E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Ibbotson Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-423-42920-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-423-42920-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eva Ibbotson wurde 1925 in Wien geboren und emigrierte 1933 nach England, wo sie bis zu ihrem Tod im Herbst 2010 lebte. Sie war eine bekannte Bestsellerautorin in der Erwachsenenliteratur. Ihre Kinderbücher sind weltweit beliebt und äußerst erfolgreich und wurden in Großbritannien mehrfach ausgezeichnet.
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1. Kapitel
Die Schule, die Miss Banks und ihre Schwester Emily gegründet hatten, war eine der besten in London. Die Schwestern waren der festen Überzeugung, dass Mädchen genauso gründlich und sorgfältig unterrichtet werden müssten wie Jungen. An einem ruhigen Platz mit Platanen und gut erzogenen Tauben hatten sie drei Häuser erworben und ein Messingschild angebracht, auf dem MAYFAIR-AKADEMIE FÜR JUNGE DAMEN stand.
Die Schule wurde ein großer Erfolg. Denn die Schwestern legten nicht nur Wert auf Fleiß, sie achteten auch auf gute Manieren, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft und die Schülerinnen wurden sowohl in Algebra als auch in Handarbeiten unterrichtet.
In die Schule wurden auch Mädchen aufgenommen, deren Eltern im Ausland lebten und die nicht wussten, wo sie ihre Ferien verbringen sollten.
Im Herbst des Jahres 1910, fast dreißig Jahre nach ihrer Gründung, hatte die Schule eine lange Warteliste und die Mädchen, die sie besuchten, waren sich ihres Glückes wohl bewusst.
Doch es gab natürlich auch durch und durch langweilige Stunden.
In dem großen Klassenraum, der auf die Straße ging, unterrichtete Miss Carlisle Geografie. Sie war eine gute Lehrerin, aber selbst dem besten Lehrer fällt es nicht leicht, die Flüsse Südenglands ungewöhnlich und aufregend darzustellen.
»Also, kann mir jemand sagen, wo genau die Themse entspringt?«, fragte Miss Carlisle. Sie ließ ihren Blick über die Tischreihen schweifen, über die plumpe Hermione und die ängstlich dreinblickende Daisy hinweg, und blieb bei einem Mädchen in der ersten Reihe hängen. »Hör auf an deinem Zopf herumzukauen«, wollte sie gerade sagen, unterließ es aber. Denn das Mädchen hatte einen Grund, auf dem lockigen Ende ihres schweren Zopfes herumzukauen.
Maia hatte gesehen, wie der Wagen vor der Schule hielt, und sie hatte gesehen, wie der alte Mr Murray in seinem Mantel mit dem Samtkragen das Haus betrat. Mr Murray war Maias Vormund und heute sollte er – das wussten alle – Nachrichten über ihre weitere Zukunft bringen.
Maia erhob die Augen zu Miss Carlisle und bemühte sich um Aufmerksamkeit. In dem Raum voller blonder und hellbrauner Köpfe stach ihr dreieckiges blasses Gesicht mit den großen dunklen Augen und dem dicken schwarzen Zopf hervor. Ihre freiliegenden Ohren ließen sie sehr verletzlich aussehen. »Die Themse entspringt in den Cotswold Hills«, begann sie mit leiser, aber klarer Stimme. »In einem kleinen Dorf.« Nur was für ein Dorf? Sie hatte keine Ahnung.
Die Tür ging auf, zwanzig Köpfe fuhren herum.
»Maia Fielding möchte bitte in das Büro von Miss Banks kommen«, sagte das Dienstmädchen.
Maia erhob sich. Angst ist der Keim alles Bösen, beschwor sie sich, aber sie hatte Angst. Angst vor der Zukunft … Angst vor dem Unbekannten. Angst, wie wohl jeder sie hat, der ganz allein ist auf der Welt.
Miss Banks saß hinter ihrem Schreibtisch, daneben stand ihre Schwester Emily. Mr Murray saß in einem Ledersessel am Tisch und blätterte in Papieren. Mr Murray war nicht nur Maias Vormund, er war auch Anwalt und sich dessen nur zu gut bewusst. Alles musste sorgfältig und langsam geschehen und alles musste aufgeschrieben werden.
Maia sah die Versammelten an. Die Gesichter waren freundlich, aber das konnte alles und nichts bedeuten. Maia bückte sich, um Miss Banks’ Spaniel zu streicheln, es tröstete sie, seinen runden warmen Kopf zu spüren.
»Nun, Maia, wir haben gute Nachrichten für dich«, sagte Miss Banks. Auf viele wirkte die Sechzigjährige mit dem imposanten Busen, der gut den Bug eines Segelschiffs hätte schmücken können, einschüchternd. Sie lächelte die vor ihr stehende Maia an. Ein kluges Mädchen und tapfer obendrein. Es war nicht leicht für sie gewesen, den Verlust der Eltern, die vor zwei Jahren bei einem Zugunglück in Ägypten ums Leben gekommen waren, zu verarbeiten. Alle im Haus wussten, dass Maia jede Nacht unter ihrem Kopfkissen geweint hatte, um die anderen nicht zu stören. Wenn sich das Schicksal nun als freundlich erweisen sollte, dann verdiente es keine mehr als sie.
»Wir haben deine Verwandten gefunden«, fuhr Miss Banks fort.
»Und wollen sie …«, begann Maia, aber sie konnte den Satz nicht beenden.
Mr Murray ergriff das Wort: »Sie wollen dir ein Zuhause bieten.«
Maia holte tief Luft. Ein Zuhause. In den letzten zwei Jahren hatte sie sämtliche Ferien in der Schule verbracht. Alle waren freundlich zu ihr gewesen, aber es war nun mal kein Zuhause.
