E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Iliazd Verzückung
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95757-669-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-95757-669-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Gebirge, unterhalb des Quecksilbersees, leben Ivlita und der spätere Post- und Bankräuber Lavrenti in einem einsamen 'Dörfchen mit dem unaussprechlichen Namen', bevölkert mit Kropfigen und Blöden, die absonderliche Lieder singen. Ivlita bewegt sich in Gedanken frei in der Zeit, die sie weit über die Berge hinaus ins Land der Flügel bringt, sie versteht die Natur, ist selbst ein 'übernatürliches Ereignis'. Ihre große Liebe, der junge, christusgleiche Lavrenti, aber gehorcht den Gesetzen des Raumes und desertiert auf schwindelerregenden Talfahrten im wilden Zickzackkurs trotz seiner Gefühle zu Ivlita aus Freiheitsliebe und Abenteuerlust in die Ebene. Lavrenti beginnt Reichtümer anzuhäufen und verliert dabei seine Freiheit und Reinheit - und mit seinem eigenen Niedergang beginnt die Zerstörung der Liebe. Dieser in der wilden Bergwelt Georgiens angesiedelte anspielungsreiche und unsentimentale Liebesroman ist unvergleichlich sprachmächtig, lust- und kunstvoll; kongenial übersetzt von Regine Kühn.
'Zu allem Überfluß stellte sich Ilja Zdanevi? ein, kräftig gewachsen, klein, kurzbeinig, in einer verschlissenen Hose und mit einer Zeichnung auf der Wange. Der anwesende Polizeioffizier in seiner gutsitzenden Uniform expedierte Zdanevi?, unter zustimmenden Äußerungen aus dem Publikum, höflich hinaus, aber er kam wieder, ohne die aufrührerische Wangenzeichnung entfernt zu haben, und hielt eine kurze Ansprache, worin er darauf hinwies, daß die Damen ja schließlich Rouge auf ihre Wangen legen; er, Zdanevi?, hielte solche Einfärbung für akademisch und sei deshalb Anhänger neuer unakademischer Methoden des Wangenschmucks.' (Viktor ?klovskij: 'Kindheit und Jugend', Bibliothek Suhrkamp 1988
Weitere Infos & Material
Vorwort
Im April des Jahres 1930 war im Schaufenster der Buchhandlung von Jacques Povolozky in der Pariser Rue Bonaparte ein bescheiden anmutendes Buch zu sehen. Der gelbgrüne Einband zeigte eine merkwürdige Vignette, die eine mehrteilige Vase oder den Längsschnitt einer Muschel darzustellen schien. Das auf Russisch erschienene Werk trug den Titel Woskhischtschenije, was so viel wie »Verzückung« bedeutet, aber auch »Bewunderung«, und (im Russischen) Assoziationen von »Raub« und »Entführung« weckt. Der Name des Autors, Iliazd, dem heutigen deutschen Leser als Verfasser des Romans Philosophia bekannt, war den russischen Emigranten 1930 in Paris durchaus ein Begriff. Für sie war er ein Mitglied des linken, revolutionären und des Kontakts zu den Bolschewiki verdächtigten Flügels, den die meisten von ihnen verabscheuten. Der Name des Verlags – 41° – deckte sich mit dem der Künstlergruppe, die Iliazd unter seinem richtigen Namen Ilja Sdanewitsch zwischen 1918 und 1920 in Tiflis gegründet hatte. Die Ausrichtung dieser Gruppe stand dem Wirken von Dada so nahe, dass der Ende 1921 nach Frankreich gelangte Sdanewitsch sich natürlicherweise an den letzten Ausläufern des Dadaismus beteiligte und gleichzeitig seine eigene Poesie weiterentwickelte, der er den Namen Za-um gab, was so viel bedeutet wie »jenseits des Verstands«. Diese Gedichte bestehen aus Lauten ohne genaue Bedeutungen, die in einer konstruktivistischen Typografie angeordnet sind. Von einem Vorwort des Dadaisten Georges Ribemont-Dessaignes begleitet, war in Paris unter seinem Pseudonym bereits 1923 das Drama LeDantue Farom, [Le Dantju als Leuchtturm] das fünfte Stück eines 1916 begonnenen