E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Ibsen Nora (Ein Puppenheim)
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-15-960185-4
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schauspiel in drei Akten. Textausgabe mit Nachbemerkung - Ibsen, Henrik - Literaturklassiker in deutscher Übersetzung; Klassenlektüre
E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-960185-4
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Henrik Ibsen (20. 3. 1828 Skien - 23. 5. 1906 Christiana) war ein norwegischer Dramatiker und Lyriker. Schon als Jugendlicher verfasste er seine ersten Liebesgedichte. Als Dramatiker feierte Ibsen seinen Durchbruch als Hausdichter und künstlerischer Leiter am norwegischen Nationaltheater. In dieser Zeit entstand u.a. 'Die Johannisnacht' (1853). Zu Ibsens größten Dramen, die weltweit inszeniert und adaptiert werden, gehört 'Stützen der Gesellschaft' (1877), das den Beginn einer neuen dramatischen Gattung, des naturalistischen Gesellschaftsdramas, darstellt.
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[41] Zweiter Akt
Dasselbe Wohnzimmer. In der Ecke neben dem Pianoforte steht der Weihnachtsbaum, geplündert und zerzaust, mit niedergebrannten Kerzenstümpfen. Auf dem Sofa liegt Noras Mantel und Hut.
NORA (allein, geht unruhig umher. Endlich bleibt sie am Sofa stehen und nimmt ihren Mantel, läßt ihn wieder fallen). Da kommt jemand! (Geht auf die Tür zu, lauscht.) Nein – niemand. Natürlich – heute kommt niemand, am ersten Weihnachtstag; – und morgen auch nicht. – Aber vielleicht – (Öffnet die Tür und sieht hinaus.) Nein; nichts im Briefkasten; ganz leer. (Kommt nach vorn.) Ach, dummes Zeug! Er macht natürlich nicht Ernst damit. So etwas kann ja gar nicht sein. Es ist unmöglich. Ich habe ja drei kleine Kinder.
DAS KINDERMÄDCHEN (kommt mit einer großen Pappschachtel aus dem Zimmer links). Endlich hab ich die Schachtel mit den Maskeradekostümen gefunden.
NORA. Danke; stell sie auf den Tisch.
DAS KINDERMÄDCHEN (tut es). Aber sie sind noch sehr in Unordnung.
NORA. Ach, ich möcht sie alle in hunderttausend Stücke zerreißen!
DAS KINDERMÄDCHEN. Du lieber Gott, die lassen sich leicht zurechtmachen; nur ein bißchen Geduld.
NORA. Ja, ich gehe zu Frau Linde, die soll mir helfen.
DAS KINDERMÄDCHEN. Jetzt wieder hinaus? Bei diesem scheußlichen Wetter? Frau Nora wird sich erkälten – wird krank.
NORA. Ach, das wär' nicht das Schlimmste. – Was machen die Kinder?
DAS KINDERMÄDCHEN. Die armen kleinen Würmer spielen mit den Weihnachtsgeschenken, aber –
NORA. Fragen sie oft nach mir?
[42] DAS KINDERMÄDCHEN. Sie sind ja so dran gewöhnt, die Mama immer um sich zu haben.
NORA. Ja. Aber von jetzt an, Anne-Marie, kann ich nicht mehr so viel mit ihnen zusammensein wie früher.
DAS KINDERMÄDCHEN. Nun, kleine Kinder gewöhnen sich an alles.
NORA. Glaubst du? Glaubst du, daß sie ihre Mama vergessen würden, wenn sie ganz fort wäre?
DAS KINDERMÄDCHEN. Mein Gott – ganz fort!
NORA. Sag mal, Anne-Marie – ich hab so oft darüber nachgedacht –, wie konntest du's nur übers Herz bringen, dein Kind fremden Leuten zu geben?
DAS KINDERMÄDCHEN. Aber das mußte ich doch, wenn ich Amme für die kleine Nora sein sollte.
NORA. Ja, aber daß du das wolltest!
DAS KINDERMÄDCHEN. Wenn ich doch eine so gute Stelle bekommen konnte! Ein armes Mädchen, das ins Unglück geraten ist, muß noch froh darüber sein. Denn der schlechte Mensch tat ja gar nichts für mich.
NORA. Aber deine Tochter hat dich doch gewiß vergessen.
DAS KINDERMÄDCHEN. Nein, nein, das hat sie nicht. Als sie konfirmiert wurde und als sie sich verheiratete, beidemal hat sie mir geschrieben.
NORA (legt den Arm um ihren Hals). Du alte Anne-Marie, du warst eine gute Mutter für mich, als ich klein war.
DAS KINDERMÄDCHEN. Die arme kleine Nora hatte ja keine andere Mutter als mich.
NORA. Und wenn meine Kleinen niemand anders hätten, dann weiß ich, daß du – Unsinn, Unsinn, Unsinn! (Öffnet die Schachtel.) Geh hinein zu ihnen. Jetzt muß ich – Morgen wirst du sehen, wie fein ich gehen werde.
DAS KINDERMÄDCHEN. Ja, es wird sicher auf dem ganzen Balle niemand so hübsch aussehen wie Frau Nora. (Geht ins Zimmer links.)