»Und nicht nur das«, sagte Miss Emily, »es hat sich nämlich herausgestellt, dass die Carters Zwillingstöchter in deinem Alter haben.« Sie strahlte über das ganze Gesicht, als hätte sie die Geburt der Zwillinge eigens für Maia arrangiert.
Mr Murray klopfte auf die dicke Akte auf seinen Knien. »Wie du weißt, haben wir lange nach Verwandten deines verstorbenen Vaters gesucht. Wir wussten, dass es einen Cousin zweiten Grades gibt, einen Mr Clifford Carter, aber alle Versuche, ihn ausfindig zu machen, schlugen fehl, bis vor zwei Monaten, als wir erfuhren, dass er vor sechs Jahren ausgewandert ist. Er hat mit seiner Familie England verlassen.«
»Und wo lebt er jetzt?«, fragte Maia.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Es schien, als seien die guten Nachrichten nun beendet, und Mr Murray setzte ein feierliches Gesicht auf und räusperte sich. »Er lebt – die Carters leben – am Amazonas.«
»In Südamerika. In Brasilien«, mischte sich Miss Banks ein.
Maia hob ihren Kopf. »Am Amazonas?«, sagte sie. »Sie meinen im Regenwald?«
»Nicht direkt. Mr Carter ist Kautschukpflanzer. Er hat ein Haus am Fluss, nicht weit von der Hauptstadt Manaus. Es ist ein völlig zivilisiertes Anwesen. Natürlich habe ich den britischen Konsul dort gebeten es sich einmal anzusehen. Er kennt die Familie, es sind respektable Leute.«
Mr Murray machte eine Pause. »Du möchtest sicher, dass ich den Carters regelmäßig eine Summe für deinen Lebensunterhalt und das Schulgeld anweise. Du weißt ja, dass dein Vater dafür gesorgt hat, dass du diesbezüglich wohl versorgt bist.«
»Ja, natürlich möchte ich das. Ich möchte meinen Teil beitragen.« Aber Maia dachte nicht an ihr Geld. Sie dachte an den Amazonas. An Wasserarme voller Blutegel, an finstere Wälder voller feindlicher Indianer mit Blasrohren und an zahllose Insekten, die sich einem ins Fleisch bohrten.
Wie sollte sie da leben? Und um sich selbst Mut zu machen, fragte sie: »Wie heißen sie?«
»Wer?« Der alte Mann war in Gedanken immer noch bei der Vereinbarung, die er mit Mr Carter getroffen hatte. Hatte er ihm zu viel Geld für Maias Unterhalt angeboten?
»Die Zwillinge. Wie sind die Namen der Zwillinge?«
»Beatrice und Gwendolyn«, sagte Emily. »Sie haben dir einen Brief geschrieben.«
Und sie reichte Maia ein einzelnes Blatt Papier.
Liebe Maia, hatten die Mädchen geschrieben. Wir hoffen, dass du kommst und bei uns lebst.Wir stellen uns das nett vor.
Maia sah sie beim Lesen vor sich: blond gelockt und hübsch, all das, was sie so gern sein wollte, aber nicht war. Wenn die beiden im Regenwald leben konnten, dann konnte sie das auch!
»Wann werde ich fahren?«, fragte sie.
»Ende nächsten Monats. Es trifft sich sehr glücklich, dass die Carters eine neue Gouvernante engagiert haben, die mit dir reisen wird.«
Eine Gouvernante … im Dschungel … wie seltsam das alles klang. Aber der Brief der Mädchen hatte Maia Mut gemacht. Sie freuten sich darauf, sie bei sich zu haben. Sie wollten sie. Bestimmt würde alles gut.
»Hoffen wir nur, dass es wirklich das Beste ist«, sagte Miss Banks, als Maia den Raum verlassen hatte.
Alle hatten nun ernste Mienen. Es war keine leichte Entscheidung, Maia so weit fort zu einer unbekannten Familie zu schicken – schließlich musste ja auch an Maias musikalische Begabung gedacht werden. Sie spielte gut Klavier, aber interessanter noch war ihre Stimme. Ihre Mutter war Sängerin gewesen und Maias Stimme war lieblich und rein. Und obwohl sie nicht vorhatte das Singen zum Beruf zu machen, war ihre Fähigkeit, neue Lieder zu lernen außergewöhnlich.
Aber was bedeutete das alles im Vergleich zu einem liebevollen Zuhause? Die Carters schienen wirklich sehr erfreut darüber zu sein, Maia aufnehmen zu können, und Maia war ein sehr anziehendes Kind.
»Der britische Konsul hat versprochen mich auf dem Laufenden zu halten«, sagte Mr Murray – und die Besprechung war beendet.
Inzwischen hatte Maias Rückkehr in die Klasse den Nebenflüssen der Themse ein Ende bereitet.
»Morgen werden wir eine Stunde über den Amazonas und die Flüsse Südamerikas abhalten«, sagte Miss Carlisle. »Ich möchte, dass ihr alle mindestens eine interessante Tatsache darüber herausfindet.«
Sie lächelte Maia an. »Ich bin sicher, du erzählst uns, womit und wie lange du reisen wirst, damit wir deine Abenteuer in Gedanken begleiten können.«
Kein Zweifel, Maia war eine Heldin. Aber keine, die von allen beneidet wurde, eher eine, die kurz davor stand, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Als sich ihre Freundinnen mit lauter »Ohs« und »Ahs« und besorgten Ausrufen um sie drängten, wünschte Maia nichts sehnlicher als so schnell wie möglich wegzulaufen und sich zu verstecken.
Aber sie tat es nicht. Sie bat um die Erlaubnis, nach dem...