dramatischen Za-um-Zyklus im Verlag 41° erschienen, der aparterweise zugleich als Meisterwerk des Dadaismus wie auch des Konstruktivismus galt. Verglichen damit wirkte das Werk, das 1930 im Schaufenster von Povolozky zu entdecken war, ausgesprochen konventionell, ja geradezu spröde. Dem Titel Woskhischtschenije (Verzückung) folgte die traditionelle Bezeichnung »Roman«, die auf eine Rückbesinnung des Autors auf das Herkömmliche zu deuten schien. Beim Öffnen des Buchs stieß man auf einen dichten, in durchnummerierte Kapitel und regelmäßige Absätze gegliederten Text. Das einzige auffällige Element der Seitengestaltung war erst auf den zweiten Blick auszumachen: Der jeweils letzte Satz vor dem Zeilenumbruch und dem Einzug des Folgeabsatzes endete ohne Punkt, als sollte eine Atempause oder, besser noch, ein Auffliegen suggeriert werden. Im Grunde genommen berichtigte dieses Kuriosum nur eine bisher unbeachtete typografische Redundanz. Ein paar Tage später ließ Iliazd, der sein Werk selbst verlegte, jedes Exemplar mit einer Manschette und folgendem Aufdruck versehen: »Die russischen Buchhändler haben sich geweigert, dieses Buch zu verkaufen. Wenn Sie genauso furchtsam sind, lesen Sie es nicht!« Außer Povolozky – der mit den Malern Larionow und Gontscharowa sowie mit Tzara und Picabia befreundet und als Buchhändler auf russische Bücher sowie auf die Werke der ebenfalls von ihm herausgegebenen Pariser Avantgarde spezialisiert war – hatten tatsächlich alle anderen russischen Buchhändler in Paris Iliazds Buch »wegen eines Dutzends angeblich nicht druckbarer Wörter« abgelehnt, wie der Autor später erklären sollte. Ironischerweise deckte sich die Einschätzung der russischen Buchhändler im Namen der Moralvorstellungen und der Religion mit der Zensur, der die sowjetischen Verleger das Werk aus diametral entgegengesetzten Gründen unterzogen hatten. Der Roman entstand im Wesentlichen in den Jahren 1926 und 1927. Ende 1927 ließ Iliazd über seinen in Russland verbliebenen Bruder ein Typoskript an die Redaktion der sowjetischen Zeitschrift Krasnaja Now schicken, die damals der Prosa der sogenannten »Weggefährten« nahestand: Schriftsteller, die zwar nicht der Partei angehörten, deren Ideologie aber weitestgehend unterstützten. Nach einer positiven Aufnahme (der Roman soll zunächst in der Zeitschrift, dann als eigenständige Publikation erscheinen) schreibt Kirill zwei Monate später an Ilja: »Der Roman ist sehr schön, aber gerade werden 40 Verlage geschlossen, es wird nun schwieriger, ihn zu veröffentlichen.« Iliazd wusste damals nicht, dass Krasnaja Now mitten in einer ideologischen Neuorientierung steckte. Der Gründer und Herausgeber Alexander Woronskij war gerade entlassen worden und sollte bald als Trotzkist verhaftet werden. Die offizielle Absage kam im Mai 1928. Kirill bot das Buch daraufhin dem Verlag Federazija an, der mehrere der geschlossenen Verlage ersetzte, darunter auch den, in dem Krasnaja Now erschien: Es folgte jedoch eine weitere Absage. Beanstandet wurden vor allem ein gewisser Mystizismus, eine ästhetisierende, dem Schicksal der Figuren gegenüber gleichgültige Haltung, die fehlende Benennung von Ort und Zeit sowie die seltsame, linkische, manchmal scheinbar fehlerhafte Sprache. Iliazd bezog Stellung gegen die Kritik. Auf den Vorwurf des Mystizismus entgegnete er, »Verzückung« sei kein mystisches Gefühl, sondern eines, das Revolutionen vorausgehe und sie präge; er habe es zum Beispiel in den Augen der Matrosen gesehen, die Lenin im April 1917 am Finnischen Bahnhof empfingen. Ebenso wenig könne man Gorki vorhalten, ein religiöser Schriftsteller zu sein, weil seine Gestalten beteten. Iliazd unterstrich, dass er eine klare Meinung zu der von ihm beschriebenen ungerechten Gesellschaft habe, und seine Sprache, der man vorwerfe, sie sei »jenseits von Zeit und Raum«, sei die eines Internationalisten. »Man hat mir gesagt«, schrieb er, »dass meine Sprache wie eine Übersetzung wirke, umso besser! Ihr vorzuwerfen, sie sei fehlerhaft, ist jedoch eine Übertreibung.