NORA (beginnt die Schachtel auszupacken, aber wirft bald alles wieder hin). Wenn ich nur wagen könnte, [43] wegzugehen! Wenn nur niemand kommt. Wenn nur inzwischen hier zu Hause nichts geschieht. – Dummes Zeug; es kommt niemand. Nur nicht denken. Den Muff abbürsten. Schöne Handschuhe, schöne Handschuhe. – Sich nichts draus machen; sich nichts draus machen! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – (Schreit.) Ah, da kommen sie – (Will nach der Tür, bleibt aber unentschlossen stehen.) (Frau Linde kommt aus dem Flur, wo sie abgelegt hat.)
NORA. Ah, du bist's, Christine? Es ist doch sonst niemand draußen? – Wie gut, daß du kommst.
FRAU LINDE. Du warst in meiner Wohnung und hast nach mir gefragt, wie ich hörte.
NORA. Ja, ich ging gerade vorbei. Ich habe etwas, wobei du mir helfen mußt. Komm, wir setzen uns aufs Sofa. Sieh hier. Morgen abend findet beim Konsul Stenborg hier über uns ein Kostümball statt, und nun will Torvald, daß ich als neapolitanisches Fischermädchen gehe und Tarantella tanze. Das lernte ich nämlich auf Capri.
FRAU LINDE. So, so; du sollst also eine richtige Vorstellung geben?
NORA. Ja, Torvald will es so. Sieh, hier hab ich das Kostüm; Torvald ließ es für mich da unten in Italien nähen; aber nun ist alles so zerrissen und ich weiß gar nicht –
FRAU LINDE. Oh, das haben wir bald wieder in Ordnung, es ist ja nur der Besatz hier und da ein bißchen losgegangen.Nadel und Faden? Na, da ist ja alles, was wir brauchen.
NORA. Sehr lieb von dir.
FRAU LINDE (näht). Du willst dich also morgen verkleiden, Nora? Weißt du was – dann komm ich auf einen Augenblick her, um dich geschmückt zu sehen. Aber ich hab ja ganz vergessen, dir für den gemütlichen Abend gestern zu danken.
NORA (steht auf und geht durchs Zimmer). Ach, gestern kam es mir nicht so gemütlich wie sonst vor. – Du hättest etwas früher in die Stadt kommen sollen, Christine. – Ja, Torvald [44] versteht's allerdings, unser Heim nett und behaglich zu machen.
FRAU LINDE. Du nicht weniger, denk ich; du bist doch ganz die Tochter deines Vaters. Aber sag mal, ist Doktor Rank immer so niedergeschlagen wie gestern abend?
NORA. Nein, gestern war das sehr auffallend. Aber er leidet an einer sehr gefährlichen Krankheit. Er hat die Rückenmarksschwindsucht, der Ärmste. Du mußt nämlich wissen, sein Vater war ein abscheulicher Mensch, der sich Geliebte und dergleichen hielt; und deshalb ist auch der Sohn von klein auf kränklich gewesen – verstehst du?
FRAU LINDE (läßt das Nähzeug sinken). Aber liebste, beste Nora, wo erfährst du denn so etwas?
NORA (spazierend). Pah – wenn man drei Kinder hat, bekommt man ab und zu Besuch von – Frauen, die ein bißchen was von der Heilkunde verstehen; und die erzählen einem dann dies und jenes –
FRAU LINDE (näht wieder; kurze Pause). Kommt Doktor Rank jeden Tag zu euch?
NORA. Tagtäglich. Er ist ja Torvalds bester Jugendfreund und auch mein guter Freund. Doktor Rank gehört gewissermaßen zur Familie.
FRAU LINDE. Aber sag mal: ist der Mann ganz aufrichtig? Ich meine, sagt er den Leuten nicht gern Schmeicheleien?
NORA. Im Gegenteil! Wie kommst du darauf?
FRAU LINDE. Als du mich ihm gestern vorstelltest, versicherte er, er hätte meinen Namen hier im Hause schon oft gehört; aber dann merkt' ich, daß dein Mann gar keine Ahnung hatte, wer ich eigentlich war. Wie konnte denn da Doktor Rank –?
NORA. Du hast recht, Christine. Torvald liebt mich eben ganz unbeschreiblich, und deshalb will er mich ganz allein besitzen, wie er sich ausdrückt. In der ersten Zeit war er gerade zu eifersüchtig, wenn ich nur einen meiner Lieben daheim nannte. Da ließ ich's natürlich bleiben. Aber mit Doktor [45] Rank rede ich oft darüber; er hört mich gern darüber plaudern.
FRAU LINDE. In manchen Dingen bist du noch wie ein Kind, liebe Nora; ich bin ja ziemlich viel älter als du und habe etwas mehr Erfahrung. Ich will dir was sagen: der Sache da mit Doktor Rank solltest du ein Ende zu machen suchen.
NORA. Welcher Sache?
FRAU LINDE. Der einen wie auch der anderen, meine ich. Gestern erzähltest du von einem reichen Bewunderer, der dir Geld verschaffen sollte –
NORA. Ja – und nicht existiert. Leider. Aber was weiter?
FRAU LINDE. Hat Doktor Rank Vermögen?
NORA. Ja, das hat er.
FRAU LINDE. Und für niemand zu sorgen?
NORA. Nein, für niemand. Aber –?
FRAU LINDE. Und er kommt täglich zu euch ins Haus?
NORA. Du hörst ja –...