E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Illy ELYA-49
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7412-4453-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7412-4453-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Daniel Illy arbeitet als Arzt und Psychotherapeut in Berlin. Der 1985 geborene Autor hat bereits einige erfolgreiche Ratgeber über psychische Erkrankungen geschrieben. ELYA-49 ist sein Debütroman. Weitere Informationen zum Autor unter www.daniel-illy.de
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Zweites Kapitel
Als Emil die Augen wieder öffnete, befand sich kein schützender Helm mehr über seinem Kopf. Er blickte direkt in das grelle Licht der Leuchtstoffröhren über ihm. Die Maserung der die grelle Lichtquelle umfassenden Zimmerdecke war ihm bestens vertraut. Er befand sich an seinem Arbeitsplatz, genauer gesagt auf einer der Notfallliegen der Krankenstation in Berlin-III, etwa hundert Meter unter dem Erdboden.
Sein Körper fühlte sich bleischwer an, es fiel ihm bereits unendlich schwer, den Arm zu heben und nach den, von ihm zunächst nicht genau einordbaren, EKG-Elektroden zu tasten. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Er erinnerte sich an die Rettung durch seinen Freund Hannes, aber nicht daran, was er da draußen gewollt hatte.
Die vertraute Umgebung tat ihm gut. Die Anrichte aus Edelstahl mit den bereitliegenden chirurgischen Instrumenten, der ewig tropfende Wasserhahn über dem weißen Waschbecken in der Ecke des Raumes, er erinnerte sich sogar an die Kombination des Sicherheitsschrankes, gefüllt mit jenen Medikamenten, die man nicht unbedingt offen herumliegen lassen sollte. Er war der leitende Arzt von Berlin-III, es war der Tag 122 im Jahr 2020 und die Welt war nicht mehr, wie sie mal war, das alles war ihm unmissverständlich klar. Was aber hatte er dort draußen vor der Tür gesucht? Wo hatte er hingehen wollen?
Seine Augen glitten hektisch durch den Raum, außer ihm befanden sich nur noch eine Handvoll unbelegter Notfallliegen darin. Wie spät mochte es sein? Er kniff die Augen zusammen, um die Uhr an der gegenüberliegenden Seite lesen zu können. 20:48 Uhr, vielleicht auch eine 6 oder eine 3 am Ende, aber was machte das schon für einen Unterschied? Vor über 12 Stunden war er aufgestanden, hatte sich Hose und Pullover angezogen, den Kittel übergeworfen und nach einem schnellen Instantkaffee auf den Weg zu eben diesem Raum gemacht.
Er erinnerte sich daran, unmittelbar nach Arbeitsbeginn einen Notfall hereinbekommen zu haben. Eine junge Frau, keine zwanzig Jahre alt, die, wie so viele in dieser unendlichen Kälte und Dunkelheit, beschlossen hatte, ihrem wenig aussichtsreich erscheinendem Leben ein frühzeitiges Ende zu setzen. Gemeinsam mit Hannes hatte er zunächst die tief klaffenden Schnittverletzungen an ihrem linken Unterarm gesäubert, desinfiziert und anschließend vernäht. Er erinnerte sich daran, dass die junge Frau mehrfach nach ihnen geschlagen hatte, sodass schließlich sogar der Einsatz eines intravenösen Beruhigungsmittels notwendig wurde. Er hatte sich für 2,5 Milligramm Diazepam, aufgezogen auf eine 5 Milliliter fassende Spritze mit Natrium-Chlorid-Lösung entschieden. Die daraufhin rasch einsetzende Ruhe der jungen Patientin hatte Hannes für die letzten Stiche genutzt.
Als die Patientin schließlich eingeschlafen war, hatten sie beide mit gedämpfter Stimme die lebhafte Diskussion geführt, ob Paris, oder das, was davon übrig ist, noch immer sein Wahrzeichen, den Eifelturm besitzt. Wie waren sie doch gleich auf Paris gekommen? Richtig, der Name der Patientin, Amélie Richter, geboren 2002 in Erfurt, kurz nachdem dieser Film mit dem eingängigen Klavierstück herausgekommen war. Sein Gedächtnis schien erstaunlich gut zu funktionieren.
Er erinnerte sich an das ausführliche Gespräch mit Amélie gegen Mittag. Das Nachlassen der Wirkung des Medikaments ließ ihn nun zum Hauptteil seiner psychiatrischen Arbeit, dem Gespräch mit dem Patienten, kommen. Sie sprachen über Vergangenes, über Gegenwärtiges und vor allem über die grässliche Fratze der von ihr beschworenen Zukunft. Nach diesem längeren Gespräch hatte sie sich fürs Erste beruhigen können. Mit der neu aufkeimenden Hoffnung auf Linderung durch Medikamente, angedacht war die Niedrigdosistherapie mit Sunburn, und dem in die Hände gegebenen Versprechen, keinen weiteren Suizidversuch zu unternehmen, hatte er sie in eines der ruhigeren Krankenzimmer geschoben. Dann hatte er sich auf den Weg in das medizinische Labor gemacht, das unweit der Krankenstation lag, und war auf eine dicke, undurchdringliche Wand aus Vergessen gestoßen. Ihm fehlten einige Stunden des aktuellen Tages, Stunden, die ihn scheinbar dazu bewogen hatten, die Station in Schutzkleidung zu verlassen und auf eigene Faust irgendwelche Unternehmungen zu beginnen. Was hatte er da draußen gesucht? Erschrocken durch die lückenhafte Erinnerung der letzten Stunden stieß er einen lauten Seufzer aus.
