E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Huxley Eine Gesellschaft auf dem Lande
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97659-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-492-97659-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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ZWEITES KAPITEL
Er überraschte niemanden; es war niemand da, den er hätte überraschen können. Im Haus war alles still; Denis wanderte von einem leeren Zimmer ins andere und sah mit Vergnügen wieder die vertrauten Bilder und Möbel, auch all die kleinen Lebenszeichen, die hier und da herumlagen. Es war ihm eigentlich ganz lieb, dass sie alle draußen waren; er genoss es, durch das Haus zu wandern, als wolle er ein totes, verlassenes Pompeji erforschen. Auf was für Lebensformen würde der Ausgräber auf Grund dieser Überreste schließen? Mit was für Menschen diese leeren Räume bevölkern? Da war die lange Galerie mit ihren Reihen von Respekt erheischenden, aber (was man natürlich öffentlich nicht eingestehen konnte) ziemlich langweiligen italienischen Primitiven, mit den chinesischen Skulpturen und der unaufdringlichen, zeitlosen Möblierung. Da war der holzgetäfelte Salon mit den gewaltigen chintzbezogenen Sesseln, wahren Oasen der Behaglichkeit inmitten der strengen, das Fleisch kasteienden Antiken. Und da das Damenzimmer mit den Wänden in hellem Zitronengelb, den bunten venezianischen Stühlen und Rokokotischen, den Spiegeln und den modernen Bildern. Und dort die Bibliothek, kühl, geräumig, dunkel, mit den Bücherregalen vom Fußboden bis zur Decke, gespickt mit unheimlichen Folianten. Und da kam das Speisezimmer, gediegen englisch, voller Portwein-Atmosphäre sozusagen, mit dem großen Mahagonitisch, Stühlen und Büfett aus dem achtzehnten Jahrhundert, Bildern aus derselben Zeit – Familienporträts und Tierbildern, peinlich genau in der Wiedergabe. Was konnte man aus solchen Funden schließen? In der langen Galerie und in der Bibliothek war viel von Henry Wimbush, und vielleicht etwas von Anne im Damenzimmer. Das war alles. Inmitten dessen, was zehn Generationen hier angehäuft hatten, waren die Spuren der Lebenden nur gering.
Im Damenzimmer lag sein Versband auf dem Tisch. Wie taktvoll! Er nahm ihn in die Hand und schlug ihn auf. Es war das, was die Kritiker »einen schmalen Band« nennen. Sein Blick fiel auf die Zeilen:
… Aber die Stille und das unendliche Dunkel
Überwölben die Lichter des Lunaparks
Und in das Nachtdunkel höhlt
Blackpool sein strahlend turbulentes Grab.
Er legte das Buch wieder auf den Tisch, schüttelte den Kopf und seufzte. »Was für ein Genie ich doch damals war!«, dachte er, den altgewordenen Swift zitierend. Seit dem Erscheinen des Buches war knapp ein halbes Jahr vergangen, und er war überzeugt, dass er so etwas nie wieder schreiben würde. Wer mochte es hier gelesen haben? Vielleicht Anne; es war ihm ein sympathischer Gedanke. Vielleicht hatte sie sich sogar in der Nymphe der jungen Pappel wiedererkannt: als die schlanke Dryade, deren Bewegungen an das Sichwiegen eines jungen Baumes im Wind erinnerten. Die Frau, die ein Baum war, hatte er das Gedicht genannt. Er hatte ihr das Buch geschenkt, sobald es erschienen war, und gehofft, dass ihr das Gedicht sagen würde, was er selbst ihr nicht zu sagen wagte. Aber sie war nie darauf zu sprechen gekommen.
Er schloss die Augen und sah sie im Geiste, wie sie im roten Samtcape wiegenden Schritts das kleine Restaurant betrat, in dem sie in London zuweilen zu Abend aßen – sie mit einer Verspätung von einer dreiviertel Stunde, er an seinem Tisch wartend, gepeinigt von Sorge, Ärger und Hunger. Oh, sie war abscheulich!
Ihm fiel ein, dass seine Gastgeberin vielleicht in ihrem Boudoir war. Es war eine Möglichkeit; er wollte einmal nachsehen. Das Boudoir Mrs. Wimbushs befand sich im mittleren Turm auf der Gartenseite. Man erreichte es von der Halle aus über eine kleine Wendeltreppe. Denis stieg hinauf und klopfte an die Tür. »Herein!« Sie war also da; beinahe hatte er gehofft, sie nicht anzutreffen. Er öffnete die Tür.
Priscilla Wimbush lag auf dem Sofa. Sie hatte einen Schreibblock auf den Knien und saugte an dem Ende eines silbernen Bleistifts.
»Hallo!« Sie blickte auf. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie kommen.«
»Nun bin ich aber leider hier«, sagte Denis reumütig.
»Es tut mir furchtbar leid.«
Mrs. Wimbush lachte. Ihre Stimme und ihr Lachen waren tief und klangen männlich. Alles an ihr war männlich. Sie hatte ein großes kantiges Gesicht – das Gesicht einer Frau mittleren Alters – mit einer großen vorspringenden Nase und kleinen grünlichen Augen, und das alles war gekrönt von einer kunstvoll hochgetürmten Frisur in merkwürdiger, unwahrscheinlicher Orangetönung. Bei ihrem Anblick musste Denis immer an Wilkie Bard als Sängerin denken.