« Außer den unanständigen Wörtern waren die meisten damaligen Leser vor allem von der dezidierten Hermetik, den im Russischen seltenen Begriffen, dem vergessenen Wortschatz und den unerwarteten Wortkombinationen überrascht. Natürlich kann man Iliazds Entgegnung auf seine Zensoren nicht allzu viel Bedeutung beimessen: Es handelt sich weitestgehend um eine Standardantwort. Bemerkenswerterweise benutzt Iliazd jedoch, wenn er von der Sprache »jenseits von Raum und Zeit« spricht, exakt dieselbe Formulierung, mit der er 1913 seine Theorie des »Totalismus« erläuterte: Indem er sich weigerte, die Zeit als einen künstlerischen Wert zu betrachten, hatte er sich damals gegen den Futurismus gewandt. Za-um war für Iliazd die ideale Ausdrucksweise der »Totalismus«-Poesie, weil er sich damit an das menschliche Unterbewusstsein wenden konnte, das von den Erinnerungen an die gemeinsamen kulturellen Strukturen der Menschheit geprägt ist. Diese mehrdeutige Lautpoesie ohne genau definierte Bedeutungen schuf Verbindungen zwischen unterschiedlichen, manchmal weit voneinander entfernten Kulturen. In den mit den Mitteln des Za-um verfassten Theaterstücken entstand so eine Schichtung aus verschiedenen Bezugsebenen – Mythen, Legenden, Religionen, Kosmogonie, aber auch Literatur und sogar zeitgenössische russische Geschichte … –, die durch die Lautsprache verknüpft werden sollten, um beim Zuhörer ein Gesamtgefühl aus Individuellem und Universellem hervorzurufen. Eine solche Schichtung ist auch in Verzückung erkennbar. Die Sprache des auf Russisch verfassten Romans ist schlüssig und syntaktisch so durchstrukturiert, dass sie für den russischen Leser gut verständlich ist. Indem sie mit den verschiedenen Wortbedeutungen und den mitschwingenden Resonanzen spielt und dabei auf ein breites Spektrum an kulturellen Referenzen Bezug nimmt, stellt sie jedoch eine Verlängerung des Za-um mit anderen Mitteln dar. Womöglich bildet also die Sprache den Mittelpunkt des Romans: und mit der Sprache sämtliche weiteren Ausdrucksmittel – Schreie, Seufzer, Blicke und Gesten – in ihrer Mehrdeutigkeit und ihren zahllosen Interpretationsmöglichkeiten. Verzückung ist zunächst ein Bergroman über starke, leidenschaftliche Menschen, die sich über die vom Flachland diktierten Gesetze hinwegsetzen. Obwohl die russischen Verleger dem Autor vorwarfen, sein Roman habe keinen erkennbaren zeitlichen und räumlichen Rahmen, scheint die Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts zu spielen, in einer Region, die stark an das Hochgebirge des Kaukasus erinnert. Innerhalb des Romans existiert ein deutlich umgrenzter Raum, der aus drei detailliert beschriebenen Ebenen besteht: oben der Quecksilbersee und ein einsames, mit Kropfigen und Blöden bevölkertes Dorf, etwas unterhalb davon das Dorf mit dem Sägewerk, noch weiter unten das Flachland mit einer schmuddeligen, düsteren Siedlung und schließlich eine kleine Hafenstadt. Iliazd verarbeitet Erinnerungen an seine Expeditionen in den Kaukasus und die Bergbesteigungen, die er als junger Mann in die entlegenen Berge Swanetiens mit ihren wilden, mysteriösen Bewohnern unternommen hatte. Viele Berge und Gestalten des Romans scheinen den Gemälden von Niko Pirosmani entstiegen, dem großen naiven Maler Georgiens, den der junge Ilja Sdanewitsch...