»Ah, gut, du bist wach.« Anna steckte den Kopf zur Tür hinein, näherte sich dann der Liege und schaltete auf dem Weg die Konsole zur Überwachung der Vitalzeichen aus. Emil war so in Gedanken versunken gewesen, dass er das Piepen der Apparatur und das wiederholte Aufpumpen der Blutdruckmanschette gar nicht wahrgenommen hatte.
»Willkommen unter den Lebenden! Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, ohne uns Bescheid zu sagen, rauszugehen?« Die Freude über das Wiedersehen überwog die Wut auf den unvernünftigen Freund und ein Lächeln zog über Annas Gesicht. Nie hatte er sich so sehr gefreut, ihre Zahnlücke zwischen den beiden oberen Schneidezähnen zu sehen. Eine lange Umarmung später half sie ihm auf. Anna hatte ihre Arbeitskleidung, hellblaue OP-Kleidung, bereits abgelegt und trug ihre typische Freizeitkleidung: langer Wollrock, Bluse und große Ohrringe, die ihr einen Hauch Südländerin in das blasse Gesicht malten.
»Ich wollte gerade los, mir einen kleinen Snack reinziehen, da bringt mir Hannes eine halbe Leiche vorbei. Wo wolltest du denn hin?«, fragte Anna.
»Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete Emil, bereits stehend, sich aber weiterhin am Rand der Untersuchungsliege festhaltend.
»Wie, an gar nichts mehr? Ich bin Anna, nett dich kennen zu lernen.«
»Ab Mittag fehlt mir jede Erinnerung.« Ihm war jetzt nicht nach Scherzen zumute.
»Was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst?« Sie hatte den Ernst seiner momentanen Situation begriffen und machte ein sorgenvolles Gesicht.
»Das Gespräch mit Amélie, dieser Patientin, die wir heute Morgen bekommen haben. Wie geht es ihr eigentlich?« Für einen Moment vergaß er über sein Verantwortungsgefühl seine eigenen Probleme. Das ging ihm, wie vielen Menschen in sozialen Berufen, häufiger so. Bislang wurden solche Gedanken allerdings höchstens mal von einem Schnupfen abgelenkt, jedoch nicht von einem partiellen Gedächtnisverlust bei zurückliegendem Beinahetod durch Ersticken.
»Mach dir keine Sorgen, während ihr Jungs da draußen den Dicken machen musstet, habe ich mich um sie gekümmert. Sie hat die erste Dosis Sunburn bereits intus und schläft wie ein Baby.«
Ein Ausdruck der Entspannung keimte auf seinem Gesicht auf.
»Hannes hat mir nicht gesagt, dass du weg bist und er dich suchen geht. Ich musste den Laden mal wieder alleine schmeißen«, gab sie lachend zu Protokoll.
»Das tut mir wirklich leid, ehrlich, Anna!« Es tat ihm ernsthaft leid, aber in seiner Stimme lag auch so etwas wie ein Lachen, zum ersten Mal seit der Bewusstlosigkeit.
»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete sie. »Ich bin es ja von euch so gewohnt.«
In der Tat war sie es gewohnt. Die Katastrophe hatte sie mitten aus dem Medizinstudium gerissen, sodass Anna eigentlich keine Ärztin war. Vor dem Studium hatte sie als Krankenpflegerin gearbeitet und dabei erstaunliche Kompetenz gezeigt. Wundversorgung war ihr Spezialgebiet, in dem sie längst ihre ärztlichen Kollegen überragte. Sie nähte und verband wie keine Zweite. Am liebsten dort, wo die Not am Größten war. In Uganda hatte sie bereits ein Grundstück gekauft, um dort ein Krankenhaus zu errichten, das sich auf die Versorgung von Wunden spezialisieren würde. Das Medizinstudium schien eine nervige Formalität zu sein, eine, die sie vom Lernpensum herausforderte, aber so zu ihr passte wie – in ihren eigenen Worten – Arsch auf Eimer. Sie hatte so lange auf einen Studienplatz gewartet, und als alle Universitäten der Welt mit einem Schlag aufhörten zu existieren, hatte sie ganz selbstverständlich den Platz an Emils und Hannes Seite angenommen. Für die Drei war es das größte Glück in dieser größtmöglichen Katastrophe, ihre seit vielen Jahren bestehende Freundschaft gerettet zu haben. Hierarchien mochten innerhalb der Anlage gelten, auf der Krankenstation waren alle gleich. Hannes, der Chirurg, wusch auch mal einen bettlägerigen Patienten. Emil, der Psychiater, schiente gebrochene Finger und Anna, die Krankenpflegerin, entfernte auch mal einen vereiterten Blinddarm. Sie hatten ihr Wissen einander weitergegeben und gelernt zu improvisieren. Anders konnte das kleine Krankenhaus tief unter der Erde nicht funktionieren. Auch wenn ihre Namensschildchen ein hierarchisches System vermuten ließen, wer hier leitender Arzt oder Krankenpflegerin war, das spielte im Arbeitsalltag keine Rolle.
»Ich muss mich irgendwie wieder erinnern. Wenn ich nur wüsste, wie?«, sagte Emil, nun endlich ohne fremde Hilfe im Raum stehend. »Lass uns ins Labor gehen!«
Sie hielt ihn zurück.
»Erst...