Darum zieht es mich zur Oper
Da sing ich in der Oper
Und singe in der Opa-Opa-Opera.
Sie trug heute ein Kleid aus purpurroter Seide mit hohem Kragen und dazu eine Perlenschnur. In diesem Kostüm, das so sehr an »Herzoginwitwe« und »Königliche Familie« erinnerte, schien sie mehr denn je einem Music-Hall-Programm entsprungen.
»Was haben Sie die ganze Zeit über getan?«, fragte sie.
»Also«, begann Denis und zögerte ein wenig, nahezu mit Wollust. Er hatte nämlich einen ungemein amüsanten Bericht über London und Londoner Ereignisse fix und fertig im Kopf. Es würde ihm ein Vergnügen sein, ihn jetzt loszuwerden. »Also zunächst einmal…«
Aber er kam schon zu spät. Die Frage Mrs. Wimbushs war das, was die Grammatiker eine rhetorische Frage nennen: sie verlangte keine Antwort. Sie war nur eine kleine höfliche Floskel, ein Eröffnungszug im königlichen Spiel.
»Sie sehen mich mit meinen Horoskopen beschäftigt«, sagte sie, ohne auch nur zu merken, dass sie ihn unterbrach.
Schmerzlich berührt, beschloss Denis, seine Geschichte für empfänglichere Ohren aufzubewahren. Er begnügte sich, zu seiner Revanche, mit einem recht eisigen »Oh?«.
»Habe ich Ihnen schon erzählt, wie ich in diesem Jahr vierhundert im Grand National gewonnen habe?«
»Ja«, antwortete er, kühl und einsilbig. Sie hatte es ihm schon mindestens sechsmal erzählt.
»Wunderbar, nicht wahr? Es steht alles in den Sternen. Früher, als ich noch nicht die Sterne zu meiner Hilfe nahm, pflegte ich Tausende zu verlieren. Jetzt aber« – sie hielt einen Augenblick inne – »nun, denken Sie an die vierhundert Pfund im Grand National. Das machen die Sterne.«
Denis hätte gern etwas mehr über »früher« gehört. Aber er war zu diskret und, mehr noch, zu schüchtern, um sie zu fragen. Damals musste es so etwas wie einen Bankrott gegeben haben; mehr wusste er nicht. Die gute alte Priscilla – damals natürlich noch nicht so alt und dafür temperamentvoller – hatte sehr viel Geld verloren, hatte es mit vollen Händen bei jedem Rennen verschwendet. Sie hatte auch gespielt. Wie viel Tausende es genau waren, darüber gingen die Berichte auseinander, aber alle sprachen von einer großen Summe. Henry Wimbush hatte einige seiner italienischen Primitiven nach Amerika verkaufen müssen – einen Taddeo da Poggibonsi, einen Amico di Taddeo und vier oder fünf Sienesen. Es kam zu einer Krise. Zum ersten Mal in seinem Leben setzte Henry sich durch und das, wie es schien, mit gutem Erfolg.
Das flotte und flatterhafte Leben Priscillas erfuhr einen jähen Wandel. Jetzt blieb sie fast immer in Crome und pflegte irgendeine nicht näher bestimmte Krankheit. Um sich zu trösten, tändelte sie ein wenig mit der Neuen Philosophie und dem Okkultismus. Ihre Passion für Pferderennen war ihr freilich geblieben, und Henry, der im Grunde ein gutherziger Mensch war, bewilligte ihr ein monatliches Wettgeld von vierzig Pfund. Meistens verbrachte sie ihre Zeit damit, Horoskope für Rennpferde zu stellen; ihr Geld investierte sie wissenschaftlich, wie es ihr die Sterne diktierten. Sie wettete auch bei Fußballspielen und trug die Horoskope sämtlicher Ligaspieler in ein großes Notizbuch ein. Das Horoskop der einen Elf gegen das einer anderen abzuwägen war ein heikles, schwieriges Unterfangen. Ein Spiel zwischen zwei Mannschaften brachte einen so weittragenden und komplizierten Konflikt im Himmel mit sich, dass es nicht zu verwundern war, wenn ihr zuweilen bei ihren Berechnungen ein Irrtum unterlief.
»Es ist so schade, dass Sie an diese Dinge nicht glauben, Denis«, sagte Mrs. Wimbush mit ihrer tiefen deutlichen Stimme. »Wirklich schade.«
»Ich kann es nicht so sehen.«
»Weil Sie nicht wissen, was Glauben heißt. Sie ahnen nicht, wie aufregend und lustig das Leben wird, wenn man glaubt. Alles, was geschieht, hat eine Bedeutung; nichts, was man tut, ist je ohne Bedeutung. Das macht das Leben so schön, verstehen Sie. Hier bin ich nun in Crome. Sterbenslangweilig, werden Sie denken. Aber nein, das finde ich nicht. Ich weine den alten Zeiten keine Träne...