größten. In ihrer Schulzeit hatte es vor der Kirche einen gut frequentierten Imbissstand gegeben, aber der existierte nicht mehr, das hatte sie schon vom Taxi aus gesehen. Und tatsächlich, kaum hatte sie den Marktplatz erreicht, als ihr der Duft von Dönerfleisch in die Nase stieg. Dort drüben, Antalya Imbiss, gleich neben dem Handyladen. Um das Abendessen brauchte sie sich also keine Sorgen zu machen. Mitten auf dem kleinen Platz stand ein Brunnen. Bis auf das in Stein gemeißelte Wappen des Ortes war er völlig schmucklos. Aus einem einzigen Rohr plätscherte Wasser in eine flache, rechteckige Schale. Da die Schale den Erdboden kaum knöchelhoch überragte, lud der Brunnen an Tagen wie diesem zu einem Fußbad regelrecht ein. Fand jedenfalls Franziska. Seltsam, dass kein anderer von dieser Gelegenheit Gebrauch machte. Vielleicht musste man dazu den Blick des Fremden haben. Kaum hatte sie ihre Sandalen ausgezogen und die Füße ins eiskalte Wasser gesteckt, fühlte sie sich beobachtet. Eine Frau ging vorbei, deren Blick zwischen Neugier und Misstrauen oszillierte. War es verboten, den Brunnen so zu nutzen? Hatte der eine besondere Bedeutung, die sich Auswärtigen nicht auf Anhieb erschloss? Kraftquelle, heiliger Ort,...


Marcus Imbsweiler, gebürtiger Saarländer, lebt in Heidelberg. Er studierte in Tübingen, München und Heidelberg Philosophie, Geschichte, Musikwissenschaft und Germanistik. Heute arbeitet er als freier Autor und Musikredakteur. Er hat zahlreiche Romane, Krimis und Kurzgeschichten veröffentlicht.



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